Читать книгу Wien 2078: Ein brutales Ende Dorner und Vance - Vienna Cops - Roland Heller - Страница 6

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„Noch elf Minuten bis zu deinem Tod, Lindhof“, sagte der Dicke. „Hast du noch einen letzten Wunsch?“

Lindhof gab sich äußerlich gefasst. Er atmete lediglich bewusst tief ein und aus und richtete seine Augen der Reihe auf jedes Detail in diesem Raum, nahm es nochmals in sein Bewusstsein auf. Er hatte sich damit abgefunden, dass er sterben musste.

Hubert Lindhof selbst hatte im Laufe seines Lebens siebenundfünfzig Menschen getötet. Er kannte diese Zahl genau. Jetzt war er an der Reihe.

„Geben Sie mir eine Zigarette, bitte“, sagte er.

Er hasste sich dafür. Er hasste sich, weil er den Manner um etwas bitten musste, aber jetzt war sowieso alles egal.

Hubert Lindhof besaß eine hässliche heisere Stimme. Er wusste, dass nichts an ihm schön war. Manchmal meinte er, dass sein Leben anders verlaufen wäre, wenn die Natur ihn mit regelmäßig geformten Zügen und einer klangvollen Stimme ausgerüstet hätte. Die zwei Männer neben der Tür, die außer ihm und dem Dicken in dem Raum waren, rührten sich nicht vom Fleck.

Der Dicke wippte unablässig in seinem Stuhl auf und ab. Der Dicke hatte es auf das hintere Beinpaar gestellt. Das Möbel verursachte dabei ein leises monotones Geräusch. Hubert Lindhof empfand es wie eine höhnische Herausforderung.

„Okay“, sagte der Dicke sanft. „Fred, gib ihm eine. Sorg dafür, dass er sie richtig genießen kann.“

Der Angesprochene war hager und knochig, ein Mittdreißiger mit Halbglatze, weit vorspringende Stirn und schmalen blutleeren Lippen, deren tiefgekerbte Enden die Neigung hatten, in Zuckungen zu verfallen.

Der Mann neben dem Hageren war schlank, von banaler Mittelmäßigkeit im Aussehen, rundgesichtig, glattrasiert und nicht älter als fünfundzwanzig.

Der Chef war der Dicke. Er hatte kleine, weit auseinanderstehende Augen mit fast wimpernlosen Lidern und wulstige Lippen. Er trug einen stahlgrauen Anzug. Seine Stirn war mit winzigen Schweißperlen bedeckt. Lindhof fragte sich, warum der Dicke schwitzte. Wenn es in diesem Raum für jemand etwas zum Schwitzen gab, dann doch nur für ihn.

Der Mann mit der Halbglatze steckte sich eine Zigarette an. Er machte ein paar tiefe Züge. Dann trat er mit der Zigarette dicht vor den an einen Stuhl gefesselten Hubert Lindhof hin. Einen Augenblick lang schien es so, als wollte er Lindhof die Zigarette in den Mund schieben, aber dann drehte er sie plötzlich um und presste ihr glühendes Ende auf Lindhofs schorfige Lippen.

Hubert Lindhofs Kopf flog in einer Reflexbewegung zur Seite. Der Schmerz war nur kurz, aber er brachte es zustande, dass Lindhof Tränen in die Augen traten.

Der Hagere schnippte die verbogene Zigarette über Lindhofs Kopf hinweg in eine Ecke und zog sich auf seinen Platz neben der Tür zurück. Seine Mundwinkel zuckten heftig.

„Noch neun Minuten“, sagte der Dicke mit seiner sanften, dunklen Stimme.

Das ging nun schon seit einer halben Stunde so. Der Dicke betätigte sich als Zeitansager. Es gab keinen Zweifel, dass er diese Rolle genoss. Lauernd und mit pervertierter Neugier verfolgte er die Reaktionen seines Opfers.

„Haben Sie mich gehört, Lindhof?“, fragte er. „Sie haben noch neun Minuten Zeit bis zu Ihrem Tod.“

Lindhof schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Er wandte seinen Kopf und blickte durch das schmutzige kleine Fenster nach draußen. Er sah einen Fetzen unkrautüberwucherten Feldes, einen verfallenen Zaun, eine Baumgruppe und einen alten Holzschuppen ohne Dach. Nein, selbst wenn er sich hier die Zunge aus dem Leibe schreien würde, niemand würde ihn hören. Die Kerle wussten genau, weshalb sie darauf verzichtet hatten, ihrem Gefangenen einen Knebel anzulegen.

Der Junge mit dem Allerweltsgesicht rümpfte seine Nase. „Mann, das stinkt!“, sagte er.

