Читать книгу Erziehung durch Beziehung - Rolf Arnold - Страница 5
ОглавлениеIn meinen Vorträgen frage ich die Zuhörer bisweilen: «Wer von Ihnen hat schon einmal ein Kind erfolgreich erzogen?» Darauf meldet sich meist niemand. Die Frage löst verlegenes Lachen aus. Viele fühlen sich wie ertappt. Ihnen fallen ihre eigenen wirkungslosen Ermahnungen und Aufforderungen ein. Oder sie erinnern sich an die endlosen Wiederholungen der immer gleichen Standpauken, mit denen sie darum bemüht waren, ihre Kinder zu einem anderen Verhalten zu bewegen – meist ohne irgendwelche dauerhaften Effekte. Und manche sind auch traurig darüber, dass die erschöpfenden Auseinandersetzungen sie mehr und mehr von ihren Kindern entfremdet haben.
Eigentlich ist uns bewusst, dass Erziehung »nicht möglich, aber nötig« ist – so das Fazit eines bekannten Erziehungswissenschaftlers (Oelkers 2001, S. 102). Und doch können wir intuitiv erkennen, ob ein Mensch, mit dem wir es zu tun haben, Erziehung genossen hat oder nicht. Dann sagen wir zum Beispiel: »Der stammt aus einem guten Elternhaus« oder »Sie hat eine gute Kinderstube genossen«.
Wissen wir wirklich, wie Elternhaus und Kinderstube wirken? Kennen wir die dichten Erlebenswelten, die sie für die Nachwachsenden darstellen? Und können wir diese für unsere Kinder verändern, oder geht es ihnen so, wie es uns ergangen ist? Wir wuchsen mit den Eltern, die wir hatten oder entbehren mussten, auf, beobachteten Vorbilder, erfuhren Unterstützung oder Ablehnung, sammelten die Erfahrungen, die sich uns boten – darunter nicht nur angenehme, sondern nicht selten auch unangenehme. Auswählen konnten wir uns die Erziehungsinstanzen nicht, auch nicht mitbestimmen, welche Erfahrungen diese uns ermöglichten oder zumuteten.
Kinder und Jugendliche, deren Verhalten uns aufregt oder gar auf die Nerven geht, haben sich dieses Verhalten nicht böswillig zugelegt. Schon gar nicht haben sie es ausgewählt, so, wie man eine Jacke oder Hose aus der Vielfalt der Angebote im Internet bestellt. Ihr als störend empfundenes Verhalten ist vielmehr Ausdruck von inneren Prozessen der Suche im Anregungsfeld der sich ihnen bietenden Möglichkeiten – im Wirkungsfeld geeigneter oder ungeeigneter Vorbilder und Erlebnisse.
Eine Mutter sagte zu mir:
»Ehe du dich's versiehst, ist dein Kind dir schon entglitten. Dann bestimmen Freunde sein Verhalten, und dein Kind beginnt seine eigenen Wege zu gehen. Ob es dabei auf Abwege gerät, hast du nicht in der Hand. Es kommt nur zurück, wenn es sich mehr an deine Liebe als an deine Kritik erinnert!«
Diese Äußerung nimmt vorweg, worum es in diesem Buch geht: Wer sein Kind erziehen will, muss die Beziehung zu seinem Kind gestalten. Dies ist leichter gesagt als getan, denn immer wieder fallen Eltern, Lehrerinnen oder Erzieher in die Vorstellung zurück, der ganze Erziehungserfolg ihrer Bemühungen stehe und falle mit den getroffenen Erziehungsmaßnahmen. Sie suchen deshalb nach Tipps und Tricks, um ihre Kinder zu steuern, sie wollen die Kunst erlernen, »Kinder zu kneten«, wie es der österreichische Autor Rudi Palla einmal ausdrückte (Palla 1997). Doch diese Kunst gibt es nicht. Wer auf sie hofft, hat nicht verstanden, dass alles erzieht und nichts planbar ist. Auf alle Fälle gibt es keine sicheren Wirkungen zu einzelnen Erziehungsmitteln, wohl aber eine Fülle von ungewollten Risiken und Nebenwirkungen. Und zu oft insistieren wir, wiederholen unzählige Male dieselbe Aufforderung, verfallen mehr und mehr in einen anweisenden Ton und merken, wie wir immer stärker den Kontakt zu unseren Kindern verlieren.
Ohne eine aktive, gestaltende Beziehung ist Erziehung nicht das, was sie doch sein will: eine Unterstützung nachwachsender Menschen auf ihrem Weg zur eigenen Kraft und zur verantwortlichen Lebensgestaltung.
