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Der spanische Weg

1979

Es ist Mittag geworden in Portugal. Seit dem dürftigen Frühstück im ‚Seniorenheim‘ von Alcafache sind wir unterwegs zur spanischen Grenze. Eine Pause ist angesagt, darin sind wir uns einig. Hinter einer Kurve taucht ein Schild mit angerosteten Lettern auf. Es verspricht in drei Kilometern eine Königliche Poststation. „Historisch, Roland!“, winkt Rita ab.

Trotzdem lasse ich den Wagen auf die Abzweigung zurollen, stelle mir ein Steak vom Grill vor, als Beilage geschmorte grüne Bohnen, Tomaten und Auberginenscheiben, und biege ab. Im Schritttempo holpern wir auf Schotterpiste durch Grasland. Rita stützt sich über dem Handschuhfach ab. „Mal sehen, wo wir landen, du Optimist.“

Nach einer Biegung weitet sich das schmale Tal zwischen verbuschten Hängen. Wir nähern uns einem kleinen Anwesen - im Carré angeordnete Gebäude unterschiedlicher Größe. Alle weiß gestrichen, als habe der Maler letzte Woche seine Arbeit beendet. An die Weite und Lichtflut muss sich das Auge erst gewöhnen.

„Aha, das ist sie also, deine königliche Poststation!“ Hinter dem einzigen Fahrzeug auf dem leeren Hof stelle ich das Auto ab. Rita bleibt auf ihrem Sitz, ich steige aus.

Umgeben von der Stille des abgelegenen Ortes verharre ich neben dem Wagen und schaue mich um. Keine Menschenseele weit und breit, nur Vogelgezwitscher und das Gurren von Tauben. Ein Windhauch trägt den Geruch von Sommergras über das Hofgelände. Gleich rechts führen seitliche Stufen hinauf zum Vorbau eines zweistöckigen Hauses.

Inzwischen ist auch Rita ausgestiegen „Komm!“ fordert sie. „Schauen wir mal, ob es in diesem Paradies etwas zu essen gibt!“ Oben angelangt, empfängt uns eine junge Frau: „Bem-vindo! Entre, entre, Senhora e Senhor!” Weiß gekleidet bis auf eine lange Schürze, die zur blauweißen Decke des schmalen Tischchens hinter ihr passt. Darauf ein frisch duftender Brotlaib neben einer Glaskaraffe mit Vinho Verde. Ein Strauß blühender Gräser und Kornhalme, in heller Keramikvase mit blauem Dekor, ergänzt den Eindruck ländlicher Gastlichkeit.

Die junge Frau geht voraus in den Gastraum, weist uns mit professioneller Geste einen Tisch am Fenster zu - weiß eingedeckt, gestärkte Servietten, wiederum in der Farbe ihrer Schürze - und legt ein Brett aus Olivenholz auf. Wir sind die einzigen Gäste. Dann holt sie den Brotlaib, teilt ihn in der Mitte, drückt die eine Hälfte gegen ihre Schürze und säbelt zwei dicke Scheiben ab. - Rita zieht das Brett zu sich, riecht an den Brotscheiben. „Hmmm, wie gerade aus dem Ofen geholt. Dazu brauche ich nicht mehr viel!“

Die weiße Frau lächelt, geht zum Tisch im Vorraum, gießt Wein in Gläser und stellt sie zum Brot. „Saúde! … Alamanos?“ Sie hat das Autokennzeichen gesehen. Auf Deutsch, etwas stockend, gemischt mit portugiesischen Worten, erfahren wir, dass es heute zuerst eine Boullion gebe, sodann wahlweise Hühnchenbrust gegrillt oder tripas em Vinho Verde, zu jedem Gericht Reis und als Nachspeise frisches Obst, soviel wir möchten.

