Читать книгу Wien 2078: Ein brutales Ende Dorner und Vance - Vienna Cops - Roland Heller - Страница 8

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„Das ist Hubert Lindhof, der Exhenker von Malaysia“, sagte Hiroshi Nimol und schob Claudia Dorner und ihrem Freund und Kollegen Francis Vance je eine Fotokopie von Lindhofs Personalakte zu. „Ich glaube, Sie kennen ihn noch persönlich.“

„Ich habe ihn und seine Familie damals auf dem Flughafen in Empfang genommen“, erinnerte sich Dorner. „Ich sollte ihn in sein neues Leben einführen.“

„Als in Malaysia die Todesstrafe aufgehoben wurde, schickte das Justizministerium Hubert Lindhof nach Hause“, fuhr Nimol fort. „Bezeichnenderweise hatten sie von allem Anfang an seit der Wiedereinführung der Todesstrafe einen Ausländer als Henker angestellt. Der wurde nun arbeitslos. Was hätten sie auch sonst mit einem stellungslosen Henker anfangen sollen? Lindhof behielt jedoch dort seinen Beamtenstatus und kassierte bis zuletzt seine vollen Bezüge, auch wenn er schon seit mehreren Jahren hier in Wien lebt. Und hier ist er nun ermordet worden.“

Vance musterte Lindhofs Foto. „Kein Wunder, dass er Henker geworden ist“, meinte er. „Mit dieser Visage hatte er wenig Aussicht, Mr. Universum zu werden.“

„Du wirst zugeben müssen, dass es zwischen dieser Möglichkeit und der Wahl seines Berufes eine beträchtliche Zahl anderer Verdienstmöglichkeiten gab“, sagte Dorner. „Wo hat man Lindhof gefunden?“

Nimol warf einen Blick auf seine Notizen. „Am westlichen Stadtrand, auf dem Auhof-Gelände, unweit der alten Autobahn, in einem verlassenen Supermarktgebäude. Spielende Kinder haben ihn dort entdeckt. Er war schon drei Tage tot. Seine Frau hatte einen Tag vorher eine Vermisstenanzeige erstattet.“

„Er war verheiratet?“, frage Vance überrascht.

„Warum nicht?“, meinte Nimol. „Er soll ein sehr umgänglicher Mensch gewesen sein.“

„Nicht bei seiner Arbeit im Todeshaus, nehme ich an“, sagte Vance.

„Es ist nicht unsere Aufgabe, seine menschlichen Tugenden oder Schwächen zu analysieren, es sei denn, wir benötigen sie zur Aufklärung des Falles“, meinte Nimol. „Hubert Lindhof war Staatsbeamter von Malaysia. Er hat siebenundfünfzig Exekutionen vorgenommen. Wir müssen unter anderem die Frage klären, ob es sich bei Lindhofs Ermordung um einen Racheakt handelt.“

„Eine reizende Aufgabe“, seufzte Vance. „Demnach kommen die Angehörigen und Freunde von siebenundfünfzig Mördern als Täter in Betracht. Und die leben vermutlich nicht gerade ums Eck.“

„Vielleicht doch“, widersprach Dorner. „Von Malaysia bis hierher ist es ein weiter Weg. Viel ist von dem Staat ja nicht mehr übergeblieben. Durchaus möglich, dass jene Personen, die es betrifft, es auch nach Wien verschlagen hat.“

„Stimmt“, sagte Nimol, „aber ehe ihr euch in das Aktenstudium vertieft, würde ich euch raten, einmal mit der Witwe des Henkers zu sprechen. Vielleicht kann sie Euch etwas Näheres über das mutmaßliche Tatmotiv sagen.“

„Er war erst zweiundfünfzig, als er starb“, stellte Vance fest und legte die Kopie der Personalakte aus der Hand.

„Als er seinen Dienst quittierte, erhielt er offiziell die Genehmigung, seinen Namen zu ändern“, informierte sie Nimol. „Sein Geburtsname war, wie ihr aus den Papieren ersehen können, Horst Rand. Er änderte diesen Namen aus naheliegenden Tarnungsgründen und lebte danach praktisch unerkannt neben seinen neuen Nachbarn.“

„Wer hat die ersten Tatermittlungen vorgenommen?“, erkundigte sich Vance.