Und meist überhören wir die Einsichten derjenigen, die sich mit Erziehung ein Leben lang wissenschaftlich und praktisch auseinandergesetzt haben, wie die des österreichisch-amerikanischen Psychiaters Rudolf Dreikurs (1897–1972). Er brachte es auf den Punkt:
»Zwar dürfen Sie nicht darauf hoffen, dass ihre Kinder jemals Engel werden, aber Sie können darauf hoffen, dass Sie zu besseren Eltern werden« (Dreikurs 2010, S. 22).
In was für einer Welt leben wir eigentlich?
Keine Sorge! Diese Frage ist nicht der Beginn eines Lamentos, wonach früher alles besser gewesen sei und die Kinder noch gewusst haben, was sich gehöre, der Respekt vor Autoritäten und Disziplin sei noch selbstverständlich gewesen. Diese Rückblicke sind nicht nur verzerrend und idealisierend, sie verfälschen auch unseren Blick und werfen uns in die Vorstellung zurück, Erziehung sei möglich. Man müsse nur entschlossener vorgehen und über die subtilen Mittel einer gelingenden Erziehung verfügen, auf die man schon seit Jahrhunderten wartet.
Erziehungslamento und Rezepthoffnung sind Zwillinge. Sie treten stets zusammen auf.
Wer sich mit diesen Zwillingen zusammentut, hat das Wesen der Entwicklung und Reifung des Menschen nicht verstanden. Dieses lässt sich nicht berechnen. Es gibt keine Erziehungsmechanik. Über die Instrumente, die sich alle herbeiwünschen, verfügt niemand. Ein Werkzeugkoffer, der sie enthält, müsste ein Zauberkasten sein. Erziehung ist ein Versprechen, meist eine Hoffnung, aber keine sichere Wirkung. Erfahrene Erzieher, Lehrpersonen oder Eltern kennen diese Offenheit und Unberechenbarkeit. Sie wissen: Es ist keineswegs sicher, dass eine bestimmte Maßnahme auch den erhofften Effekt haben wird. Und auch ihre Wiederholung oder gar Verschärfung gewährleistet keineswegs sicher und langfristig den erhofften Erfolg. Wir müssen also zunächst verstehen, in welcher Art von Welt wir uns bewegen, wenn wir unsere Kinder zu erziehen glauben. Bewegen wir uns in der Welt des Steins oder in der Welt des Hundes, um ein Bild des amerikanischen Philosophen Gregory Bateson (1904–1980) aufzugreifen. In seiner bekannten Illustration wies Bateson darauf hin, dass man nur die Flugbahn eines Steins, den man tritt, einigermaßen genau berechnen könne. Trete man hingegen einen Hund, so müsse man damit rechnen, dass dieser sich umdreht und einen in den Fuß beiße (vgl. Bateson 1977).
Zugegeben, dieses Bild ist etwas drastisch und nicht konform mit den glücklicherweise geltenden Tierschutzbestimmungen, aber es ist anschaulich. Es zeigt nämlich, dass ein lebender Organismus, wie auch der Mensch einer ist, stets selbstgesteuert und kaum sicher vorhersagbar reagiert. Man kann deshalb auch nicht vorausberechnen, welche Wirkungen eine Erziehungsmaßnahme, eine Intervention oder eine Information im Gegenüber auslösen wird. Das Gegenüber kann sich gelangweilt abwenden, weil es die beginnende Ermahnung bereits tausendmal gehört hat, es kann eine Diskussion beginnen oder es kann nachdenklich werden. »Wir sind überwiegend mit uns selbst beschäftigt« (Spitzer 2007), lehrt uns die Hirnforschung. Dies gilt auch dann, wenn wir erziehen. Und es gilt auch für diejenigen, auf die unsere Erziehungsmaßnahme gerichtet ist.
Wenn wir überwiegend mit uns selbst beschäftigt sind, während wir erziehen, dann müssen wir unseren Erziehungsblick auf uns selbst wenden! Was hat mich selbst erzieherisch geprägt und bewegt? Was bewirke ich eigentlich, wenn ich nichts bewirke, sondern mir lediglich treu bleibe? Was entgeht mir, wenn ich ein Kind nicht so zu sehen vermag, wie es ist, sondern so, wie ich bin, um eine alte Einsicht des Talmud aufzugreifen (vgl. Wahl/Lehmkuhl 2015, S. 111).
Doris, Mitarbeiterin in einer Kindertagesstätte, erklärt:
»Für mich ist jedes Kind eine ganz eigene Wirkungseinheit. Wir können letztlich nicht wissen, was dieses Kind mit sich herumträgt, wie es tickt und worauf es anspringt. Ich musste mühsam lernen, dass Erziehung von uns ein tastendes Verhalten erwartet, keine Intervention! Nur wenn es uns gelingt, mit dem Kind einen minimalen Gleichklang zu erreichen, können wir eine Resonanz auslösen und wirksam werden. Dies erfordert eine Bewegung von mir als Erziehungsperson. Diese musste ich zunächst üben und entwickeln, bevor ich in meiner Erziehungsarbeit wirksam wurde!«
Für Eltern, Lehr- und Erziehungspersonen ergeben sich aus diesem Sachverhalt der tastenden Suche zahlreiche Fragen:
•Folge ich mit meinen Erziehungshandlungen eher einer Welt des Steines oder einer Welt des Hundes (als Beispiel für ein lebendiges Gegenüber)?
