Читать книгу Das Attentat auf Papst Leo III. 799 - Roland Pauler - Страница 5
Die erzählenden Quellen
ОглавлениеDie Quellen fließen spärlich, auch wenn kaum ein zweites Ereignis des 8. Jahrhunderts so häufig sogar zeitnah zum Geschehen beschrieben wurde. (Schieffer, Attentat, S. 76) Die Kernaussage über den Hergang des Attentats liegt uns klar vor Augen, allerdings allein aus der Sicht des Papstes oder seiner Anhängerschaft. Zeitlich und räumlich am nächsten und zudem am ausführlichsten ist die Lebensbeschreibung des Papstes im Rahmen des Papstbuches (Liber pontificalis). Die zentrale Aussage, die in allen erzählenden Quellen wiederkehrt, lautet: Überfall und vollendete oder erfolglos versuchte Verstümmelung durch Papstgegner. Das klingt logisch. Sollten ihn denn seine Getreuen überfallen und misshandelt haben?
Wann die Niederschrift erfolgte, ist umstritten. Rudolf Schieffer (Attentat, S. 78) vermutet, der Bericht sei in etwa zeitgleich verfasst worden. Im Gegensatz dazu glaubt Matthias Becher, es handle sich um eine nachträgliche Interpolation und die gesamte Vita sei nach Leos Tod 816 einer Schlussredaktion unterzogen worden. (Die Reise, S. 91 f. mit Überblick über die Forschungsdiskussion) Möglich wäre, dass beide recht haben. Vielleicht wurde ja ein zeitgleich verfasster Bericht später eingefügt. Wir wissen das nicht. (Quelle 1. Zum Liber Pontificalis ausführlich Zimmermann, Das Papsttum. Zu Leo III. S. 66-73.)
Laut Vita (Quelle 1) zieht Papst Leo am 25. April 799, begleitet von vielen Gläubigen, in Prozession zur Kirche des hl. Laurentius. Als er den Lateran verlässt, kommt ihm der Primicerius (Leiter der päpstlichen Verwaltung) Paschalis entgegen und entschuldigt sich dafür, dass er kein Messgewand trage, weil er sich krank fühle. Auch Campulus, der Schatzmeister, gesellt sich dazu und sagt mit falschem Herzen Schmeichelhaftes. Beim Kloster der Heiligen Stefan und Silvester überfallen Bewaffnete die Prozession völlig unerwartet. In Panik flieht das unbewaffnete und für den Gottesdienst bereite Volk, das den Papst begleitet. Dann erst werfen die Angreifer Leo zu Boden, reißen ihm die Kleider herunter und versuchen, ihn zu blenden und ihm die Zunge herauszuschneiden. Im Glauben, sie hätten ihr Werk vollbracht, lassen sie ihn bei den Urhebern des Anschlags, Paschalis und Campulus, auf der Straße liegen.
Die bringen Leo in das Kloster, reißen ihm vor dem Altar die Augen heraus, schneiden die Zunge ab und verletzen ihn mit Hieben und Prügeln. In seinem Blut lassen sie ihn halb tot liegen und stellen ihn unter Bewachung. Später bringen sie und andere Übeltäter ihn aus Angst, er könne von Christenmenschen entführt werden, ins Kloster des hl. Erasmus und halten ihn dort unter strenger Bewachung.
Der allmächtige Gott gibt Leo auf Fürbitten des Apostelfürsten Petrus das Augenlicht und die Zunge zum Sprechen wieder. Dann wirkt er ein weiteres Wunder: Er ermöglicht es dem Kammerherrn Albinus, zusammen mit anderen Gottesfürchtigen Leo heimlich aus dem Gefängnis zu entführen und in die Basilika des hl. Petrus zu bringen.