„Von Hühnerfleisch habe ich genug, dann lieber die Kutteln“, seufzt Rita. - “Also für beide tripas?“ - „Aber ja, sehr gerne!“- „Für Dame nicht so viele?“ - „Bitte eine ganz normale Portion. I can tell you in English …?“ - „No, no! Bin gewesen ein Jahr in Francoforte in Restaurant von Bruder… in Winter wieder dort. Deutsch ist gut fur mich. Sie sind heute zweite deutsche Gäste. Antes de dos horas sind hier gewesen viele Leute, jetzt nur noch Huhnchen und tripas.“

Die Kutteln sind ausgezeichnet, die Aprikosen und Weintrauben danach ebenfalls. - „Portugal verabschiedet sich wirklich charmant nach der Sparkost im Altersheim!" meint Rita, geht zum Tresen und begleicht die Rechnung. Wieder am Tisch sagt sie: „Du, stell dir vor, umgerechnet gerade mal zehn Mark für jeden!“, und zieht mich vom Stuhl hoch. - Das ist auch nötig. Ich würde es hier bei Kaffee und kleinen Törtchen noch etwas länger aushalten. Doch wir sind noch nicht einmal bis zur Grenze gekommen und wollen weiter durch Spanien.

*

Breitbeinig lässig steht er neben dem Wagen, schäkert mit dem Kollegen am Schlagbaum. Der hat die Arme abgelegt auf der MP vor seinem Bauch. Eine fordernde Hand kommt durch das offene Seitenfenster … blättert in den Pässen. Dann erscheint ein Gesicht in der Fensteröffnung, mustert Rita. Wortlos wird ihr der Pass hereingereicht. Das Gesicht sucht nun meins. Ich beuge mich vor. Die Hand hält den zweiten Pass durchs Fenster, wieder wortlos. Der Schlagbaum geht hoch. Der mit der MP fordert uns mit knapper Geste zum Passieren auf. Wir sind in Spanien angelangt.

Noch vor einer Stunde im grünen Tal und nun eingetaucht in die Nachmittagshitze der Meseta. Im einströmenden Fahrtwind, die Seitenfenster herabgelassen, verfolge ich auf der Straßenkarte die Route auf der Nationalstraße in Richtung Burgos über Salamanca und Valladolid. Eintöniges Geradeaus auf der Hochfläche, selten ein Fahrzeug in der Gegenrichtung. Der Rest einer Schokoladentafel klebt zwischen Straßenkarte und Betriebsanleitung. Das Mineralwasser wird knapp.

Spanien im August 1979!

Zu einem früheren Zeitpunkt wäre ich wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, das Land auch nur zu streifen. Für diese Abneigung steht einerseits mein väterlicher Freund Paul - er war nach seiner Flucht vor den Nazis von 1937 an am Spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite beteiligt - andererseits seit Kindheit der Ekel vor braunem Gebrüll und Machtgehabe. Auch jetzt bin ich nicht als Kulturtourist hier, eher mit dem unguten Gefühl, als Deutscher entweder auf die Schulter geklopft zu bekommen oder eisige Ablehnung zu erfahren. Für diese Ambivalenz stehen für mich zwei Bilder: die „Helden der Legion Condor in ihren Flugzeugkanzeln“ 1 - O-Ton der NS-Wochenschau, vor zwei Jahren zum 40. Jahrestag des Luftangriffs auf Guernica im Fernsehen erneut zu hören- und Picassos Wandgemälde Guernica, das Grauen und Leid dieses Bombardements ins Bild setzt.

In welche Richtung sich das ‚neue Spanien‘ nach der zweiten freien Wahl im März dieses Jahres unter Suàrez, einem Nationalkonservativen mit reichlicher Franco-Erfahrung, nun entwickeln wird, das frage ich mich. Erst recht heute nach dem gleichgültig herrischen Gehabe der Grenzer.