„Verbranntes Fleisch“, kommentierte der schaukelnde Dicke und sah Hubert Lindhof an. „Das müssen Sie doch kennen! Wie oft haben Sie diesen Geruch schon in die Nase gekriegt?“

Hubert Lindhof schwieg auch jetzt. Er dachte an Maria, seine Frau. Seltsam, dass ein Mädchen aus bürgerlicher Herkunft sich bereit erklärt hatte, die Seine zu werden. Sie war ihm stets eine gute Frau gewesen, aber sein Beruf hatte sie frühzeitig altem lassen. Er fragte sich, wie sie nach seinem Tod weiterleben würde.

„Noch acht Minuten“, sagte der Dicke.

Zeit zum Beten, Zeit, um Bilanz zu machen. Aber Hubert Lindhof schaffte weder das eine noch das andere. Seine Gedanken zerfielen in einzelne Bilder, die keinen roten Faden erkennen ließen.

Die Fensterscheibe, die er in der Schule zerschlagen hatte. Die Stunde, in der ihn Lydia Prasse, die Schöne aus der Schule, vor den anderen verhöhnt hatte. Die tote Ente im Park. Verdammt noch mal, woran lag es bloß, dass er seine letzten Minuten mit diesen nebensächlichen Erinnerungen füllte?

Vielleicht steckte ein Sinn darin. Das Leben war eine Kette von Nebensächlichkeiten. Wenn man wollte, konnte man auch den Tod dazu rechnen.

„Wie haben sich die anderen verhalten?“, fragte der Dicke plötzlich und stellte seine aufregende Schaukelei ein. Er beugte sich weit nach vorn.

„Welche anderen?“, fragte Lindhof.

„Na, die, die Sie ins Jenseits katapultierten“, meinte der Dicke.

„Darüber spreche ich nicht.“

„Warum haben Sie es überhaupt getan?“, bohrte der Dicke. „Warum haben Sie es auf sich genommen, wildfremde Menschen zu töten?“ Er streckte Lindhof seine Hand mit den Würstchenfingern entgegen. „Hier klebt auch eine Menge Blut dran — aber es ist das Blut meiner Gegner. Sie, Lindhof, töteten Leute, die Sie gar nicht kannten. Los, antworten Sie mir! Ich muss es wissen. Warum sind Sie Henker geworden?“

Die Frage hatten schon andere an ihn gerichtet. Seltsamerweise hatte er sich diese Frage niemals selbst gestellt. Warum eigentlich? Weil es darauf keine Antwort gab? Oder weil er sich vor einer ehrlichen Antwort fürchtete?

Zum Teufel damit! Er hatte stets über ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein verfügt. Schon als Soldat. Er hatte die Menschen verachtet, die zwar stets von der Pflicht und vom Staatsbewusstsein sprachen, die aber versagt hätten, wenn ihnen die Aufgabe angetragen worden wäre, die später sein Lebensinhalt geworden war.

„Los, sprechen Sie!“, sagte der Dicke. „Sie haben nur noch sieben Minuten Zeit.“

Hubert Lindhof zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Er war kein Psychologe. Hatte er die Menschen gehasst? Hatte es damals begonnen, als Lydia Prasse ihn vor den anderen lächerlich gemacht hatte? War es seine Rache an einem Leben gewesen, das ihn hässlich und unbegabt in die Gemeinschaft der anderen gestellt hatte?

Er wusste es nicht. Er hatte einfach nicht die Kraft, sich zu konzentrieren. Immer, wenn es darauf angekommen war, seine Gedanken logisch auszurichten, hatte er versagt. Stimmte es, was manche Zeitungsschreiber ihm vorgeworfen hatten? War er wirklich nur ein menschlicher Roboter gewesen, ein Mann ohne Gefühl?

Nein, diese Burschen hatten nicht gewusst, was sie schrieben. Sie hätten Maria fragen sollen. Oder Carina, seine Tochter. Carina! Ausgerechnet Maria hatte auf diesem Namen bestanden, sie, an der doch alles so schlicht und bieder gewesen war...

„Noch sechs Minuten“, sagte der Dicke und fing die Schaukelei wieder an.

Gleichzeitig holte er eine Pistole aus seiner Jackentasche. Er spannte sie und legte sie griffbereit in seinen Schoß.

„Okay“, sagte er. „Vielleicht hat Sie das Geld gereizt. Die Prämien. Und die Angst, die Sie in anderen Menschen auslösen konnten. War es das?“

Lindhof schwieg.