„Dieter Obereder“, erwiderte Nimol. „Er ist für den 14. Bezirk zuständig. Sein Bericht lässt erkennen, dass er sehr methodisch und genau vorgegangen ist. Die leeren Patronenhülsen, die er in dem Haus fand, entstammen einer 22er Pistole. Obereder konnte in dem aufgeweichten Boden rings um die Halle die Abdrücke verschiedener Schuhe und den Landeplatz eines mittelschweren Helis genau lokalisieren. Von diesen Schuhabdrücken sicherte er sich brauchbare Gipsformen. Obereders Beobachtungen zufolge müssen drei Männer an Lindhofs Ermordung beteiligt gewesen sein.“

„Wie sieht es mit Fingerabdrücken aus?“, fragte Dorner.

Nimol schüttelte den Kopf. „Keine Fingerabdrücke“, antwortete er. „Obereder hat sofort die wenigen Passanten befragt, die in der Nähe auf der Straße aufzutreiben waren, aber keinem ist etwas aufgefallen — und niemand in der Gegend besitzt und benutzt einen Heli. Der Bezirk ist durch die U-Bahn und zwei Cable-Car-Verbindungen gut erschlossen. Zum großen Teil sind es Bezieher des Grundeinkommens, die dort wohnen. Das Viertel ist solide, aber nicht gerade mit Reichtum geprägt.“

Eine halbe Stunde später fuhren Dorner und Vance mit einer Individualgondel hinaus nach Hütteldorf. Die Lindhofs wohnten ganz in der Nähe der Stadion-U-Bahn-Station. Sie bewohnten dort in einem der Hochhäuser, die in den Vierzigerjahren errichtet worden waren, eine Vierzimmerwohnung. Sowohl Gebäude wie Wohnung waren Standard, solide, aber nicht gerade luxuriös zu nennen. Dieser Eindruck wurde auch in Inneren gleich augenfällig. Die Farbe an den Wänden hatte längst ihren Glanz verloren. Die Wände wiesen zudem eine schmutzabweisende, abwaschbare Oberfläche auf, die nicht gerade einen freundlichen Eindruck vermittelte. Irgendwie wirkte alles düster. Es fehlte die durch Farbe vermittelte Lebensfreude.

Die Cable-Car-Station befand sich auf dem Dach eines der Nachbarhäuser. Vance schob ihre Gondel auf eine Wartestrecke, dann fuhren sie mit dem Lift auf die Straßenebene.

Ein silbergrauer Pudel kam ihnen nach dem Aussteigen aufgeregt entgegen und sprang begeistert kläffend an ihren Beinen hoch. Sie hatten einige Mühe, ihm klarzumachen, dass sie nicht zum Spielen hergekommen waren. Das Tier musste jemandem gehören, aber von einem Besitzer, einem Hundehalter, ließ sich weit und breit nichts entdecken.

Dorner und Vance ließen den Vierbeiner einfach stehen. Zwar begleitete er sie noch ein Stück weit, doch schien er dann einzusehen, dass die beiden keine Spielgefährten waren.

„Manchen Hundehaltern sollte man besser auf die Finger schauen“, brummte Vance, der seine Hosenbeine von einer Vielzahl imaginärer Hundehaare zu befreien müssen glaubte.

„Er macht immerhin einen gepflegten Eindruck. Vielleicht bekommt er gewohnheitsmäßig Freilauf.“

„Das sollte verboten werden!“

„Hab‘ doch ein Herz für Tiere“, beschwor ihn Dorner. „Sei froh, dass es in unserer Stadt so viele tierliebende Mitbürger gibt.“

„Bis du das nächste Mal in ein Häufchen trittst ..., dann änderst du deine Meinung schnell.“

„Wir sind nicht als Hundefänger angestellt. Komm jetzt“, beendete Dorner die Diskussion.

Sie blieb vor einem der nächsten Gebäude stehen und studierte die Namensschilder, ehe sie klingelte.