Alle, die über diese Wunder Gottes hören oder sie mit eigenen Augen sehen, jubeln und preisen Gott, der den unschuldigen und gerechten Pontifex den Händen seiner Feinde entrissen hat. Und wirklich hat Gott ihm das Augenlicht und die Zunge wiedergegeben und alle Glieder geheilt. (Quelle 1: Et vere a tenebre eum Dominus eripiens lumen reddidit et linguam ad loquendum restituit, et totis eius solidavit membris …)
Und in die Kirche des hl. Petrus kommt eiligst Winigis, der Herzog von Spoleto, mit seinem Heer. Als der den höchsten Pontifex sehend und sprechend erblickt, nimmt er ihn ehrwürdig auf. Er bringt ihn nach Spoleto und preist Gott, der ein solches Wunder vollbracht hat. Von dort bricht Leo zu König Karl auf. Dieser schickt ihm seinen Kapellan, Erzbischof Hildebald von Köln, den Grafen Aschericus und schließlich seinen eigenen Sohn, König Pippin, mit einigen Grafen entgegen, die ihn zum Treffen nach Paderborn geleiteten. Karl empfängt dort den Stellvertreter des hl. Petrus höchst ehrenvoll mit Hymnen und geistlichen Gesängen. Sie umarmen und küssen sich unter Tränen. Karl ist aufs Höchste bewegt wegen der Wunder, die Gott auf Bitten des hl. Petrus am Papst bewirkt hat. Die vorgenannten ungerechten Männer gelten nichts mehr bei ihm. Die Angriffe dieser nichtswürdigen Prälaten und Söhnen des Teufels, die einst in großem Ansehen beim König gestanden hatten, hat Gott selbst gegen sie gerichtet und die falschen Beschuldigungen gegen den Papst können sie ganz und gar nicht beweisen. Von Bränden, die die Papstgegner in den Besitzungen des hl. Petrus gelegt haben, ist die Rede.
Als der Papst beim König weilt, kommen von allen Seiten Erzbischöfe, Bischöfe und andere Kleriker herbei. Sie beraten zusammen mit dem König und allen vornehmen Franken und lassen Leo in allen Ehren nach Rom auf seinen Päpstlichen Stuhl geleiten. Dort herrscht große Freude über seine Rückkehr am 29. November. (Regesta Imperii 350e)
Fassen wir zusammen:
Der Papst gerät in einen Hinterhalt. Er wird geblendet, seiner Zunge beraubt und verprügelt.
Gott heilt nicht nur Augen und Zunge, sondern alle Glieder. Das heißt: Leo präsentiert sich in St. Peter unverletzt.
Dort trifft Leo mit Herzog Winigis von Spoleto zusammen, der ein Heer mit sich führt und den Papst nach Spoleto begleitet.
In Paderborn wird Leo mit allen Ehren aufgenommen, die Anklagen gegen ihn fallen in sich zusammen, er kehrt auf seinen Amtssitz zurück.
Die Gegner des Papstes hatten dem König ihre Anschuldigungen vorgetragen, konnten sie aber nicht beweisen.
Vermutlich kurz nach der Ankunft der Nachrichten im Frankenreich (Schieffer, Attentat, S. 77) schreibt der Verfasser der in der Umgebung Karls des Großen entstandenen Reichsannalen, die Römer hätten Leo gefangengenommen, geblendet und ihm die Zunge herausgeschnitten. In der Nacht sei er seinen Bewachern über die Mauer entkommen und habe sich zu Abt Wirund und Winigis, den Gesandten des Königs, in die Basilika des hl. Petrus begeben. Dann wird er nach Spoleto gebracht. (Quelle 2)
Die nach Jahren geordneten Reichsannalen sind das umfangreichste, zeitnah am Hofe Karls des Großen verfasste, fränkische Geschichtswerk. Sie reichen von 741 bis 829. Ab etwa 790 wurden die Einträge jährlich oder zumindest zeitnah vorgenommen. Der unbekannte Verfasser liefert allerdings keine zuverlässige Zusammenstellung der Fakten, sondern betrachtet das Geschehen vom Standpunkt des Herrschers bzw. dessen Umgebung aus. Nach McKitterick wurden diese Annalen im ganzen Reich verteilt, um die karolingische Sicht der Vergangenheit durchzusetzen. (Constructing the Past, S. 126) Deshalb sind örtliche, meist in Klöstern entstandene Annalen, vom Geist der Reichsannalen durchzogen, bieten aber hin und wieder selbstständige, von diesen abweichende Darstellungen. (Siehe ausführlicher Hoffmann, Untersuchungen, S. 38-41; Hartmann, Karl, S. 16 f.; McKitterick, Karl, S. 42-53; Becher, Quellen, S. 106-109; Fried, Karl, S. 22 geht davon aus, Karl habe den Text höchstpersönlich gebilligt.)
