Читать книгу Erziehung durch Beziehung - Rolf Arnold - Страница 7
ОглавлениеEltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte fühlen sich oft alleingelassen, überfordert oder unter Rechtfertigungsdruck. Sie sehen sich hohen Erwartungen von Politik und Öffentlichkeit ausgesetzt, die von ihnen »Mehr Mut zur Erziehung!« fordern oder gar vor einem »Erziehungsnotstand« warnen. Häufig wird deutlich zur Entschiedenheit und Klarheit aufgerufen. Auch ein »Lob der Disziplin« ist im Angebot der Erziehungsratgeber. Dem interessierten Leser, der interessierten Leserin solcher Appelle wird dadurch der Eindruck vermittelt, es gehe letztlich nur darum, dass die Verantwortlichen endlich ihrer Verantwortung nachkommen sollten – alles andere ergebe sich ganz von selbst: »Reißt euch gefälligst am Riemen!« Und: »Schluss mit dem Schlendrian in den Kinderzimmern und Klassenzimmern!« – so lauten die Parolen.
Selten finden Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte eine Anerkennung für ihre täglichen Bemühungen. Und kaum werden die nachdenklicheren Stimmen vernommen, die uns zu verstehen geben: »Erziehung war immer schon ein Thema!« Und: »Noch nie konnten alle Auswirkungen der Erziehung zuverlässig vorhergesagt werden!«
Aus solchen nachdenklichen Feststellungen könnten alle, die mit ihrer Erziehung nicht mehr weiterwissen oder gar scheitern, viel Zuversicht schöpfen. So würden sie sich nicht mehr selbst unter Erfolgsdruck setzen, sondern könnten sich mit anderen austauschen und von ihren Niederlagen lernen. Allmählich könnten sie sich vom Machbarkeitswahn lösen und sich den Nachwachsenden wirklich zuwenden. Und sie würden verstehen, dass diese genauso anders und speziell sind, wie sie es dereinst gewesen sind.
Der Abschied vom Machbarkeitswahn hilft uns, mit dem Widerspruch umzugehen, dass Erziehung zwar notwendig, in ihren Wirkungen aber nicht sicher kalkulierbar ist. Zu unterschiedlich sind die Kinder und Jugendlichen, und zu verschieden sind die Situationen, in denen sie leben. Immer wieder von Neuem rollt Sisyphos den Stein auf den Berg, nur um ihn hernach wieder hinabrollen zu sehen – lächelnd und nicht klagend (vgl. Müller 2016)!
Das Versagen in Erziehungsfragen gehört zum Leben wie die Unvermeidbarkeit von Regen, Kälte oder drückender Hitze. Diese nehmen wir hin, ohne uns zu ärgern. Warum gelingt uns das nicht auch im Umgang mit den als schwierig empfundenen Kindern und Jugendlichen?
So können dem provozierenden Verhalten eines Schülers ganz unterschiedliche Motive zugrunde liegen. Es gibt deshalb auch keine einfachen Erziehungsregeln nach dem Motto: »Man nehme …!« Dies gilt für einfache Erziehungsprobleme ebenso wie für extreme Situationen: Auch die gefährdete Jugendliche, die mit radikalen Weltanschauungen sympathisiert und zur Gewaltanwendung neigt, reagiert kaum auf deutliche Zurechtweisung oder drakonische Strafen. Und bekannt sind die eskalierenden Erziehungssituationen, die eher zu einer Verschlimmerung der Lage als zu deren Verbesserung führen.
Erziehung kann zu Entziehung führen
Cornelia berichtete in einem Seminar zu Erziehungsfragen:
»Irgendwann habe ich gemerkt, dass meine Versuche, meinen Jungen ›von der schiefen Bahn‹ abzubringen, genau das Gegenteil bewirkten. Ich war wirklich engagiert als Mutter, das können Sie mir glauben, aber irgendwie führten die regelmäßigen Standpauken, Ausgehverbote oder meine permanente Unzufriedenheit dazu, dass mein Junge sich mehr und mehr zurückzog. Heute weiß ich überhaupt nicht mehr, was er treibt und was in ihm vorgeht. Je mehr ich ihn erzog, desto mehr entzog er sich! Das ist die traurige Quintessenz meiner Erziehungsbemühungen!«
Was ist zu tun, wenn die Gründe für Erziehungsprobleme vielfältig und die üblichen Reaktionen darauf eine unberechenbare oder gar gegenteilige Wirkung erzeugen? Müssen wir verzweifeln? Einfach nur das Unvermeidbare ertragen? Oder müssen wir aufgeben – unsere Vorstellungen und damit womöglich auch uns selbst? Die gute Botschaft ist: Nein!
Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte haben immer die Möglichkeit, selbst aus Erziehungskonflikten auszusteigen, Eskalationsschleifen zu vermeiden und nach anderen Formen des Umgangs mit dem auffälligen Verhalten zu suchen.
Eltern, Erzieherinnen und Erzieher können die einzige Möglichkeit nutzen, über die sie tatsächlich verfügen: Sie nehmen eine weniger grundsätzliche und voreilig bewertende Haltung ein. Dadurch verändern sie sich selbst mit dem Ziel, nicht nur ihren eigenen Blick auf das störende Verhalten zu verändern, sondern auch Neues in den Blick treten zu lassen. Damit tragen sie auch dazu bei, dem Kind, der Schülerin oder dem Zögling, wie man die zu Erziehenden früher gerne nannte, neue Möglichkeiten zu eröffnen. In seinem Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« beschreibt Robert Musil (1880–1942) sehr eindrucksvoll, zu welchen zerstörerischen Wirkungen eine grundsätzliche, vornehmlich kontrollierende, einschränkende und abwertende Erziehung letztlich zu führen vermag. Auch Rainer Maria Rilke (1875–1926) sieht sich am Ende seiner Militär-Oberrealschule
»als ein Erschöpfter, körperlich und geistig Missbrauchter, verspätet sechzehnjährig, vor den ungeheuren Aufgaben meines Lebens (…), betrogen um den arglosesten Teil meiner Kraft und zugleich um jene, nie wieder nachzuholende Vorbereitung, die mir reinliche Stufen gebaut haben würde zu einem Anstieg, den ich nun, geschwächt und geschädigt, vor den steilsten Wänden meiner Zukunft beginnen sollte« (Rilke 1978, S. 352).
Aufschlussreich ist vor diesem Hintergrund auch das Gegenbild, das Rilke einer schwächenden und schädigenden Erziehung entgegensetzt, wie er sie selbst erlebt hat. Dieses tritt in seiner Besprechung des Buches »Das Jahrhundert des Kindes« der Schwedin Ellen Key (1849–1926) deutlich zutage. Darin schreibt Rilke:
»Freie Kinder zu schaffen wird die vornehmste Aufgabe dieses Jahrhunderts sein. Ihr Sklaventum ist schrecklich und schwer; es beginnt, noch ehe sie geboren sind, und endet damit, dass sie schließlich Erwachsene und Eltern, das heißt wieder Unterdrücker von neuen Kindern werden. Wie die Verhältnisse heute liegen, kann man ruhig sagen, dass sowohl die guten wie die schlechten Eltern, sowohl die guten wie schlechten Schulen, Unrecht haben dem Kind gegenüber. Sie verkennen das Kind überhaupt, sie gehen von einer falschen Voraussetzung aus, von der Voraussetzung des Erwachsenen, der sich dem Kind überlegen fühlt, statt zu erkennen, dass es das Streben der größten Menschen war, dem Kinde in gewissen Augenblicken gleich und ebenbürtig zu sein« (Rilke 1902; zit. n. Kuhlmann 2013, S. 92).
Entscheidend ist demnach das Bild, das wir von den Kindern und Jugendlichen in uns tragen. Halten wir sie für das unfertige »Material« – ein Begriff, der in den Erziehungsdebatten tatsächlich Verwendung fand und findet – oder sind sie für uns nur kleinere, aber vollwertige Menschen, denen wir grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen möchten?
Bereits diese Überlegung ist geeignet, Erstaunen oder gar Kopfschütteln in uns auszulösen. Sie führt uns aber auch zu den tiefsten inneren Bildern, die unseren Blick auf die Nachwachsenden prägen. Nur auf den ersten Blick scheint es um Macht zu gehen: Die Großen und Starken bestimmen, was richtig und angemessen ist – eine Haltung, die vielleicht dereinst angemessen war, die heute aber vielfach ins Wanken geraten ist. Damals, als man noch genauer absehen konnte, wie sich die Zukunft für die Nachwachsenden darstellen würde, mochte diese Haltung noch von Fürsorge getragen worden sein. In Zeiten, in denen die Erwachsenen zunehmend selbst nicht wissen können, was die Zukunft bringen wird, verliert diese Haltung viel von ihrer ursprünglichen Substanz – diese Einsicht ermöglicht einen zweiten Blick auf die Erziehung. Nicht selten schrumpft die Erziehung auf eine bloße Anmaßung, mit der Erziehende oft verzweifelt um Geltung bei den Nachwachsenden ringen, ohne irgendeine oder nur mit geringer Wirkung.