Ein Summer ertönte. „Zwölfter Stock!“, informierte sie eine weibliche Stimme. Die Frau erkundigte sich weder nach dem Grund ihres Kommens noch wollte sie wissen, wer überhaupt Einlass begehrte.

Die Frau, die ihnen kurz darauf die Tür öffnete, war groß und hager. Sie besaß eine graue ungesunde Gesichtsfarbe und stumpfes dunkelblondes Haar, das sie im Nacken zu einem strengen Knoten verschlungen hatte.

„Frau Lindhof?“, erkundigte sich Dorner.

„Ja, ich bin die Witwe“, sagte sie und trat zur Seite, um sie einzulassen. „Ich habe Sie bereits erwartet. Sie sind die Vienna Cops, nicht wahr?“

Dorner wollte etwas sagen, aber das Wort blieb ihr buchstäblich im Halse stecken, als plötzlich die Explosion erfolgte. Die rechts von ihr liegende Zimmertür wurde aus den Angeln gehoben. Obwohl ihr Arm in einer Reflexbewegung hochzuckte und ihren Kopf schützte, hatte sie das Gefühl, von der Türkante voll an der Schläfe erwischt zu werden. Sie ging zu Boden und blieb benommen liegen.

In ihren Hörkanälen verebbte das Inferno von splitterndem Glas, brechendem Holz, berstenden Mauern und anderen weniger genau definierbaren Geräuschen.

Blinzelnd hob sie den Kopf. Sie lag quer unter der Tür. In der Diele hing eine undurchdringliche Wolke grauschwarzen beizenden Qualms. „Frau Lindhof!“, ächzte sie.

Keine Antwort erfolgte, dann besann sie sich, dass sie ja nicht alleine hoch hochgekommen war. „He, Vance!“, rief sie.

„Hier bin ich“, kam nach einer längeren Wartezeit auf eine Antwort seine Stimme. Er war in einer anderen Ecke des Ganges gelandet.

Dorner kroch unter der Tür hervor und kam auf die Beine. Sie sah eine Gestalt durch den Qualm torkeln. Sie verschwand in dem hellen, lichtdurchtränkten Rechteck, das die offene Wohnungstür markierte.

Sie stolperte hustend hinterher. Frau Lindhof lehnte neben der Tür mit dem Rücken an der Wand. Das Gesicht der Frau wirkte grauer als zuvor. Sie presste die rechte Hand auf ihr Herz und starrte der Polizistin angstvoll in die Augen. „Carina“, stammelte sie. „Carina!“

Im nächsten Moment machte sie kehrt. Auf der Türschwelle prallte sie mit einem jungen Mädchen zusammen, das in diesem Moment den Gang entlang stürmte. Die beiden Frauen fielen sich um den Hals.

„O Carina, mein Kind“, japste Frau Lindhof. „Was ist da nur passiert?“

„Da ist etwas explodiert!“, sagte das Mädchen bestimmt.

„Aber hier kann doch nichts explodieren“, schrie Frau Lindhof. Ihre Stimme klang hysterisch.

„Es war das Päckchen“, sagte das Mädchen und warf einen suchenden Blick in das Wohnzimmer. Doch dort, wohin ihr Augen blickten, gab es nur mehr Trümmer.

Vance tauchte mit rußgeschwärztem Gesicht im Türrahmen auf. „Das war ein reizender Empfang“, meinte er und klopfte sich seinen Anzug ab.

„Ist sonst noch jemand im Hause?“, fragte Dorner Frau Lindhof.

Die Frau brauchte gar nicht zu antworten, denn im nächsten Moment klangen bereits zahlreiche Stimmen auf und gleich darauf liefen mehrere Bewohner auf sie zu.

„Mein Gott, da muss man ja die Feuerwehr rufen!“, rief eine ältere Dame und versuchte sich an Dorner vorbei zu drängen.

„Bleiben Sie der Wohnung fern!“, sagte Dorner bestimmt.

„Wer sind Sie? Und was ist hier passiert?“

„Vienne Cop!“, sagte Dorner und schob die Frau einfach aus dem Türeingang.

„Da ist eine Bombe hochgegangen“, sagte ein anderer mit Kennerblick.

