Читать книгу Als sie schon älter waren - Roland Stieler - Страница 4

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II. Kapitel

Er ging wieder zurück an den Schreibtisch – in das „Arbeitszimmer“: Auf diesem Schreibtisch, der einen wohnlichen Schnitt und eine schöne, ins Bräunliche schlagende Holzabdeckung hatte, waren allerhand Gerätschaften und Gegenstände versammelt: der Computer, der Drucker, das Faxgerät, das schnurlose Telefon mit seiner Basis, ein Telefonmerker, zwei Schreibtischlampen, zwei Weckuhren, Accessoires wie zwei kleine Bücherständer, ein Tisch-Organizer und schließlich eine Pantherfigur aus Gips. Wenn er von „Arbeitszimmer“ sprach oder diesen Begriff dachte, so war das eine Reminiszenz an frühere Zeiten, als er wirklich noch von Berufs wegen geistige Arbeit leistete und so ständig mit Büchern umgehen musste – und die standen auch eng gepresst, teilweise doppelt gestellt und übereinander gelegt in braunen Bücherregalen in eben diesem Zimmer. Manchmal bezeichnete er dieses – nicht sehr große – Zimmer, in dem es neben dem Schreibtisch noch ein gemütliches Sofa mit Sessel und eine mildstrahlende Stehlampe gab, liebevoll auch als sein „Sanctuary“. Dieser Begriff war ihm vor vielleicht vier Jahren einmal beim Lesen eines englischsprachigen Kriminalromans begegnet. Dort zog sich der sympathische Detektiv ab und zu in sein „sanctuary“ zurück. Friedrich benötigte kein Wörterbuch, um zu wissen, daß das so viel bedeutete wie „Heiligtum“, auch ein „Zufluchtsort“ konnte es sein und sogar „Altarraum“. Ja, „Sanctuary“ passte; es genügte ihm manchmal schon, daß er sich im Sanctuary befand, einfach nur befand – es strömte ihm dann die Wärme, die vor allem von den Büchern ausging, angenehm und ruhestiftend durch seinen Körper.

So kam er also aus der Küche zurück in sein Arbeitszimmer oder – doch besser – in sein „Sanctuary“. Die Schokolade im Munde hatte sich schon aufgelöst . Nach einer E-Mail musste er noch nicht wieder schauen – so wichtig war er nun für andere auch nicht, daß er erwarten durfte, daß die ihn mit ihren E-Mails bombardieren würden und so schaute er zunächst – obwohl er gerade aufgestanden war – fast ein wenig schläfrig aus dem großen Fenster, vor dem der Schreibtisch stand und das fast die Länge der ganzen Wand einnahm. Wie schön diese Aussicht von hier aus ist, dachte er und gewann dabei wieder an Konzentration.

Seine Wohnung – es war eine Eigentumswohnung – befand sich im ersten Stock und auf der Süd-West-Seite des Hauses, wobei dieses wiederum Bestandteil des kleinen, von dichten Nadelwäldern umgebenden Bergdorfes, das den Namen Waldesbrunn trug, war. Sie, die Wohnung, hatte damit die schönste Lage, da Süd-West eigentlich den ganzen Tag, wenn das Wetter danach ist, Sonne hat. Gerade heute schien sie auch.

Sah er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, dann schaute er direkt auf das Grundstück seines Nachbarn Johann Pilz. Johann lebte dort in einem älteren, aber schmucken und sauber weiß-gelb verputzten Häuschen zusammen mit seiner Frau, der Tochter und dem Schwiegersohn. Links vom Hause – von Friedrichs Fenster aus gesehen – breitete sich der unbebaute Teil des Johann’schen Grundstücks aus.