Theodulf von Orleans, ein enger Vertrauter des Königs, dichtete vermutlich zwischen Herbst 799 und Frühjahr 800 (Datierung nach Schieffer, Attentat, S. 81) Folgendes:
„Ihn hat sein eigenes Volk aus der Stadt und vom Thron verstoßen, ihn mehr dem Tod als dem Leben geweiht. Ihn hat dein gütiges Erbarmen aufgenommen, getröstet, gepflegt und gestärkt. Ihn hat eine entfesselte Menge der Augen, der Zunge, der Gewänder und aller heiligen Insignien beraubt. Zurück gab ihm Petrus, was der schwarze Judas hinwegnahm, weil der eine Bekenner, der andere Verräter Gottes ist. Die aufrührerische Schar ist Judas insofern gefolgt, als jener den Tod des Herrn, diese den des Bischofs beabsichtigte. Dabei leugnet sie, dass ihm Augen und Zunge zurückgegeben wurden, leugnet, dass sie ihm genommen wurden, und beteuert, den Verlust nur gewollt zu haben. Sind sie ihm doch zurückgegeben, war es ein Wunder, ein Wunder auch, wenn sie es nicht vermochten, sie ihm zu nehmen: ich bin im Zweifel, ob ich mehr über das eine oder über das andere staunen soll. (bis hierher Übersetzung Schieffer, Attentat, S. 81, das Folgende eigene Übesetzung) Nun hat ihn Petrus, obwohl er ihn in Rom vor Feinden und den schrecklichen Nachstellungen hätte retten können, dir [Karl dem Großen] zur Rettung überlassen und wollte, dass du an seiner statt handelst. Von sich aus gab er ihm die verlorenen Körperteile und durch Dich die Würde seines Amtes wieder.“ (Quelle 6)
In seinem bald nach Karls des Großen Kaiserkrönung, vielleicht aber auch schon 799 verfassten Gedicht Karolus magnus et Leo Papa berichtet der anonyme Autor folgendes:
„Da hat der König eine traurige Vison, ein fluchwürdiges Gesicht im Traum: Der römische Papst, Leo, dünkt ihn, stehe vor ihm und vergieße bittere Tränen, blutbesudelt das Auge, blutverschmiert das Gesicht, die Zunge verstümmelt, der Leib von furchtbaren Wunden bedeckt. Eiskalt überläuft es den Herrscher, und Sorge bedrückt ihn. Drei schnelle Boten lässt er aufbrechen nach der Stadt Rom, zu erkunden, ob der mächtige Hirte der Herde sich wohl befinde, und er fragt sich nachdenklich, was der schreckliche Traum wohl bedeute, und macht sich zu treuer Hilfe bereit.