„Ist jemand verletzt – oder gar tot?“

Dorner blickte Frau Lindhof fragend an und antwortete erleichtert „Nein“, als die Wohnungsbesitzerin den Kopf schüttelte.

„Es war niemand hier auf Besuch“, bestätigte Frau Lindhof.

„Gibt es hier eine automatische Alarmanlage?“, wandte sich Vance an einen der Umstehenden.

Der nickte eifrig. „Dann wird es nicht mehr lange dauern, bis eine Streife hier vorbeischaut“, meinte Vance. „Leute, ihr könnt nach Hause gehen. Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Wenn wir euch brauchen, läuten wir. Jetzt müssen wir erst unsere Arbeit tun.“

Dorner schob Frau Lindhof und ihre Tochter Carina in Richtung Wohnungsinneres. Es gab leider keine Tür mehr zum Abschließen. Sie hätte die Gaffer lieber ausgeschlossen, aber dazu besaß sie jetzt keine Möglichkeit mehr.

Die Leute blieben vor der Tür stehen. Zumindest kamen sie aber nicht herein.

Der Qualm verzog sich rasch durch die offenen Türen und zerborstenen Fenster. „Das ist meine Tochter Carina“, stellte ihnen die Frau das Mädchen vor.

Carina Lindhof war eine Überraschung. Ihr schillerndes Äußere verblüffte insbesondere dann, wenn man wusste, wie ihre Eltern aussahen. Das Mädel war flachsblond. Sie hatte ungewöhnlich große türkisfarbene Augen, die im Schatten langer Wimpern dämmerten. Das Mädel trug zu karierten Shorts eine weiße, am Hals offenstehende Polobluse. Die Oberweite, die sich darunter spannte, war recht beachtlich und veranlasste Vance zu einem langen, bewundernden, wenngleich nicht sehr taktvollen Blick ehrfürchtigen Staunens. Carina hatte lange, schlanke Beine von bronzefarbener Tönung. Dorner schätzte das Mädchen auf zwanzig.

„Sie erwähnten ein Päckchen“, sagte Dorner zu ihr. „Was hat es damit für eine Bewandtnis?“

„Es enthielt offensichtlich die Bombe“, antwortete Carina und stieg über die ´Trümmer in jenen Raum, der einst das Wohnzimmer gewesen sein musste. Die Vienna Cops folgten ihr. Das auf die Straße weisende Zimmer war von der Explosion völlig verwüstet worden. Sein Interieur war ein einziger Trümmerhaufen. Ansonsten hatte der Raum, abgesehen von der ausgehängten Tür, dem zerborstenen Fenster und einigen Mauerrissen keinen nennenswerten Schaden davongetragen.

Dorner trat an die Fensteröffnung und blickte hinaus. Auf der Straße unten standen die Leute und blickten nach oben. Der Gehsteig war mit Glassplittern übersäht, aber so, wie es aussah, gab es glücklicherweise keinen Verletzten.

„Das Päckchen kam aus Malaysia, aus einem kleinen Ort namens Johor Bahru“, berichtete Carina, als sie wieder im Gang standen. „Es war an Papa adressiert. Der Absender hieß F. Cook. Mir kam das gleich merkwürdig vor. Wir kennen keine Leute dieses Namens. Außerdem war das Päckchen für seine Größe ungewöhnlich schwer. Sie werden es mir nicht glauben, aber ich dachte sofort an die Möglichkeit, dass es eine Bombe enthalten könnte.“

„Wie kamen Sie darauf? Nur wegen des Gewichtes und des unbekannten Namens?“, fragte Dorner.

„Nicht nur deshalb. Papa war seit Tagen verschwunden, und wir hatten gerade erfahren...“ Sie stockte und wandte uns plötzlich den Rücken zu. Die beiden Cops folgten ihrem Blick, der zur Straße ging, konnte aber nichts von Interesse entdecken. Carina wandte sich an Dorner. „So etwas verwandelt einen“, fuhr sie fort. „Es macht einen misstrauisch.“

„Warum alarmierten Sie nicht die Polizei?“, erkundigte sich Dorner.