Nun, da er versonnen seinen Blick über Johanns Grundstück schweifen ließ und eher an nichts dachte, sondern dieses Bild einer schönen Landschaft und eines fast befremdenden Friedens auf sich wirken ließ, nun sah er auch Johann aus dem Hause heraustreten, er sah ihn in den Briefkasten schauen, sah ihn dort noch einmal nachfassend, ob nicht neben der Tageszeitung doch noch weitere Post sich im Kasten befindet, die er übersehen hat und dann mit der Zeitung in der Hand zurück in das Haus gehend. Nach kurzer Zeit kam Johann wieder und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Wiese, auf die er am Haus entlang gehend, zustrebte. Was sein Interesse an diesem Teil seines Grundstücks erweckt hatte, konnte Friedrich nicht erkennen. Vielleicht waren es die Schneereste, die verstreut noch zu sehen und die noch nicht weggetaut waren. Vielleicht war es einfach nur Routine, vielleicht wollte er der Natur da draußen nur „Guten Morgen“ sagen. Auch Friedrich hatte sofort, als er des Nachbarn angesichtig wurde, das Bedürfnis, Johann einen „Guten Morgen“ zuzurufen. Johann war älter als er, er war schon 78 Jahre alt, und Friedrich mochte ihn und seine Frau, waren sie doch jederzeit freundschaftlich ihm gegenüber gesonnen, unaufdringlich, bescheiden und waren sie doch von jenem Format, daß man keine Bedenken haben musste, ihnen auch einmal einen sehr privaten Gedanken anzuvertrauen. Es war klar, daß sie ein solches Vertrauen niemals missbrauchen würden. Sie taten das ja auch in Bezug auf andere Personen nicht. Als „Alteingesessene“, die auch noch in der fränkischen Mundart sprachen, hatten sie Friedrich, als er hierher gezogen war, den Zugang zur Gemeinschaft der Einheimischen doch sehr erleichtert, so daß er niemals konfrontiert war mit der stolzen Unnahbarkeit dieser Urbewohner Fremden gegenüber. Trotz dieser besonderen Nähe zu Johann und seiner Familie war er mit diesen nicht „per Du“, was eher untypisch für den gegenseitigen gesellschaftlichen Verkehr der Menschen, die hier lebten, war.

Um Johann zu grüßen, ging Friedrich in das Nebenzimmer und von diesem auf die Loggia, die wie das Fenster in seinem Sanctuary auf die Straße und das Johann’sche Grundstück wies. Von dort aus rief er nun: „Guten Morgen, Herr Pilz“.

Johann, ihn hörend: „Morgen, Morgen“.

Friedrich: „Es scheint nun doch allmählich Frühling zu werden.“

„Ja, wird auch langsam Zeit“ – antwortet Johann.

„Und? Ist das Leben noch frisch?“

„Alles okay“

„Na dann. Schönen Tag noch und schönen Gruß auch an die Frau. Demnächst werden wir mal wieder ein Schlückchen Wein zusammen trinken.“

„Wird gemacht“ – so Johann lachend.

Daß er – wie häufig – einen Kontakt zu anderen Menschen über eine Bemerkung zum Wetter herstellte, war für Friedrich nicht mit dem Makel des „Profanen“ behaftet. Damit hatte er sich gedanklich sogar schon einmal gründlicher beschäftigt. Das tägliche Wetter ist ja für die Menschen tatsächlich etwas ganz Entscheidendes, es bestimmte den Ablauf ihrer Tätigkeiten, ihre Stimmung u.a. Warum sollte er also eine intellektuelle rhetorische Schleife binden, über die man ein Gespräch mit einem Dritten einleitet, wenn man ganz einfach „über das Wetter“ reden kann, zumal wenn „das Wetter“ im Moment tatsächlich die Gemüter fast aller Menschen in der Umgebung bewegte.

Friedrich ging zurück an seinen Schreibtisch.

Ja, was sollte er nun machen? Einen Spaziergang durch den Wald? Den wollte er sich für den Nachmittag aufheben. Der Tag war lang.

Er informierte sich zunächst über das Abendprogramm des Fernsehens. Meistens fand er nichts, das ihn interessieren konnte: Diese unendlichen Krimiserien, diese Familienserien, diese Wett-, Rate- und Gewinnspiele – das alles mochte er überhaupt nicht und er fand es deprimierend, daß die Hauptsender sich so massiv auf solche Beiträge konzentrierten. Am interessantesten für ihn waren politische Sendungen (Talkshows u.a.), historische Beiträge, Wissenssendungen, gute (alte) Spielfilme, Kultursendungen, einige Glamourveranstaltungen wie Preisverleihungen.