Es gibt keine Tipps, um beim Nachwuchs genau die Wirkungen zu erzielen, die man sich wünscht. Es gibt lediglich Regeln, die einem helfen können, eine wirksamere Beziehung zu gestalten. Dabei setzt die Veränderung bei uns selbst an. Der Erziehungsstrahl, den Erziehende auf ihre Kinder richten, krümmt sich dabei und nimmt uns selbst in den Blick. Durch Selbstreflexion und nüchterne Beobachtung der Wirkungen, die wir tatsächlich mit unseren Aktionen erzielen, können wir unser eigenes Erziehungsverhalten verändern und dadurch in eine neue Beziehung zu unseren Kindern gelangen.
Die erste Lektion auf dem Weg zu einer solchen – neuen – erzieherischen Wirksamkeit lautet deshalb:
Wenn Sie merken, dass Ihre Erziehungsmaßnahme nicht greift, lassen Sie sie sein. Wenn Sie merken, dass etwas funktioniert, machen Sie mehr davon!
Erziehungsverantwortliche, die diese Lektion beherzigen, lösen sich von der lange geforderten Entschiedenheit und blicken klar und nüchtern auf die Wirksamkeit ihrer Aktionen und Reaktionen. Sie haben sich von ihrer Wut gelöst und begonnen, ihre Erziehungsarbeit als einen entwicklungsförderlichen Service für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen zu verstehen. Denn diese sind nicht in erster Linie dafür da, ihnen keine Sorgen zu bereiten. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, heranzuwachsen und sich in den durchaus nicht immer einfachen Lebenslagen zu orientieren und zu entwickeln. Die nüchterne Leitfrage jeglicher Erziehung lautet deshalb nicht: »Was darf ich mir bieten lassen?« Sondern: »Wie kann ich die Erprobung, Suche und Reifung der nachwachsenden Generation unterstützen?«
Wer nervt?
Eine verzweifelte Mutter berichtete in einem Erziehungsseminar:
»Also, ich muss echt sagen, meine Tochter ist mir richtig unsympathisch geworden. Sie steht so ziemlich für alles, was mir zuwider ist. Das geht schon damit los, wie sie sich seit einiger Zeit kleidet: Hosen mit Löchern und Rissen! Und dann erst die Freundinnen und Freunde, mit denen sie tagein, tagaus ›abhängt‹, wie die das nennen. Wie oft habe ich sie schon zur Rede gestellt, gedroht, bestochen und getobt – alles ohne Erfolg. Jetzt bin ich dabei, zu resignieren!« Zahlreiche Mütter und Väter nickten verständnisvoll. Auch sie kannten diese Wirkungslosigkeit aus ihrem Alltag. Viele schüttelten deshalb auch den Kopf, als eine ältere Dame sich mit den Worten meldete: »Ich verstehe deine Tochter irgendwie! Sie spürt doch täglich, dass du sie nicht wirklich bedingungslos liebst! Dagegen rebelliert sie. Schließlich möchte sie sich so angenommen, geborgen und geliebt fühlen, wie sie ist – nicht nur, wenn sie so ist, wie du es gerne hättest!«
Solche überraschenden Äußerungen führen meist zu erregten Wortgefechten, nicht so in diesem Fall. Betroffen schwieg die Mutter, sodass die ältere Dame fortfuhr:
»Ich bin hier, weil ich meine Enkel nicht verstehe, aber sie gerne verstehen würde. Und ich liebe die beiden, das kann ich euch sagen. Wenn sie mir so richtig auf die Nerven gehen oder immer genau das machen, womit ich gar nicht rechne, dann denke ich an die wenigen Jahre, die mir noch bleiben, und versuche, zu verstehen. Dies gelingt mir aber nur, wenn ich meine eigenen Kommentare zurückhalten kann. Meine Erfahrung ist: Wenn ich sie beurteile oder gar verurteile, dann verliert sich unsere Beziehung. Und ohne Beziehung gelingt keine Erziehung!«