Carina zuckte mit den runden Schultern. „Ich hatte Angst, mich zu blamieren“, meinte sie. „Um festzustellen, was das Päckchen enthielt, ging ich jedoch äußerst behutsam vor. Ich löste die Verschnürung und befestigte dann am Deckel des Kartons einen langen Bindfaden. Mit dem äußersten Ende des Bindfadens verschwand ich auf dem Gang. Mama war ja noch in der Wohnung. Ich wollte sie holen, als gerade sie kamen. Ehrlich, ich habe nicht an dem Faden gezogen, ich habe ich bloß auf den Boden gelegt, als ich Mama an der Eingangstür sah, aber da ging die Bombe schon hoch. Ich darf gar nicht daran denken, was Mama oder mir geschehen wäre, wenn eine von uns das Päckchen nichts ahnend geöffnet hätte.“

Maria Lindhof hob ihr Kinn. „Es gibt keinen Zweifel“, sagte sie. „Jemand hat es darauf angelegt, unsere Familie auszurotten. Mit Hubert, meinem Mann, haben sie begonnen.“

Wir gingen in das Zimmer von Carina, das relativ unzerstört geblieben war. Vance übernahm es, die Kriminalpolizei zu verständigen. Dann setzten wir uns zu viert nieder. Hier waren nur die Bilder von den Wänden gefallen. Frau Lindhof bot uns einen Drink an. Nach einem Blick in die Küche lehnten wir dankend ab. Carina fand jedoch einen Kognak und schenkte sich ein kleines Glas ein. Ihre Mutter trank nichts.

„Wann hat Herr Lindhof das Haus verlassen?“, fragte Vance.

„Das war am Montag, gegen neun Uhr morgens. Er fuhr mit der U-Bahn weg“, erwiderte Maria Lindhof. „Er sagte mir, dass er nicht vor Abend zurück sein würde und in der Stadt zu essen beabsichtige.“

„Das war nur eine Finte“, warf Carina ein. „Ich weiß, dass er etwas ganz Bestimmtes vorhatte. Er wollte dich nicht hineinziehen.“

„Wo hineinziehen?“, fragte Maria Lindhof verblüfft.

„In seine Sorgen. Er war hinter jemand her.“

„Hubert?“, fragte Maria Lindhof und hob die Augenbrauen. „Hinter wem denn, um Himmels willen? Ich fürchte, jetzt geht die Phantasie mit dir durch!“

„Er war hinter jemand her, ich weiß es“, meinte Carina Lindhof halsstarrig.

„Hat er Ihnen das gesagt?“, wollte Dorner wissen.

Carina Lindhof nickte. Ihr Blick ging an der Vienna Cop vorbei ins Leere. Dorner versuchte diesen Blick nicht nur zu bannen, weil es wichtig war, in ihm die Reaktionen auf ihre Fragen abzulesen. Sie fand es gleichzeitig zwingend und faszinierend, immer wieder in diese türkisfarbenen Augenschächte einzutauchen.

„Ja“, meinte die junge Dame, „aber Sie können nicht erwarten, dass ich Ihnen Einzelheiten nenne.“

„Carina!“, rief Maria Lindhof mit klagender, vorwurfsvoller Stimme. „Weißt du überhaupt, was du da sagst? Diese Herrschaften sind von den Vienna Cops. Sie wollen uns helfen. Sie wollen versuchen, die Mörder deines Vaters zu finden. Wir müssen ihnen gegenüber völlig offen sein.“

„Ich habe nichts gegen Sie“, meinte Carina Lindhof und lächelte dabei ein wenig sphinxhaft. Dorner bemerkte in diesem Moment zum ersten Mal, dass ihre Augen kaum merklich geschrägt waren. Wenn sie lächelte, sah sie exotisch und sehr fremd aus, aber ihr Sex-Appeal erfuhr dadurch eher noch eine Vertiefung. „Aber es gibt im Leben eines jeden Menschen einige Dinge, die er auf keinen Fall anderen überlassen darf“, fuhr sie fort. „Dazu gehört die Rache für das, was man meinem Vater angetan hat.“

„Sie wollen sich rächen?“, fragte Vance ungläubig.

