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Karl der Zwiespältige
ОглавлениеMitten im Ringen mit Papst Alexander III. um den Vorrang im Römischen Reich ließ Friedrich Barbarossa 1165 Karl den Großen heiligsprechen. Der hatte das nicht nur als Begründer des abendländischen Kaisertums, sondern auch aus kirchlicher Sicht verdient. Wie kein zweiter Herrscher des Westens hat er sich für die Reinheit des Glaubens eingesetzt und sogar in religiösen, innerkirchlichen Fragen seinen Willen machtvoll zum Ausdruck gebracht.
Wilfried Hartmann (Karl, S. 171) stellt fest: „Aus all diesen Aktivitäten wird deutlich, dass Karl für sich beanspruchte, auch auf dem Gebiet dogmatischer Entscheidungen das letzte Wort sprechen zu dürfen.“ Ausführlicher beschreibt Rudolf Schieffer (Karolinger, S. 100) dessen Selbstbewusstsein als christlicher Herrscher: „Die Frankfurter Versammlung [794] ist nicht das einzige Anzeichen für die neue, universale Größenordnung, in die Karls Königtum um die Mitte der 790er Jahre hineinwuchs. Sie beruhte darauf, dass der Frankenherrscher inzwischen zum Gebieter über viele Völker geworden war, der kraftvoll das Christentum ausbreitete und für die Reinheit des Glaubens sorgte, den Mittelpunkt der literarisch gelehrten Welt des Okzidents bildete und von Papst Hadrian bereits als zweiter Konstantin gepriesen worden war.“
Seine führende Rolle in der Kirche bestätigen die Mahnungen, die Karl 796 seinem Bevollmächtigten Angilbert an das soeben erwählte Oberhaupt der Kirche, Papst Leo III., mitgab. Er sollte diesem nicht nur die Anerkennung als Papst auszusprechen, sondern ihn zu einem ehrenwerten Lebenswandel, zur Beachtung der heiligen Kanones und zum Einschreiten gegen Simonie (Kauf geistlicher Ämter) anhalten, die den heiligen Körper der Kirche vielerorts befleckt (Quelle 1). Karls Ermahnungen, die Alkuin, der brillantester Kopf und langjährige Leiter seiner Hofschule, formuliert hatte, könnten aus der Feder eines Reformers des Investiturstreits stammen. Auch diesen ging es um die Reinheit der Kirche und ihrer Würdenträger und um die Beachtung der Kanones als rechtliche Fundamente des christlichen Lebens.
Den Kenner der Literatur zu Karl dem Großen durchfährt es jedoch bei der Lektüre jener Anweisung: so ein Heuchler! Es mag ja noch angehen, dass ein weltlicher Herrscher von Geistlichen einen ehrenwerten Lebenswandel verlangt, selbst aber zahllose Konkubinen und uneheliche Kindern hat. Dass aber einer, der zur Beachtung der heiligen Kanones auffordert, aus politischen Gründen gegen das von ihm so hochgehaltene Kirchenrecht zwei Ehefrauen verstößt, um neu zu heiraten, zeugt von Skrupellosigkeit, unwürdig eines Heiligen. Es hat ihn dabei nicht einmal gestört, dass Papst Stephan III. ihm und seinem Bruder für den Fall einer Scheidung und Wiederverheiratung die Exkommunikation angedroht hatte! (Quelle 2, Absatz 3)
Und doch war es so, schenkt man den Werken der Karlsforschung seit mindestens dem 19. Jahrhundert Glauben. Diesen Makel haben Historiker des 20. Jahrhunderts ganz ähnlich gesehen und deshalb Karls erste Ehefrau, Himiltrud, zur Konkubine bzw. zur Friedelfrau herabgestuft. Der langobardische Geschichtsschreiber Paulus Diaconus, zeitweilig Gelehrter an Karls Hof, berichtet nämlich, aus Karls Ehe mit Hildegard seien vier Söhne und fünf Töchter hervorgegangen und vor dieser Ehe habe er von einem adeligen Mädchen namens Himiltrud den Sohn Pippin gehabt (Quelle 3). Bestätigt wird das durch Einhards Erzählung (Quelle 17).
In welcher Beziehung Himiltrud tatsächlich zu Karl stand, ist trotz dieser Aussagen ungewiss. Die beiden Nachrichten über Pippins uneheliche Geburt stammen nämlich aus der Zeit nachdem Karl ihn von der Herrschaft ausgeschlossen hatte (ca. 789). Es wäre also denkbar, dass die Autoren dessen Entscheidung den Anstrich der Rechtmäßigkeit geben wollten. Papst Stephan hielt Karl zur fraglichen Zeit für rechtmäßig verheiratet (Quelle 2, Absatz 2). Mittlerweile hat sich in der Forschung die Auffassung durchgesetzt, Himiltrud sei eine rechtmäßige Ehefrau des Frankenkönigs gewesen. (Martina Hartmann, Königin, S.97 f.; Hack, Alter, S. 65 f.; Wilfried Hartmann, Karl, S. 51. Zur Frage von Pippins Illegitimität ausführlich Hagn, Illegitimität, S. 98-107)
Sicher ist allein: Himiltrud war nicht Karls Friedelfrau. Die im Frühmittelalter so häufig praktizierte Friedelehe gibt es nämlich erst seit 1927. In diesem Jahr hat sie Herbert Meyer als ein Rechtsinstitut vorgestellt, unterschieden von der Muntehe durch das Fehlen der Munt (Schutzherrschaft) des Mannes über die Frau. (Meyer, Friedelehe) Diese These hat jahrzehntelang die prosopografische Frühmittelalterforschung beherrscht, ist aber mittlerweile schlüssig widerlegt. (Ebel, 1989 und 1993.)