Diese Äußerung erntete nicht bloß Zustimmung, sondern auch Widerspruch, wie: »Wo kommen wir denn da hin, wenn man sich zurückhalten soll!« oder »Das genau ist doch das Problem, dass viele Eltern sich gar nicht mehr trauen, zu sagen, was geht und was nicht!« Solche Entgegnungen sind zu erwarten. Wir sind, indem wir in dieser Form emotional oder gar wütend reagieren, nicht bei der Frage, wie sich komplizierte Erziehungsfragen wirksam lösen lassen. Sind wir doch mal ehrlich: Wir wissen doch, zu welchen Reaktionen wütende Klarstellungen beim Gegenüber führen. Dieses fühlt sich im vertrauten Film und reagiert genauso, wie wir es gerade verändern möchten: durch innerliche Distanzierung, Sich-unverstanden-Fühlen und Abwendung. Nicht selten fühlen wir uns eine kurze Zeit lang gut, weil wir für Klarheit gesorgt haben, müssen aber enttäuscht beobachten, wie uns unser Kind, die Schülerin oder der Schüler, für die wir verantwortlich sind, mehr und mehr entgleiten. Ungewollt und in bester Absicht haben wir wieder einmal gegen eine weitere Lektion einer wirksamen Erziehungspraxis verstoßen, die da lautet:
Handeln Sie stets so, dass Sie die Beziehung zum Kind oder der bzw. dem Jugendlichen aktiv aufrechterhalten. Lernen Sie und üben Sie dafür Ihre Erziehungs-Sprachkompetenz!
Doch was bedeutet es, als Erziehungsverantwortlicher aktiv die Beziehung aufrechtzuerhalten? Wissen und berücksichtigen wir in unserer Erziehung die Tatsache, dass eine enge Beziehung nur in der Begegnung möglich ist? Begegnen wir den Kindern und Jugendlichen, für die wir Verantwortung tragen, tatsächlich? Greifen wir dabei zu den angemessenen Formen? Oder reden wir einfach so drauf los:
•ermahnend, weil uns danach ist,
•belehrend, weil wir sicher zu wissen glauben, was unsere Kinder benötigen,
•kontrollierend verhörend, weil wir misstrauisch sind,
•laut schimpfend, weil wir glauben, so besser Gehör zu finden, oder
•verständnisvoll nachfragend, weil wir ein echtes Interesse an den Gefühlen und Gedanken unseres Gegenübers haben?
Nur im letzten Fall wächst die Chance, dass wir die Kinder und Jugendlichen tatsächlich erreichen. Keine Wirkung haben wir, wenn diese rasch bemerken, dass wir sie wieder einmal durch die Defizitbrille beobachten. Dabei blicken wir meist durch unsere Erfahrungen auf ihr Verhalten und interpretieren dieses unmittelbar, d. h., bevor wir es verstanden haben. Wir reden dann von »schwierigen Schülern oder Schülerinnen«, von »Ungezogenheit« oder »Auffälligkeit« und zeigen bereits durch diese Wortwahl, dass wir sicher zu wissen meinen, was los ist. Dabei arbeiten wir aber lediglich mit unseren eigenen inneren Bildern, die nicht deshalb richtig sind, weil wir sie haben. Mit diesen legen wir unsere Kinder fest und verlieren allmählich den Kontakt zu ihnen.
Konrad – ein nachdenklicher Vater – berichtete:
»Irgendwie hat sich das mit meinem Sohn nicht gut entwickelt. Manchmal meine ich, wir hatten einen schlechten Start, und ich wünsche mir eine Art Reset-Taste. Alles begann mit meiner Erschöpfung: Wenn ich abends nach Hause kam, drehte mein Sohn erst richtig auf und versuchte mit allen möglichen Aktionen, mich in Trab zu halten. Irgendwie nervte mich dies enorm, und ich ermahnte und strafte ihn, wo es doch nur darum gegangen wäre, Klarheit herzustellen – vor allem Klarheit in meinem eigenen Kopf. Da ich dies nicht konnte, reagierte ich einfach so, wie ich mich fühlte – mit dem Erfolg, dass mein Sohn mir nur als Störenfried begegnete.«
Um solche Entfremdungen zu vermeiden, ist es hilfreich, sich die unterschiedlichen Stufen der erzieherischen Beziehungsarbeit klar vor Augen zu führen und die Erziehungssprache zu üben.