„Haben Sie etwas dagegen?“

„Eine ganze Menge sogar“, meinte Vance. „Erstens leben wir in Wien und nicht irgendwo in Südostasien, und zweitens können wir es nicht zulassen, dass Ihre durchaus verständlichen Gefühle mit unseren Gesetzen kollidieren.“

„Verschonen Sie mich bitte mit den Phrasen der Rechtsstaatlichkeit. Ich weiß genau, was ich zu tun habe.“

Die junge Frau nahm einen letzten Schluck aus ihre, Kognakschwenker, dann erhob sie sich und verließ mit dem leeren Glas das Zimmer.

Dorner blickte Maria Lindhof an. Die starrte betroffen auf ihre im Schoß verschränkten Hände.

„Carina ist ein liebes, tüchtiges und sehr gescheites Mädchen“, meinte Maria Lindhof kaum hörbar, „aber es gibt Tage, an denen sie ausgesprochen schwierig ist. Sie dürfen das nicht missverstehen. Carina ist offenbar der Ansicht, dass man die Sühne für den Tod ihres Vaters keinem — Pardon — fremden Menschen überlassen darf.“

„Ihre Tochter behauptet, dass der Ermordete hinter jemand her gewesen sei“, sagte Vance. „Wussten Sie etwas davon?“

„Nein — aber ich habe es geahnt“, meinte die Frau zögernd. „Hubert war in letzter Zeit so seltsam. Er blieb manchmal übers Wochenende weg. Ich muss zugeben, dass ich anfangs glaubte, eine fremde Frau stecke dahinter, aber dann wurde mir klar, dass es diese alte unselige Leidenschaft von ihm war...“

„Welche Leidenschaft?“, fragte Vance.

Die Frau hob ihren Blick. „Es ist schwer, einem anderen Menschen die Gefühle eines — eines Henkers zu schildern. Ein Henker ist ein Mann, dessen Notwendigkeit die Gesellschaft zwar anerkennt, mit dem sie aber nichts zu tun haben will. In gewisser Hinsicht stößt die Gesellschaft, der er dient, ihn unbarmherzig aus. Sie will nichts mit ihm zu tun haben und verschließt ihre Augen vor den seelischen Nöten und Problemen eines solchen Mannes. Alles, was sie ihm zuerkennt, ist eine gute Bezahlung und den Status eines Beamten. Ich habe mich oft gefragt, ob Hubert unter dieser Isolierung gelitten hat. Heute weiß ich, dass es nicht die Isolierung war, die ihn quälte, sondern die Erkenntnis, dass er zu seiner Arbeit keinen geistigen Beitrag leisten konnte, dass er immer nur das willfährige Werkzeug der anderen war, die verachtete und doch unentbehrliche Vollstreckungswaffe der Justizmaschine.“

„Sie sprachen von seiner Leidenschaft“, erinnerte Dorner die Frau.

Maria Lindhof nickte. „Das hängt damit zusammen. Hubert fieberte förmlich danach, selbst einen großen Fall zu lösen. Er wollte sich und der Welt damit beweisen, dass er mehr war als ein Roboter des Todes. Er hat versucht, sich diesen Wunsch zu erfüllen und ist daran gescheitert...“

Dorner wechselte mit Vance einen kurzen verdutzen Blick. Dabei war Hubert Lindhofs Reaktion keineswegs so abwegig, wie sie auf Anhieb erscheinen mochte. Jeder Mensch verspürt irgendwann einmal den Wunsch, sich als Amateurdetektiv zu beweisen. Für Hubert Lindhof, den Henker, musste dieser Wunsch geradezu übermächtig geworden sein. Seine Erfüllung war für ihn zu einer Frage der Selbstachtung geworden.

„An welchen Fall machte er sich heran?“, fragte Vance die Frau.

„Das weiß ich nicht.“

„Führte Ihr Mann Tagebuch?“, wollte Vance wissen.