„Nur eines möchte ich noch wissen“, fuhr der Dicke fort. „Warum wollten Sie Detektiv spielen? Warum waren Sie hinter Grahl her?“

Lindhof sagte auch diesmal nichts, obwohl er die Antwort auf diese Frage wusste. Er hatte als Henker siebenundfünfzigmal getötet, bis zu dem Tage, an dem die Todesstrafe in Malaysia abgeschafft worden war.

Er hatte den Respekt, die Verachtung, das Gruseln und die Neugierde der anderen mit Gelassenheit getragen und für alle Fragen, die sich ihm im Zusammenhang mit seiner Arbeit gestellt hatten, passende Antworten gefunden. Nur befriedigt hatten sie ihn nicht. Ein einziges Mal hatte er sich und der Welt beweisen wollen, dass er mehr war als der seelenlose Roboter, mehr als der Mann, der nur den Hebel umlegte, um mit einem Zweitausend-Volt-Stromstoß einen Delinquenten vom Leben zum Tode zu befördern. Ein einziges Mal hatte er zeigen wollen, dass auch er den Grips und das Format hatte, einen Mörder nicht nur zu richten, sondern auch zu stellen. Es war ihm nicht gelungen.

Die Verachtung seiner Landsleute blieb. Der Staat hatte ihm eine neue Identität verschafft. Ein neuer Name, eine neue Biographie, ein neues Vaterland.

„Noch fünf Minuten“, sagte der Dicke.

Hubert Lindhof hörte nicht hin. Ihn quälte die Frage, wem er eigentlich mit seiner Tat hatte imponieren wollen. Der Öffentlichkeit? Die war im Grunde anonym, sie interessierte ihn nicht. Den schwarzgekleideten Herren, die bei jeder Hinrichtung zugegen gewesen waren und ihn stets wie einen Fremdkörper betrachtet hatten?

Nein. Er wusste plötzlich, dass er es für Maria hatte tun wollen. Es war keineswegs so, dass sie es ihm gegenüber jemals an dem notwendigen Respekt hatte fehlen lassen, auch nicht an Liebe — aber seltsamerweise war ihm das nicht genug gewesen. Er hatte bewundert werden wollen, das war es, was ihm das Genick gebrochen hatte.

Der Hagere trat an das Fenster und blickte hinaus. „Da kommt ein Wagen“, sagte er.

Der Dicke griff nach seiner Pistole. „Hierher?“

„Weiß ich nicht. Er ist noch auf dem Zufahrtsweg“, sagte der Hagere. „Ein dreieinhalb-Tonner. Gehört einem Bauer, nehme ich an. Eine alte Karre.“

„Wie weit ist er von uns entfernt?“

„Ein paar hundert Meter, würde ich sagen“, meinte der Hagere. „Unseren Heli kann er nicht sehen. Der steht ja hinter dem Haus.“

„Tut mir leid, Lindhof“, sagte der Dicke. „Ich hätte Sie gern noch ein wenig zappeln lassen. Sie haben es schließlich verdient, wie Ihre Opfer zu sterben. Ihre Behörde hatte bestimmt, dass Sie die Minuten und Sekunden bis zu Ihrem Ende zählten. Der Kerl mit dem dreieinhalb-Tonner macht mir leider einen Strich durch die Rechnung. Auf Wiedersehen, Lindhof — ich hoffe, Sie vertragen sich in der Hölle mit Ihren Exklienten!“

Lindhof wollte noch erklären, dass das Herabzählen der Sekunden bis zum Tod nicht als Folter gedacht war. Bis zur letzten Sekunde konnte ein Begnadigungsurteil erfolgen ...

Der Dicke hob während seiner letzten Worte die Pistole und verkniff beim Zielen das rechte Auge. Dann drückte er ab, aus einer Entfernung von knapp einem halben Meter. Er schoss so schnell, wie es die Automatik erlaubte, und feuerte das ganze Magazin leer. Dann stemmte er sich ächzend aus dem Stuhl hoch und trat neben den Hageren an das trübe Fenster.

„Von dem LKW-Fahrer haben wir nichts zu befürchten“, sagte der Hagere. „Er biegt gerade zum Fluss ab.“

„Eine Scheißgegend“, meinte der Dicke und schob die Pistole in seinen eleganten, maßgeschneiderten Anzug. „Wie kann bloß jemand hier draußen leben?“ Der Hagere warf einen Blick über seine Schulter. Seine Mundwinkel zuckten, als er den in sich zusammengesunkenen, nur noch von den Stricken auf dem Stuhl gehaltenen Hubert Lindhof musterte.

„Keine Ahnung“, murmelte er, „aber wir wissen jetzt, wie jemand hier draußen sterben kann.“

Wien 2078: Ein brutales Ende Dorner und Vance - Vienna Cops

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