Doch zurück zu den Ehescheidungen. Leopold von Ranke, einer der berühmtesten Historiker des 19. Jahrhunderts, behauptete 1884 in seiner Weltgeschichte (S. 392): „Karl hatte sich bereits von einer früher geschlossenen Verbindung losgerissen und sich mit Desiderata, der Tochter des Desiderius vermählt, aber die große Koalition schien doch ihm selbst gefährlich werden zu wollen. Auf das dringende Verlangen des Papstes, der ihn davor warnte, mit dem verruchten Geschlecht der Langobarden in Verbindung zu treten, zerriss er den Ehebund mit Desiderata und vermählte sich mit der noch sehr jungen Hildegarde, die mütterlicherseits aus der Familie der alten Herzöge von Alemannien stammte.“
Viel ausführlicher, aber mit demselben Ergebnis schilderten Sigurd Abel und Bernhard Simson den Fall in den Jahrbüchern des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen (S. 79 - 86). Sie haben die bis 1888 bekannten einschlägigen Quellen und die Literaturdiskussion zusammengestellt.
Der Name der Tochter des Langobardenkönigs ist nicht sicher belegt und lautete vermutlich nicht Desiderata. So nannte sie Paschasius Radbertus, der Biograf Adalhards, doch sind daran Zweifel angebracht. Möglicherweise hieß sie Gerberga. (Zur Namengebung: Ary, The Politics, S. 7f.; Nelson, Making a Difference, S. 183; zuletzt: Hartmann, Karl, S. 52)
2010 bestätigte Wilfried Hartmann (Karl, S. 51-53) die Erkenntnis, Karl habe Himiltrud verlassen, um die Tochter des Desiderius zu heiraten. Als Grund für deren Verstoßung gibt er auf der Basis der aktuellen Forschung an, er habe nach dem Tod seines Bruders seine langobardenfreundliche Politik korrigieren wollen.
Ein ganz anderes Motiv hat ein ebenfalls ausgewiesener Kenner der Karolingerzeit ausgemacht. Pierre Riché, der langjährige Direktor (1972 -1986) des Forschungszentrums für Spätantike und Frühmittelalter (Centre de Recherches sur L'Antiquité tardive et le Haut Moyen âge), schreibt: „Leidenschaftlich verliebt in ein dreizehnjähriges Mädchen, seine künftige Gemahlin Hildegard, schickte er seine langobardische Ehefrau zurück zu ihrem Vater. Dem neuen Papst Hadrian I. konnte das nur willkommen sein. (Karolinger, S. 114)
So folgt ein jeder auf derselben Quellenbasis seiner Fantasie, einer kriegerisch, der andere amourös. Die zweifache Scheidung aber bleibt der anerkannte Wissensstand über den Begründer des abendländischen Kaisertums. Rosamond McKitterick (Karl, S. 88 f.) hingegen bezweifelt, dass es zur Eheschließung zwischen Karl und der Tochter des Desiderius gekommen sei. Ich habe diese auf etwas andere Weise ebenfalls in Frage gestellt. (Karl, S. 45-49)
Historiker des 19. Jahrhunderts, so verdienstvoll sie als Vorreiter der modernen Geschichtswissenschaft auch sein mögen, haben die Quellen gemäß ihrer Vorstellungen von Politik, Gesellschaft und Lebensweise interpretiert. Die des 20. und 21. haben deren Thesen, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen, mit wissenschaftlicher Akribie weiter aus- und zu neuen aufgebaut. Wie abhängig aber Forschungsergebnisse vom Weltbild des Historikers sind, ist längst bekannt. Werner Paravicini hat das 2010 in seinem Buch: „Die Wahrheit der Historiker“, sehr pointiert dargelegt.