„Nein.“

„Ihre Tochter weiß offenbar mehr“, sagte Vance. „Wie erklärt sich das?“

„Es gibt Dinge, die ihr Vater vermutlich bloß mit ihr besprochen hat“, meinte Maria Lindhof zögernd. Es kostete sie Mühe, einige für sie schwer zugängliche Probleme in Worte zu kleiden. „Ich führe das darauf zurück, dass Carina jung, unerschrocken und hochintelligent ist. Hubert konnte mit ihr über Dinge sprechen, die mich einfach nur verwirrt oder erschreckt hätten. Daran mag es liegen, dass Hubert sie als Gesprächspartner für Themen akzeptierte, die er mir bewusst vorenthielt.“

„Hatte Ihr Mann Freunde?“, wollte Dorner wissen.

„Er hat nie einen besessen, fürchte ich. Das hing mit seinem Beruf zusammen.“

„Er lebte seit Jahren hier draußen als Pensionist“, stellte Vance fest. „Was hat er mit seiner freien Zeit angefangen? Er muss doch mit Nachbarn und anderen Menschen ins Gespräch gekommen sein.“

„Natürlich lernte er Leute kennen“, nickte Maria Lindhof, „aber er sorgte dafür, dass diese Bekanntschaften nicht zu intim wurden. Hubert wusste, dass früher oder später die Frage nach seiner Vergangenheit und dem Grund seiner vorzeitigen Pensionierung auftauchen würde. Er hatte einfach keine Lust, ihm liebgewordenen Menschen immer wieder irgendwelche Märchen aufzutischen.“

Draußen ließen sich laufende Schritte vernehmen. „Wer ist das?“, fragte Vance.

„Carina“, meinte Maria Lindhof. „Vermutlich fährt sie in die Stadt.“

Dorner gab ihrem Kollegen mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er sich um die Tochter des Henkers kümmern sollte. Der erhob sich sofort und eilte nach draußen, ohne eine Frage zu stellen. Er hatte sofort begriffen, dass es wichtig war, Carina Lindhof nach dem Anschlag im Auge zu behalten.

„Ich frage mich, ob der Bombenanschlag ohne jede Vorwarnung erfolgte“, sagte Dorner. „Dasselbe gilt für den Tod Ihres Mannes. Gab es keine Anzeichen, keine Hinweise für die Entwicklung? Fühlten Sie sich beobachtet? Gab es mysteriöse Anrufe oder Briefe, mit denen Sie nichts anzufangen wussten?“

„Nichts dergleichen“, meinte die Frau.

„Ihr Mann ist niemals bedroht worden?“

„Nicht, dass ich es wüsste.“

„Sie sagen das ein wenig zögernd und unsicher“, stellte Dorner fest. „Beinahe so, als hätten Sie gewisse Zweifel an der Richtigkeit Ihrer Worte.“

„Das hat seinen Grund“, meinte die Frau. „Wenn Hubert jemals ernstlich bedroht worden wäre, hätte er mir kaum etwas davon gesagt. Er war stets darauf bedacht, Sorgen von mir fernzuhalten. Selbst das hing mit seinem Beruf zusammen. Er litt Zeit seines Lebens unter einem Schuldkomplex. Die persönliche Isolierung machte ihm wenig aus, aber es bedrückte ihn, dass wir, seine Familie, unter dem düsteren Schatten seines Berufs mitleiden mussten. Diese Tatsache versuchte er durch besondere Liebe zu uns auszugleichen.“!

Dorner stellte noch eine Reihe weiterer Fragen, ohne im Wesentlichen mit ihren Ermittlungen voranzukommen. Sie wusste noch immer nicht, ob der Mord an Hubert Lindhof ein Racheakt war, oder ob die Vorfälle auf das Konto von Hubert Lindhofs Aktivität als Amateurdetektiv gebucht werden mussten.

Sie blieb, bis die Kriminalpolizei eintraf, und ließ sich den Teil des Zugzünders zeigen, der den Päckcheninhalt zur Explosion gebracht hatte.

„Das ist eine Profi-Arbeit“, meinte der Beamte, der die Reste des Zünders unter den Trümmern des Zimmers entdeckt hatte.

Dorner verabschiedete sich und ging. Mit der Gondel des Cable-Car fuhr sie zurück zum Büro. Dort erstattete sie Nimol Bericht und setzte sich dann in ihr Büro.

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