Die Abgesandten enteilen hurtigen Schritts; Karl selber, der Held, bricht mit vielen Tausenden wieder nach Sachsen auf. […] Schon erblicken die Gesandten von ferne Roms hohe Türme, erkennen vom Berg aus den lang erwarteten Schauplatz; da vernehmen auch sie die weithin verbreitete traurige Kunde, die edle Gestalt auf dem Thron des Apostels sei grausamen Todes gestorben, sei den Wunden erlegen, die rohe Hände ihm schlugen. Denn die wilde, grausame Schlange, die einträchtige Brüder im Kampf zu entzweien und den unheilbringenden Samen verderblichen Gifts auszustreuen pflegt, stiftete die Menge an, gegen den Unschuldigen in Verblendung zu wüten, und verführte die Diener, ihren Herrn und Gebieter zu ermorden. Grausige Krankheit schlich sich ein in die Herzen, blieb haften im Sinne, verderbliches Gift sog ein die keuchende Brust. Sie stellten dem Manne nach, sannen Tod dem Schuldlosen und furchtbares Ende, das frevelnde Volk waffnete sich mit verbrecherischen Geschossen gegen den eigenen Hirten. Als auf dem üblichen Weg vorbeizog Leo, der gütige Papst, und zu Fuß des heiligen Laurentius Kirche aufsuchte, da fiel die irregeleitete Menge, das wahnwitzige Volk, die sinnlos wütende Jugend mit Knütteln und Schwertern und gezogenen Messern, die ganze Schar lärmend über den höchsten Hirten her, blind wütend, auf einmal von furchtbarer Erregung gepackt. Den geweihten Leib des Priesters peinigten sie mit Peitschenhieben, nach dem Tod des Einen nur gierte die Masse. Die Henker rissen ihm die beiden Augen aus ihren Höhlen, schnitten die bewegliche Zunge ab, zerfleischen den Leib.
Das gottlose Volk, von tödlichem Gifte verseucht, meinte den Hohenpriester getötet zu haben. Doch die gütige Hand des himmlischen Vaters gab den ausgerissenen Augen Heilung und ließ das Antlitz mit neuer Sehkraft wieder entstehen. Mit bleichen Gesichtern staunte das Volk über die fremden, wiedergegebenen Augen. Auch die verstümmelte Zunge vermag nun wieder gewandte Worte zu formen.
Mit kleinem Gefolge flieht der Hohepriester aus der Stadt und begibt sich heimlich nach Spoleto, um dort Hilfe zu holen. Da wird er von Herzog Winigis mit großen Ehren empfangen und mit reichen Gaben überhäuft. Er hört, es seien Gesandte der Franken nach Italien gekommen, hätten aber nicht wie gewohnt Rom selber besuchen wollen, weil die Römer ihren schuldlosen Gebieter und Herren grausam gepeinigt hätten. Man bestätigte ihm dies, und er lässt die Männer zu sich kommen und hebt an, folgendermaßen zu sprechen – die verstümmelte Zunge bewegt sich mit kurzem Zittern im Gaumen und formt freundliche Worte:
Ich beschwöre euch bei dem teuren Leben König Karls, beschützt mich, den Vertriebenen, mit Waffengewalt, der ich verbannt bin aus meinem Land und der Ehre des Thrones beraubt. Führt mich zu eurem mächtigen König! Es sei mir vergönnt des herrlichen Fürsten Angesicht zu schauen, dass er mit gerechtem Urteil unser Handeln prüfe, dass er als machtvoller Rächer die furchtbaren Misshandlungen, die wir erduldet, vergelte, mein Trauern und Weinen erleichtere und meinem Leben Tröstung spende. Auf denn, und wenn ich eures Dienstes gewiss sein darf, so rettet mich aus diesem Lande, bringt mich vor Davids [Karls des Großen] erhabenes Angesicht, ihr Herren! Kein Zögern hindere unseren Aufbruch, lasst uns eilig die eisigen Alpen überschreiten! […]
Ein Abgesandter des Papstes reitet indessen zum Hofe des Königs. Er meldet die Ankunft des Hohenpriesters, berichtet von Leos Vertreibung aus Rom durch die eigenen Bürger, spricht von den Misshandlungen, die er erduldet, erwähnt auch die Blendung, erzählt wie die Zunge verstümmelt im nassen Munde; jetzt aber, so spricht er, sei Leo durch Gottes Hilfe geheilt und von allem Übel befreit.