Er fand zwei Sendungen, die er schauen könnte und er notierte sie sich auf ein Zettelchen, das er neben den Computer legte. Bis zum Abend war es ja noch weit hin

Er beschloss, sich einen englischsprachigen Kriminalroman vorzunehmen, von denen er einige in seinem Bücherschrank zu stehen hatte und die er – das betraf vor allem amerikanische Autoren – im Unterschied zu den Fernsehkrimis auch mochte. Dabei interessierte ihn nicht etwa nur der Inhalt eines solchen Buches. Er wollte zugleich auch immer die englische Sprache, die er - nun, sagen wir – mittelmäßig beherrschte, pflegen. An das Wort „Gehirnjogging“ in Form des Trainierens von fremdsprachigen Vokabeln, das ihm nicht selten als Therapieempfehlung für älterer Leute in Bezug auf eine nachlassende Gedächtnisleistung in Zeitschriften begegnet war, wollte er in diesem Zusammenhang aber nicht denken. So ein „Alter“ war er noch nicht!

Es rückte allmählich die Zeit des Mittagessens heran.

Da er alleine lebte und nur primitivste Kenntnisse in Bezug auf das Herrichten von Speisen besaß, hatte er in der vorangegangenen Woche für jeden Tag der laufenden Woche ein Mittagessen bei dieser „Küche auf Rädern“ bestellt, das dann so gegen 11 Uhr angefahren wurde. Das Essen befand sich in einer Alu-Assiette, welche ihrerseits in einer unappetitlichen schwarz-grauen Schachtel aus irgendeinem Dämmmaterial, die das Essen warm halten sollte, steckte. Die Begegnung mit der Überbringerin der Assiette verlieh dem eher trägen Vormittag Friedrichs regelmäßig einen bunten, auffrischenden Tupfer. Kerstin, so hieß sie, war eine junge Frau. Sie hatte Friedrich, als er in die Wohnung vor vier Jahren eingezogen war und auf Empfehlung seines Nachbarn Johann sich bei der rollenden Küche angemeldet hatte, anlässlich ihres ersten Zusammentreffens sogleich mit „Du“ angeredet. Das gefiel ihm sehr. Nicht, weil er diese Vertraulichkeit Kerstins missverstanden hätte, indem er meinte, sie würde ihn deutlich jünger schätzen, als er tatsächlich ist und deswegen kein Problem darin sah, ihn zu duzen. Nein, da blieb Friedrich mit beiden Beinen auf dem Boden. Sie hatte ihn aber nicht als einen unnahbaren oder vergreisten Alten angesehen, in Bezug auf den es der Respekt vor dem Alter einfach gebieten würde, ihn mit „Sie“ anzureden. Und so einer war ja Friedrich beileibe nicht.

Er sah also auch heute Kerstins Kleintransporter mit der Reklame darauf – sie war in grünen Schriftzügen aufgemalt und pries die kulinarischen Wunder dieser Küche an – schon vom Fenster seines Arbeitszimmers aus ankommen. Oben, vom Hang kommend, machte Kerstin in Höhe des Hauses, in dem Friedrich wohnte, einen Schwenk, um rückwärts in die kleine Nebenstraße, genauer gesagt, eine Sackgasse, hineinzufahren, weil von dieser aus die Eingangstür des Hauses direkt erreichbar war. Das also sah Friedrich und rannte im gleichen Moment zur Wohnungstür, schnappte diesen fürchterlichen Plastikbehälter vom Vortage, um ihn gegen den neuen, den Kerstin gerade brachte, auszutauschen. Er flitzte dann die kleine Treppe hinunter und war so ganz schnell an der Haustüre, die Kerstin im gleichen Moment, nachdem sie aus dem Auto gestiegen war, von außen erreichte.

Die Begegnung zwischen beiden lief nie ohne einen kleinen Scherz ab. So auch an diesem Tage: Friedrich, die Tür von innen aufmachend:

„Hi, Kerstin“

„Hallo“.

„Irgendwie musst Du über magische Anziehungskräfte verfügen.“

„Warum?“

„Na, weil ich völlig konzentriert über meinen Papieren gesessen hatte und genau in dem Moment, als Du hier ankamst, aus dem Fenster schaute und ich Dich kommen sah.“

„Da siehst Du ’mal ... Aber ich denke, daß es eher Dein Hunger war, der Dich getrieben hat, aus dem Fenster zu schauen und zu prüfen, ob da nicht bald mein Auto um die Ecke biegt ... Warum solltest Du sonst nach mir Ausschau halten?“

„Dreimal darfst Du raten.“

„Du erst ... denke an Dein jugendliches Alter!“

„Da hast Du auch wieder recht. Bis Morgen dann. Mach’s gut.