*

Vor Salamanca wird der Verkehr dichter. Rita möchte abgelöst werden. Ein Straßenschild weist auf die Umfahrung des Stadtzentrums Richtung Valladolid. „Kannst du noch, bis wir vorbei sind? Irgendwo in der beginnenden Zivilisation wird es hoffentlich eine Tankstelle mit WC geben.“ - „Aber dann übernimmst du wieder!“

Schweigen, - Wind bläst gelblichen Staub über das Land. Die Umfahrung zieht sich. Salamanca ist eine große Stadt. Wir überqueren einen Fluss.

„Dort vorne, Rita, kommt eine Shell-Tankstelle!“

Ich tanke nach. Sicher ist sicher! Wer weiß, wie weit wir mit dem Rest in der Weite Spaniens gekommen wären?

Benzin und Brot dürfen für mich nicht knapp werden, sonst werde ich panisch…. Brot? Gegenüber im Shop wird es vielleicht etwas geben, und wenn es diese industriell gefertigten Sandwiches in Dreiecksform sind.

Rita schwingt erleichtert zurück. Ich hänge den Füllstutzen ein. „Rita, gehst du zur Kasse? Dann bring Mineralwasser und was Essbares mit. Der Geldbeutel mit den Peseten ist im Handschuhfach!“ rufe ich ihr entgegen und eile zur Toilette.

Es wird Abend. Fast 400 Kilometer sind wir bereits unterwegs - und noch über eine Stunde bis Burgos auf der N 620. Es ist abzusehen, dass wir bis Biscarosse einen weiteren Tag brauchen werden. Noch am Abend in Burgos ein Zimmer finden? Vermutlich illusorisch! Wir beschließen, unser Glück hier auf dem Land zu versuchen. Zelt aufschlagen oder Hotelzimmer?

Wir halten Ausschau, erfolglos! … werden immer nervöser. „Schau, ein Schild Basilica visigòtica! Mach doch mal langsam!“, höre ich erregt vom Nebensitz - zu spät! „Dann nimm die nächste kleine Straße“, drängt Rita. „Wo eine Sehenswürdigkeit ist, gibt es auch ein Hotel!“ Sie möge recht behalten! Wir folgen den Schildern, dann taucht sie in der Abendsonne auf, eine klein und unscheinbar anmutende Kirche auf freiem Gelände.

Ein Blick, und wir sind uns einig: Anhalten, aussteigen! Auch aus der Nähe wirkt sie bescheiden: Ein Vorbau mit hufeisenförmigem Bogenportal und landestypischem Glockentürmchen, bedrängt vom Langhaus zwischen zwei niedrigen Seitenschiffen. Dahinter ist eine halbrunde Apsis zu vermuten. „Frühromanisch, Roland? Was meinst du?“

Ich habe noch keine Meinung, aber eine im Boden steckende Tafel neben dem Portal entdeckt. „Rita, aus dem siebten Jahrhundert!“, rufe ich ihr zu. Sie schlägt sich mit der Hand vor die Stirn: „Visigòtica - natürlich westgotisch, Völkerwanderung! … In dieser Gegend hätte ich eher römische Reste vermutet und bestimmt keine so frühe Kirche. Komm, die müssen wir uns von innen ansehen!“

Die Anspannung ist vergessen. Wir sind in unserem Element: Gemeinsam entdecken, staunen, rätseln, mit all den Gedankenflügen und Überraschungen, die sich daraus zufällig ergeben.

Die Tür ist verschlossen, also umkreisen wir das kleine Bauwerk im Abendlicht. Massive, fensterlose Mauern und kein weiterer Zugang zum Hauptraum. „Waren die Westgoten nicht Arianer wie andere germanische Völker? Diese Kirche also ein geschützter Raum für sie?“

„Ich glaube hier eher Nicaener, Rita. Zur Zeit des Baus dieser Kirche wird das entschieden gewesen sein, dreihundert Jahre nach dem Konzil.“