•Sind meine Erwartungen an Erziehungsratgeber eher steinpädagogischer oder eher lebenspädagogischer Art?
•Wie gehe ich mit einem selbstgesteuerten Gegenüber um, wenn ich für sein Wohlergehen und sein Gelingen verantwortlich bin?
•Welche eigenen Bilder und Erfahrungen melden sich in mir zu Wort, wenn ich erziehe?
•Was kann ich selbst verändern, damit gelingende Erziehung wahrscheinlicher wird?
Nur Scharlatane gaukeln die Verfügbarkeit sicherer Erziehungsmittel vor – ohne allerdings halten zu können, was sie uns versprechen!
Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler regen demgegenüber zur Selbstreflexion, zur Erweiterung der eigenen Erziehungsperspektiven und zur Selbstveränderung an. Am Anfang unseres Elternseins steht nämlich die eigene Erziehung, d. h. die Summe der Bilder und Erinnerungen, die wir als kleine Menschen selbst erleben durften oder mussten. Diese geben wir weiter, indem wir mit unseren Aktionen und Reaktionen die erwähnten Bilder ausdrücken. Damit konservieren wir diese, statt sie zu verändern. Deshalb verändern sich auch die Erziehungskulturen in unserer Gesellschaft nur sehr langsam. Die alten Bilder von Gehorsam, Drohung und Anpassung bleiben zählebig wirksam, obgleich unsere Einsichten und Möglichkeiten uns eigentlich eine andere Erziehungskultur abverlangen.
In diesen frühen Erfahrungen habe ich selbst erfahren, was es heißt, erzogen zu werden. Hier habe ich gespürt und beobachtet,
•wie Eltern ihre Ziele und Erwartungen ausdrücken,
•wie sehr sie dabei darauf Wert legen, dass man ihnen folgt,
•wie sie dabei auf die Bedürfnisse ihres Kindes Bezug nehmen oder über diese hinweg gehen,
•wie sie loben, Anregungen geben, ermunternd zur Seite stehen,
•wie sie sich aufregen (»schimpfen«), strafen und wieder versöhnen usw.
Karin berichtet:
»Zunächst fand ich das ja ziemlich daneben: Da kam ich in einen Kurs zum Thema ›Wie man sein Kind erzieht‹ und sollte über die Frage nachdenken, was mich erzieherisch geprägt und bewegt hat. Doch die erste Übung war umwerfend. Nie hätte ich gedacht, wie ähnlich ich meinen eigenen Eltern bin. Zwar rede ich mehr mit meinen Kindern, als meine eigenen Eltern dies mit uns taten, doch die Art, zu ermahnen, bisweilen gebetsmühlenartig meine Kinder mit den immer gleichen Klagen zu konfrontieren, auch die Frage nach den schlechten Emotionen im Kontakt mit meinen Kindern – in all diesen Punkten bin ich wie meine Eltern. Irgendwie fühle ich mich nur dann als Erziehungsverantwortliche, wenn ich in den gleichen Ton verfalle wie sie. Das ist echt merkwürdig!«
Wirksame Erziehung beginnt mit Selbstreflexion. Zunächst muss ich mein eigenes Erziehungsverhalten gründlich reflektieren. Erst dann kann ich anfangen, darüber nachzudenken, ob ich zu meinen Verhaltensweisen greife, weil sie erwiesenermaßen wirksam sind oder nur deshalb, weil dies die Erziehungsbilder sind, die ich kenne und die deshalb am leichtesten verfügbar sind. Doch woher habe ich die Bilder, die mein Erziehungshandeln immer wieder prägen?
Vorschlag: Prüfen Sie ehrlich und selbstkritisch, ob und wann Sie belehren, insistieren, labeln (= mit einem Etikett versehen), disziplinieren, ermahnen oder richten.
Die meisten Menschen bejahen in ihrer nüchternen Selbsteinschätzung die erwähnten Erziehungsbilder. Die damit verbundenen Verhaltensweisen prägen unseren Erziehungsalltag. So insistieren wir immer mal wieder gegenüber unseren Kindern oder Schülerinnen und Schülern, obgleich uns die Erfahrung lehrt, dass wir dadurch allenfalls eine kurzfristige, aber keine dauerhafte Verhaltensänderung erreichen. Mit ähnlich fragilen Wirkungen ermahnen und disziplinieren wir auch. Bisweilen greifen wir als richtende Instanz auch durch, indem wir Strafen verhängen.