Mit Staunen hört das ganze Heer den Bericht, und Karl, der sich jenes Traumes erinnert, erkennt aufgrund des Berichtes, wie wahr das Gesicht seinerzeit gewesen; er zweifelt nicht daran, dass er schon lange zuvor im Traume den Papst schmerzliche Tränen vergießen sah. Er gebietet sogleich, Pippin solle dem großen Hirten entgegenziehen, ihm Frieden und gefälligen Gruß entbieten. […]
Der König, der Vater Europas, und Leo, der oberste Hirte auf Erden, sind zusammengekommen und führen Gespräche über mancherlei Dinge. Karl fragt nach dem Geschehenen und erfährt von den verschiedenen Misshandlungen; staunend hört er von den Freveltaten, hört verwundert von der Zerstörung des Augenlichts und wie Leo die Sehkraft wieder erhalten, erkennt mit Staunen, wie die Zunge des Papstes, die einst von der Zange verstümmelt, nun wieder redet. Die beiden Männer blicken einander fest in die Augen, dann schreiten sie gemeinsam zur Höhe der Pfalz empor. Vor dem Tor des heiligen Tempels stehen die Priester und singen in wechselnden Chören Lobgesänge, bringen Dank und Preis dem Schöpfer dar, der dem Hohenpriester das Augenlicht wieder verliehen und seiner Zunge die Gabe der Rede, die er nicht mehr zu hoffen gewagt. […]“
(Quelle 4. Dieter Schaller, Karl der Große in der Dichtung, Lexikon des Mittelalters 5, Sp. 961 f. datiert das Epos auf die Zeit kurz nach der Kaiserkrönung, Schieffer, Attentat, S. S.79 auf die ersten Jahre nach der Kaiserkrönung. Nach Brunhölzl, De Karolo rege, S. 5, ist es bald nach den Ereignissen von Paderborn im Jahre 799 verfasst worden. Das Repertorium Fontium 3, 132, Das Carmen de Carolo Magno, gibt als Zeitpunkt der Entstehung den Papstbesuch in Paderborn oder kurz danach an http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_00769.html, 2013-08-05, [letzte Änderung der Daten am 06-09-2012 10:51])
Mit geringem Abstand zum Geschehen teilt uns wahrscheinlich Erzbischof Richbod von Trier in den Lorscher Annalen (Annales Laureshamenses) mit, die Römer hätten Leo die Zunge herausschneiden, blenden und töten wollen. Dank göttlicher Vorsehung hätten sie das Begonnene nicht vollenden können. Leo sucht Karl in Paderborn auf, wird ehrenvoll aufgenommen, beschenkt und mit großen Ehren auf seinen Thron zurückgeschickt. Die Gesandten führen den Papst zurück und schicken diejenigen, die seinen Tod beschlossen hatten, zum König. Jetzt sind sie, wie sie es verdient haben, im Exil. (Quelle 5; Zu Abfassungszeit und Autor siehe: Schieffer, Attentat, S.77; Repertorium Fontium 2,296 Annales Laureshamenses http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_00308.html, 2013-08-05 [letzte Änderung der Daten am 06-09-2012 10:51])
Laut Annales Sithienses aus dem 9. Jahrhundert wird Leo geblendet und zu Karl gebracht. (Annales Sithienses ad a. 799, S.36.)
Die Annales sancti Emmerami in Regensburg verzeichnen zu 799: Papst Leo wurde verstümmelt. (S. 93)
Die Annales Northumbrani vetusti sind wesentlich konkreter: Die Römer liegen im Streit miteinander, nehmen Papst Leo gefangen, schneiden ihm die Zunge heraus, blenden ihn, lassen ihn halb tot liegen und kehren in ihre Häuser zurück. Gott hat ihn geheilt. (S. 155. Zu den letztgenannten Quellen siehe Schieffer, Attentat, S. 77 f.)