„Aber welche germanischen Völker waren zuvor Arianer, welche Nicaener? Den Streit gab es doch zu der Zeit.“ - „Kann ich nicht eindeutig sagen. Das ist ein Hin und Her gewesen um die richtige Würdigung Jesu-Christi als Gottessohn, zwischen dem Oströmischen und Weströmischen Reich. Letztendlich hat sich im Westen die Trinitätslehre durchgesetzt, also die Gleichheit von Gottvater und Gottsohn in Einheit mit dem Heiligen Geist, siehe unser Glaubensbekenntnis!“

„Hm, dann wäre der wehrhafte Baustil dieser doch recht kleinen Kirche als Ausdruck der Bedeutung eines Provinzfürsten zu sehen,“ … „der als Eindringling in einem fernen Land Präsenz zeigen musste,“… „und als getaufter Germane die römische Basilika-Architektur übernommen hat, Roland. Allerdings angesichts der Leistung antiker Baumeister geradezu simpel. Aber das ist ja leider Spekulation, was wir hier betreiben.“ - „Schauen wir uns doch jetzt lieber nach einer Unterkunft um!“

Im anschließenden Ort stoßen wir tatsächlich auf ein kleines Hotel. Auch ein altes Gemäuer und über dem Torbogen der Hofzufahrt eine Muschel – Zeichen für eine Station auf dem Jakobsweg.

„Was heißt auf Englisch Pilger?“, frage ich. „Ich meine pilgrim. Warum?“ - „Weil wir uns auf einem Ast des Jakobswegs befinden, da drinnen einen frommen Eindruck machen sollten und nach einem Strohbett in der Scheune fragen.“

„Ich bin jetzt zu müde für Scherze. Lass uns hineingehen! Du bleibst hinter mir, schaust meinetwegen fromm zu Boden und ich probier’s mit meinem Englisch.“

Der dicke schnauzbärtige Kerl hinter dem Tresen brummt nur nach ihren ersten Sätzen, ruft nach seiner Señora und reibt weiter gewaschene Gläser aus. Die kommt aus der Küche, trocknet die Hände an der Schürze ab und verlangt nach ersten englischen Worten nun ihrerseits lautstark nach der Tochter. Aus dem Nebenraum, einem kleinen Büro, eilt eine junge Frau herbei. Sie hört Rita aufmerksam zu, fragt nach unseren Pässen, führt uns ins Obergeschoss … und wir haben ein Zimmer für die Nacht, mit einzelnstehenden Betten! Wäre noch das Abendessen zu erwähnen: Pizza! Und statt duftendem Wein aus der Karaffe Dosenbier und Cola aus dem Kühlschrank.

Am nächsten Morgen stehen wir früh auf. Vor uns liegen weitere 400 Kilometer bis zum Campingplatz bei Biscarosse. Das Kirchlein der Westgoten wollen wir aber vorher noch von innen besichtigen. Im Hotel hieß es, Padre Don Fernando, der Gemeindepfarrer, komme nach der Frühmesse por regla general dort vorbei.

Kurz nach acht - das Portal ist abgeschlossen. Nochmals umrunden wir die Basilika. Rita fotografiert, ich bin mit der Setzweise der exakt behauenen Kalkquader beschäftigt, und darin sind wir uns einig, dass der hintere Bereich späteres Stückwerk ist und wenig harmonisch wirkt.

Während ich an einem der Seitenschiffe die Quader mit der Hand überstreiche und keine Mörtelfüllungen fühle, winkt Rita mich herbei. Vor dem Portal steht sie bei einem Herrn in Soutane und Rundkragen. Der Priester, ein älterer, schlanker Mann mit lebhaften dunklen Augen im schmalen Gesicht, begrüßt mich auf Französisch. „Je suis Don Fernando, le curé ici.“ Er verbeugt sich leicht. Dann greift er unter die Soutane und zieht einen großen Schlüssel hervor, öffnet das Portal und lässt uns passieren.