Wie abhängig das Bild Karls des Großen von der Sichtweise der der Fachleute war und ist, hat Max Kerner gezeigt. Bezeichnend für den wissenschaftlichen Umgang mit diesem „Ausnahmeherrscher“ ist seine folgende Charakterisierung des Karlsbildes (Karl, S. 49): „Was hat die Mythographie der letzten 1200 Jahre nicht alles aus Karl dem Großen gemacht? Die Zeitgenossen priesen ihn als den Vater Europas, als einen großen König, als einen magnus atque orthodoxus imperator. Das Hochmittelalter verehrte ihn als Kreuzfahrer und heiligen Bekenner. Die spätmittelalterlichen Jahrhunderte machten ihn zum Gründer der Pariser Universität und des deutschen Kurfürstenkollegs, zum Idealtyp eines mittelalterlichen Herrschers. Seit der frühen Neuzeit schwanken die wissenschaftlichen und politischen Urteile über diesen großen Karolinger: die einen preisen ihn als Begründer und Wegbereiter der karolingischen Bildungsreform oder auch Mustergermanen, andere beschimpfen ihn als »Sachsenschlächter«, als einen halbgebildeten Analphabeten mit kümmerlichen Lateinkenntnissen, als einen erfolgreichen Bandenchef.“
Gar mancher wird fragen: Was hat diese Zusammenstellung verschiedener Sichtweisen mit den Ehescheidungen zu tun, die seit weit über hundert Jahren zum gesicherten, geradezu weltweit verbindlichen Wissen über Karl gehören? Das muss doch nun wirklich nicht mehr hinterfragt werden.
Die Aufgabe eines Wissenschaftlers besteht auch und vielleicht sogar insbesondere im Hinterfragen von anscheinend gesichertem Wissen.
Das „Wissen“ über die Ehescheidungen ist eng verwoben mit dem seit dem 19. Jahrhundert in gleicher Weise „gesicherten Wissen“ über die andauernde Feindschaft zwischen Karl und seinem Bruder Karlmann, über die Einhard so, wie sie heute gesehen wird, nicht berichtet hat – auch kein anderer Zeitgenosse. Karl, so kann man der neuesten Biografie entnehmen, hat die Tochter des Desiderius geheiratet, um das Reich seines Bruders einzukreisen und diesen dadurch unter Druck zu setzen. (Hartmann, Karl, S. 47) Nach Rudolf Schieffer (Karolinger, S.73) soll ein „offener Krieg“ zwischen den Brüdern bevorgestanden haben, als Karlmann starb, Jörg Jarnut (Bruderkampf, S. 176) und Michael Richter (Die „lange Machtergreifung, S. 58) erwägen sogar, Karl habe etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun gehabt. Allein McKitterick (Karl, S. 82-90) bezweifelt – wie auch ich (Karl, S. 45 - 49) - eine andauernde Feindschaft zwischen den Brüdern.
Was, wenn führende Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts in ihrer großen Begeisterung für Karl vage Hinweise falsch gedeutet und romanhaft ausgestaltet haben? Philosophen des 18./19. Jahrhunderts sahen in der das Recht rücksichtslos missachtenden Tatkraft großer Männer eine ungeheure Gefahr für die geordnete Gesellschaft (Siehe: Kucklick, Das unmoralische Geschlecht), aber insgesamt fanden Rechtsbrecher gerade unter Historikern Bewunderung, wenn Unrecht und Krieg dem Ausbau des Reiches und der Konsolidierung der Macht dienten. Zu einem tatkräftigen Herrscher gehörte es, dass er sich um seiner Ziele willen über das Recht und über das hinwegsetzte, was wir heute als Anstand und Menschlichkeit bezeichnen. Oft genug traf das auch zu, denken wir nur an Chlodwig, den Gründer des großfränkischen Reiches, der um der Alleinherrschaft willen, seine männlichen Verwandten ausgerottet hat. Seine Nachkommen haben, ebenso wie die Karls des Großen, Kriege gegeneinander geführt, um ihre Macht auszubauen bzw. vor der gierigen Verwandtschaft zu schützen.
Unsere Kenntnis über Karls des Großen Ehescheidungen und den Bruderzwist verdanken wir wegen der dünnen Quellenbasis zum größten Teil der Fantasie bedeutender Historiker. Ich werde zeigen, dass dieselben Quellenstellen, die jene Thesen stützen, mit größerer Wahrscheinlichkeit gegenteilige Aussagen plausibel machen, wenn man nicht von vornherein davon ausgeht, dass die Brüder bis zu Karlmanns Tod verfeindet waren. Meine Fragestellung lautet:
Würde ein Historiker in Unkenntnis der traditionellen Deutungen bei der Lektüre der Quellen zu den Ergebnissen kommen, die heute anerkannt sind?
Wie effektiv dieser methodische Ansatz ist, habe ich am Beispiel der Königserhebung Konrads III. (War Konrads III. Wahl irregulär?) gezeigt, von der seit dem 19. Jahrhundert feststand, sie habe jeglichem Rechtsherkommen widersprochen und sei geradezu ein Staatsstreich gewesen. Ich habe enthüllt, dass diese Auffassung einerseits der patriotischen Sichtweise der Historiker des 19. Jahrhunderts, andererseits dem Versuch entsprungen ist, nachträglich die deutsche Königswahl zu reglementieren. Mittlerweile ist meine These anerkannt. (Siehe die Wertung der Königserhebung durch Schneidmüller, Die Welfen, S. 174 und Görich, Die Staufer. Herrscher und Reich, S. 29) Wird es bei meinen Mutmaßungen zur Geschichte Karls des Großen ähnlich sein?