Vermutlich erst nach Karls des Großen Tod, also nach 814, wurden die Reichsannalen stark überarbeitet. Die ältere Forschung vermutete, das sei Einhards Werk gewesen, doch ist man schon im 19. Jahrhundert davon abgerückt. Trotzdem nennt man sie noch Einhardsannalen, um sie beim Zitieren von den Reichsannalen zu unterscheiden.
Sie ergänzen, der Überfall habe stattgefunden, als der Papst vom Lateran nach der Kirche des Laurentius, die zum Rost heißt, zur Litanei ritt. Man habe ihn vom Pferd gezogen und ihm – wie etliche gesehen haben wollen – die Augen ausgestochen und die Zunge abgeschnitten. Dann habe man ihn nackt und halb tot auf der Straße liegen gelassen. Daraufhin sei er auf Befehl der Anstifter des Überfalls ins Kloster des hl. Erasmus gebracht und zur Pflege der Obhut seines Kammerherrn Albinus anvertraut worden. Mit dessen Hilfe sei ihm die Flucht gelungen. Winigis sei, als er von der Untat hörte, nach Rom geeilt und habe den Papst nach Spoleto geleitet.
Als der König davon Nachricht erhält, befiehlt er, den Stellvertreter Petri mit allen Ehren zu ihm zu bringen, und bricht zum Feldzug gegen die Sachsen auf. Den Papst empfängt er mit allen Ehren in Paderborn. Dieser bleibt dort einige Tage. Nachdem er dem König all das erklärt hatte, weshalb er gekommen war, lässt der ihn durch seine Gesandten nach Rom und auf den Papstthron zurückbringen. (Quelle 6)
Einhard, der Biograf, Karls des Großen, berichtet mit einem Abstand von vielleicht knapp dreißig Jahren: „Seine letzte Reise [nach Rom] hatte nicht darin allein den Grund [dass ihm die Stadt am Herzen lag], sondern sie wurde auch dadurch veranlasst, dass Papst Leo durch die vielen Misshandlungen, die er von Seiten der Römer erlitten hatte, indem sie ihm nämlich die Augen ausrissen und die Zunge abschnitten, sich genötigt sah, den König um Schutz anzuflehen. Er kam also nach Rom und brauchte dort den ganzen Winter, um die Kirche aus der überaus großen Zerrüttung, in die sie verfallen war, zu reißen. Damals war es, dass er die Benennung Kaiser und Augustus erhielt. (Quelle 7)
Einhard, ein besonderer Vertrauter des Kaisers, hat dessen Vita zu einem in der Forschung umstrittenen Zeitpunkt nach Karls des Großen Tod verfasst – die Spanne reicht von kurz nach dessen Tod (McKitterick) bis 833 (Wattenbach-Levison). Er war bestrebt, Karl als idealen Herrscher darzustellen, wobei es ihm nicht darauf ankam, das tatsächliche Geschehen aufzuzeichnen. Er ordnet es seinem Ziel unter, das Bild des Kaisers hell erstrahlen zu lassen. (Zu Einhard, dem Zeitpunkt der Entstehung seiner Biografie, dem Charakter und der Aussagekraft seines Werkes siehe: Wattenbach-Levison, Geschichtsquellen 2, S. 266-278; Kerner, Karl, S. 73-80; Hartmann, Karl, S. 13-16; MCKitterick, Karl, S. 19-32; Tischler, Einhards Vita; dies alles knapp zusammengefasst bei Pauler, Karl der Große, Heiliger Bigamist und Brudermörder, Kapitel: Die wichtigsten Quellen)