„Du auch!“

Nicht selten blieb das kurze Gespräch mit Kerstin der einzige unmittelbare gesellschaftliche Kontakt des Tages, den Friedrich hatte.

Manchmal hatte er auch noch ein kleines lustiges Gespräch mit dem Postmädel Birgit, das am Nachmittag ihre Runde mit dem gelben Postauto machte. Das war so wie mit Kerstin. Auch sie war nett, humorvoll und schlagfertig. Meistens trat er schon – nachdem er das gelbe Ding vom Fenster aus heranfahren sah – vor die Türe und ließ sich einen kleinen, charmanten Scherz einfallen, den sie freundlich und lachend mit einer entsprechenden Antwort quittierte. Und selbst dann, wenn die junge Frau nichts für ihn hatte und er mit leeren Händen wieder die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, war er infolge eines solchen flüchtigen Plausches in der Regel in recht aufgeräumter Stimmung.

Am Nachmittag machte er häufig einen längeren Spaziergang.

Danach oder vorher las er in einem literarischen Werk. Oft waren es verschiedenen Bücher, die er angefangen hatte und mit denen er sich parallel beschäftigte. Häufig war es so, daß er beim Lesen zu irgendwelchen Phantasien angeregt wurde, die natürlich im direkten oder auch im indirekten Zusammenhang mit dem Lesestoff standen. Von diesen Phantasien ließ er sich dann immer wieder forttragen, so daß er das, was er las, nur noch mit geringer Konzentration aufnehmen konnte oder auch das Buch gänzlich zur Seite legte, sich auf das Sofa setzte, weit in ein Kissen zurücklehnte und seinen Gedanken freien Raum gewährte. So war er denn auch kein „schneller“ Leser.

Auch beschäftigte er sich mit den verschiedensten Sachthemen. So mit Architektur, um seine Kenntnisse zu den historischen Baustilen wie die Gotik, die Renaissance usw. aufzufrischen. Lange, ja Jahrzehnte lang, hatte er nicht mehr vor sakralen Bauwerken gestanden und Freude darüber empfunden, daß er die Strebepfeiler und Strebebogen als das typische Stützwerk einer gotischen Kirche ausmachen und benennen oder, daß er ein romanisches Portal aus dem 12. Jh. vom gotischen Portal aus dem 13.Jh. und vom Portal der Renaissance aus dem 16. Jh. unterscheiden konnte. Das alles war ihm nicht etwa deshalb wichtig, weil er bei nächster Gelegenheit Dritten mit seinem diesbezüglichen Wissen imponieren wollte, nein, ganz anders: er wusste bzw. er hatte die Erfahrung gemacht, daß man – um bei der Architektur zu bleiben – einfach ein Bauwerk viel intensiver wahrnehmen und auch den Eindruck von ihm erinnern konnte, wenn man die zu ihm gehörenden Charakteristika auch „benennen“ konnte.

So war es auch mit Blumen, Pflanzen und Tieren. Auch hier spürte er die Wissenslücken. So oft hatte er in den letzten Jahren bemerkt, daß es ihm schwer fiel, die Blätter selbst eines ganz alltäglichen Baumes, z.B. einer Kastanie, zu beschreiben, eine Blume oder einen Strauch zu bestimmen. Er konnte es nicht mehr. So kaufte er sich entsprechende Bücher und sah nun – beim Herumwandern in den Wäldern und den Parks – die Natur viel intensiver: aha – wie schön – hier haben wir den 5-Finger-Strauch mit seinen gelben Blüten, die uns noch im Oktober Freude bereiten – und hier die Wiesen-Flockenblume usw. Da er mit solchen botanischen „Studien“ noch lange nicht zu Ende war, nahm er sich des Vormittags oder auch des Nachmittags durchaus die Zeit – und er hatte ja die Zeit – Pflanzen, die er von seinen Wanderungen durch die Natur mitbrachte, mit Hilfe seiner Bücher zu bestimmen. Er sah dann, beim nächsten Male, die Natur viel intensiver und das stimmte ihn freudig.

Es gab eine ganze Reihe weitere Wissensgebiete, mit denen er sich in seiner so üppig bemessenen freien Zeit befasste.

Als sie schon älter waren

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