An das Dämmerlicht müssen sich die Augen erst gewöhnen. Dann gewahren wir die Säulen beidseitig des Hauptschiffes. Zu je vier stützen sie die Bogen und das Mauerwerk mit den kleinen Fensteröffnungen. Don Fernando geht auf die erste Säule zu, streicht geradezu zärtlich über ihre matthelle, glatte Rundung und meint knapp: „romain, marbre“ - also römischen Ursprungs und aus Marmor. Rita lächelt und Don Fernando ergänzt höflich: „Trouvé à deux pas d’ici“.

Mithin gibt es sie doch, die Hinterlassenschaften der Römer. Der Erbauer kannte aus seiner Heimat das Bauen mit Holz und hat sich mit dieser Kirche der Kultur seiner Umgebung angepasst, vermutlich mit Hilfe einheimischer Baumeister und Handwerker. Im Resultat auch ein Zugewinn an Anerkennung seines Machtanspruchs als regionaler Fürst germanischer Herkunft. Die Epoche der Völkerwanderung war nach dem, was ich hier sehe, am Ende etwas anderes, als ausschließlich ein Brandschatzen, Plündern und Morden germanischer Kriegerhorden, die angeblich als unzivilisierte Besatzungsmacht mit der römischen Vorkultur nichts anzufangen wussten.

Rita schlendert bereits mit der Kamera durch die Kirche, Don Fernando hält sich im Hintergrund. Er scheint uns Zeit lassen zu wollen. So tauche auch ich ein in die Dämmerung des südlichen Seitenschiffs. Der Lichteinfall hat mich dorthin gelockt. Die römischen Marmorsäulen glänzen in den Lichtbündeln, die durch die kleinen Fensteröffnungen von der hohen Wand ins Innere gelangen. Jetzt fallen mir auch die Blattkapitelle auf. In diesem sonst schmucklosen Raum muten sie an wie das Kronenblattwerk eines fremdartigen Baumes. Sind sie erst mit dem Bau der Kirche entstanden oder waren sie, wie die Säulen, schon vorhanden?

Sich das Bauwerk in seiner sakralen Bedeutung vorzustellen, verhindert die museale Leere. Zur Zeit seiner Nutzung werden liturgisches Gerät, feierliche Gewänder, vermutlich auch Tafelbilder und farbige Skulpturen im Schein von Fackeln und Kerzen das Innere belebt haben. Ich würde Don Fernando gerne fragen, ob meine Vorstellung der damaligen Wirklichkeit nahekommt. Einerseits möchte ich ihn aber jetzt nicht behelligen, andererseits bräuchte ich dazu Rita. Die streicht hinter mir vorbei und flüstert beim Fokussieren auf die Kapitelle: „Quasikorinthisch, aber echt großartig.“ - „Mir fehlen nur ein paar brennende Kerzen“, flüstere ich ihr zu.

Vor der Apsis wartet Don Fernando, der uns wohl schon eine Weile beobachtet hat. „L’ Église est consacré à Saint Jean-Baptiste en 699.“ Er zeigt auf die Steintafel am Übergang zum Altarraum, die aber kaum zu lesen ist. „Selon notre comptage en 651."

„Mein Gott, so alt und so gut erhalten!“ staunt Rita und will sogleich ins Französische wechseln. „Oh Madame, ich habe Sie verstanden. Oui, das ist ein miracle“… Er lächelt geradezu gewinnend: „Maintenant möchte ich Ihnen noch zeigen ein ganz großes Wunder!“ Er spricht Deutsch - auch ein miracle.

Er geht uns voraus zu einem Nebenraum und nun braucht er den kleinen Schlüssel, den er unter der Soutane an einem Kettchen trägt. Das Aufschließen dauert. Im Halbdunkel muss er die Schlüsselführung der Sicherheitsschlösser ertasten, nimmt dabei das Kettchen nicht ab.