Die Nennung dieser wenigen erzählenden Quellen mag genügen, zumal Berufenere wesentlich detailliertere Zusammenstellungen vorgenommen haben. (Padberg, Paderborner Treffen, S.42-47; Schieffer, Das Attentat, passim; Fried, Papst Leo III., S. 285-293; Becher, Die Reise Papst Leos III., S. 87-95) Zwei Versionen des Geschehens werden von den Historiografen vermittelt: In der einen wird der Papst tatsächlich verstümmelt, nach Theodulf und den Lorscher Annalen haben es die Attentäter nur vor, doch gelingt es ihnen wunderbarerweise nicht. Diese Version bietet in etwa der Reinigungseid, den Papst Leo am 23. Dezember 800 vor der römischen Synode geleistet hat. Er schwört, schlechte Menschen hätten sich gegen ihn erhoben und versucht, ihn zu beschädigen (debilitare). (Quelle 8; das Wort debilitare hat mannigfache Bedeutungen, z.B. lähmen, gebrechlich bzw. schwach machen, verkrüppeln oder am Körper beschädigen) Diese unter Eid gemachte Aussage hat allerdings nicht dazu geführt, dass die Geschichtsschreiber bei der Abfassung ihrer Werke nicht doch die erste Version des Überfalls mit vollendeter Blendung und Abschneiden der Zunge bevorzugt hätten. Das verwundert vor allem bei Einhard, der als Vertrauter des Kaisers die beschworene Version des Überfalls eigentlich hätte kennen müssen. Selbst die Einschränkung in den von ihm als Quelle benützten Einhardsannalen bei dem Bericht über die Blendung („wie etliche gesehen haben wollen“) lässt er weg.
Dieses Problem hat schon Rudolf Schieffer thematisiert. (Attentat, S. 84) Er ist der Auffassung, dass bereits in der Papstbiografie die Absicht deutlich wird, „dem in seiner Stellung und Integrität nicht unangefochtenen Papst durch ein von Gott gewirktes Wunder die höchste nur denkbare Legitimation zuteil werden zu lassen, und seit Weihnachten 800 war die Rechtmäßigkeit Leos III. zugleich die Basis des Kaisertums, das er dem großen Frankenkönig verliehen hatte.“ Das Weiterwirken dieser Version in den fränkischen Quellen trotz besseren Wissens war demnach eine „politische Sprachregelung“, an der man festhielt, um keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kaiserkrönung aufkommen zu lassen.
Die These überzeugt. Die Frage ist nur: Wem verdanken wir den Bericht über die erfolgten Verstümmelungen? Nach Schieffer (Das Attentat, S. 81.) zeigt Papst Leos Reinigungseid „klar“, dass der diese Behauptung nicht in die Welt gesetzt habe. Allerdings geht er nicht der Frage nach, wer denn das Gerücht gestreut hat. Das „Wissen" konnte eigentlich nur von den Tätern oder dem Opfer oder deren engerem Umfeld stammen. Paschalis, Campulus und die Mitverschwörer hatten keinerlei Interesse daran, sich ihrer Untat in aller Öffentlichkeit zu brüsten, zumal vielleicht Gesandte des Königs in Rom weilten. Kann der Biograf die falsche Darstellung ohne Informationen oder zumindest die Billigung des Papstes niedergeschrieben haben? Wer hat die Nachricht an den Hof des fränkischen Königs gebracht? Laut anonymem Gedicht haben erst Gesandte des Papstes, dann dieser selbst den König mit dieser Version in Paderborn in Staunen versetzt.
Wäre es nicht möglich, dass der Papst, durch Karl den Großen zum Reinigungseid gezwungen, doch zu gottesfürchtig war, um an seinen Lügen festzuhalten? Ich gebe zu, es ist für einen gläubigen Katholiken geradezu ketzerisch, zu behaupten, ein Papst sei fähig zu lügen, doch sollte man diese Möglichkeit nicht ganz aus den Augen verlieren, zumal Leo unter anderem des Meineides beschuldigt wurde. (Quelle 17)