Dann ist es soweit, er drückt die schwergängige alte Tür auf … und wir sehen in einen Raum, den ein gewöhnlicher Küchentisch unter einer grünen Plastikdecke fast ganz füllt. Links in der Ecke ein Schrank mit zwei verglasten Türen, verwaschene blassrosa Vorhänge hinter den Scheiben. „Moment!“ Don Fernando sieht uns kurz mit wissendem Lächeln an und öffnet vorsichtig die knarrenden Schranktüren … Wir gewahren einen eingebauten Tresor.

Nun braucht er einen zweiten Schlüssel vom Kettchen, entriegelt die stählerne Sicherheitstür und schaltet im Schrank eine Beleuchtung an.

Vor uns steht eine etwa 50 Zentimeter hohe Figur: Eine zierliche männliche Gestalt in antiker Gewandung unter einem bodenlangen Umhang, aus dem die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Buch und Lamm weist, vom linken Arm gehalten. Um die Hüfte ist eine dicke Kordel geschlungen und aus dem Unterkleid kommen seine nackten schlanken Beine hervor. Fast anrührend zerbrechlich blickt er uns aus seinem Schrein entgegen.

„Saint Jean-Baptiste - siècle VII - fait en alabastre! Pardon, Sie sagen … ?“ - „Johannes der Täufer, aus Alabaster und so alt wie die Basilika, vor rotem Samt wie ein König”, ergänzt Rita. Sie darf ihn fotografieren … „bitte sans flash!”

Das dauert! Belichtung messen, bei diesen Lichtverhältnissen Blende und Zeit von Hand einstellen, fokussieren, Luft anhalten, auslösen – und das mehrfach. Ich habe den Padre inzwischen gebeten, zwanzig Mark für diese exklusive Überraschung anzunehmen. „Für die Erhaltung der Kirche, sonst muss ich mich schämen vor Saint Jean“, meint er lachend.

Während er den Geldschein unter der Soutane verwahrt, erlaube ich mir zu fragen, woher er sein Deutsch habe.

„Ach, das ist für mich keine gute Geschichte“, sagt er zögernd und dann berichtet er doch, immer wieder nach Worten suchend, dass seine Mutter Deutsche gewesen sei, sein Vater aus Sevilla stamme. Der habe in Göttingen Medizin studiert und dort die Mutter kennengelernt. Zu Hause in Sevilla sprach man Deutsch, - er sollte auch einmal in Deutschland studieren können.

„Dann kam Franco an die Macht. Mein Vater ist geflohen nach Argentina. Er war engagé für die Republikaner. Mich hat Mama nach Frankreich auf ein Lycée geschickt. Ich sollte nicht Falangisten in die Hände geraten.“ Die Mutter sei als Tochter eines jüdischen Vaters an Hitler-Deutschland ausgeliefert worden, fährt er fort. Von ihr habe er nie wieder etwas gehört. „Vielleicht jetzt möglich nach Ende der Diktatur in España“, sagt er und streicht sich über die Augen.

Ich bin sprachlos! Rita ist mit dem Fotografieren fertig, spult den Film zurück und tauscht im Dunklen neben dem Schrank die Filmpatronen im Apparat aus, atmet durch, kommt zu uns. Don Fernando berührt sie am Arm.

„Madame, Sie beide sind ein Paar mit viel, viel Interesse an Kultur, wie ich bemerkt habe. Auf junge Deutsche wie Sie habe ich gehofft. Kommen Sie bald wieder. Es ist für freundliche Menschen nie zu früh, sich wieder zu begegnen. Haben Sie Kinder? … Oh zwei Töchter! Dann kommen Sie sicher nach Hause. Ich werde für Sie beten – Au revoir e merci!“ Er reicht uns die Hand.

Nach wenigen Schritten wenden wir uns noch einmal um. Da steht er in der Tür und schaut uns nach - Padre Fernando in der dunklen Soutane vor der knabenhaften Figur des Jean-Baptiste im Licht der kleinen Neonröhre.


1 am 26. April 1937

. . . vor allem auf Reisen

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