Читать книгу Kölner Krimi Kurzgeschichten - Rolf D. Sabel - Страница 7
1. Der Anzug
ОглавлениеManchmal kommt der Segen des Reichtums unverhofft, und doch kann ein Segen auch zum Fluch werden. Wie in diesem Fall …
Paul Slezak starrte wie gebannt auf die unwirkliche Szene, die sich da im Altarraum der Kirche abspielte. Ein Sarg, Kandelaber mit flackernden Kerzen, Orgeltöne, die ihn sanft umschmeichelten, ein Hauch von Weihrauch. Ein Szenario, das irgendwie unwirklich wirkte.
Unheimlich! Und doch! Eine wunderbare, alte Kirche, in der es wärmer war als draußen, aber trotzdem ordentlich zog. Er fröstelte und zog den verschlissenen Schal enger um den Hals. Wie war er nur hierhin geraten?
Um das zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen und einen Ausflug in die Vergangenheit machen.
Paul Slezak war vom Schicksal wahrlich nicht verwöhnt worden. Das begann schon in seiner Kindheit, als seine Eltern nach dem furchtbaren Krieg aus Schlesien vertrieben worden waren und eine neue Heimat in Köln suchten – und fanden. Eine kleine Sozialwohnung im Martinsfeld bildete jetzt den Mittelpunkt der Familie, doch Armut und Not, Krach und Streit waren die häufigsten Gäste dort. Die Mutter hatte mehrere Putzstellen bei besseren Leuten, der Vater war Straßenbahnfahrer bei der KVB und hatte bereits zwei Abmahnungen wegen Trunkenheit in den Akten. Aber da die Verkehrsbetriebe im Nachkriegs-Köln dringend Fahrer brauchten, sah man vorerst großzügig über diese Verfehlungen hinweg. So fuhr der Vater tagsüber und soff nur noch abends.
Der kleine Paul ging zur nahen Volksschule in der Trierer Straße und lernte schnell. Vor allem lernte er schnell, dass er und seine Familie im heiligen Köln wenig willkommen waren. Das zerstörte Köln war weder bereit noch fähig, zusätzlich zu den vielen einheimischen Rückkehrern noch Flüchtlinge aus der kalten Heimat aufzunehmen, die merkwürdige Dialekte mit sich brachten und noch dazu überwiegend protestantisch waren, was im katholischen Köln grundsätzlich einen Makel darstellt. Und so waren Pimock oder Polak die Begriffe, die ihm häufig entgegen geworfen wurden, ohne dass er diese Wörter kannte oder verstand. Auch die Kinder, die ihm diese Wörter nachriefen, hatten keine Ahnung, was sie bedeuten könnten. Sie hatten sie zu Hause von ihren Eltern aufgeschnappt und fanden sie herrlich schräg, umso mehr, wenn sie bei den Kindern, denen sie sie nachriefen, Tränen hervorriefen.
Dazu kam, dass Paul von schmächtiger Gestalt war und dünnes, rotes Haar seinen Kopf bedeckte. In Köln wurde so jemand ne Fuss genannt und die Kinder neckten ihn gerne, indem sie riefen: „Fuss kum erus, de Kirch es us.“ Dieser Spruch war so herrlich sinnlos, aber er reimte sich und fand Gefallen.
Zur damaligen Zeit sprachen die meisten Kinder in seiner Schule ein breites Kölsch, und auch wenn dem kleinen Paul der Sinn dieses Spruches gänzlich verborgen blieb, ahnte er doch in seiner armen, gepeinigten Seele, dass dieser Reim und die anderen Begriffe, die die Kinder für ihn fanden, nichts Schönes bedeuteten und abwertend gemeint waren. Und so kam er nahezu täglich tränenüberströmt nach Hause und begab sich in die Arme seiner trostspendenden Mutter.
Der Vater hatte für solche Dinge freilich kein Verständnis. Wenn er einmal nüchtern war, und das kam eher selten vor, schnauzte er ihn an, verteilte Ohrfeigen und meinte, ein echter Mann müsse so etwas aushalten. Er habe im Krieg sehr viel mehr ausgehalten und sei daran nicht zerbrochen. Daran schlossen sich meist blutige Berichte aus dem Kriegsalltag des Vaters an – er hatte es immerhin bis zum Matrosenobergefreiten gebracht – und dann pflegte er seinen alten Seesack hervorzuholen, in dem alle Reminiszenzen einer vergangenen Zeit Platz gefunden hatten. Stolz zeigte er seine Orden und Urkunden, bevor er zum nächsten Bier griff.
Dann die kurze Gefangenschaft bei den Amerikanern, die Rückkehr in die ersehnte Heimat und schließlich die Vertreibung aus Gleiwitz, jener Stadt in Oberschlesien, in der der Zweite Weltkrieg seinen Anfang genommen hatte, die doch für Jahrhunderte Stammsitz der Familie Slezak gewesen war.
„Das macht einen Mann hart, Paul, nimm dir daran ein Beispiel und heul hier nicht rum!“
Zum Schluss noch zwei Ohrfeigen, der Griff nach der Bierflasche und die pädagogische Unterweisung war beendet.
Schließlich hatte sich Paul nach zwei Ehrenrunden durch die Volksschule in der Trierer Straße durchgequält, und die Eltern gaben ihn zu einem Bekannten, einem Schlosser in die Lehre, damit er endlich was Vernünftiges lernen könnte.
Aber da kam er vom Regen in die Traufe.
Schlossermeister Grabowski teilte sowohl die Ansichten als auch die Trinkgewohnheiten des Vaters. Er hatte das gleiche Schicksal eines Vertriebenen hinter sich, das ihn nicht nur hart, sondern auch unempfindlich für die Lebensnöte eines Sechzehnjährigen machte.
Und doch gelang es Paul Slezak irgendwie, ohne größere Schäden an Leib und Seele die Lehrzeit zu beenden, und präsentierte seinen Eltern eines Tages stolz den Gesellenbrief, auch wenn dieser keine andere Note als ausreichend enthielt. Der Vater rülpste, warf einen kurzen Blick auf das Dokument und meinte lapidar: „Nix Besonderes!“, um sich wieder seiner Bierflasche zuzuwenden. Die Mutter in ihrer abgetragenen Kittelschürze, verhärmt und hohlwangig, nahm ihn in die Arme, streichelte seinen Kopf und murmelte: „Gut gemacht Jungchen, gutgemacht.“
Verstohlen wischte sie sich die Tränen aus den Augen und widmete sich wieder ihrer Bügelwäsche.
Von da an schien es für Paul Slezak aufwärtszugehen. Da er selbst für die Bundeswehr zu schwach und zu kränklich war (T3), blieb ihm der Wehrdienst erspart, was seinen Vater zu bösartigen Begriffen wie Drückeberger oder Schwächling verleitete und ihn in der Achtung des Vaters noch weiter sinken ließ, sofern das überhaupt möglich war.
Er fand eine Stelle bei Pohlig in Zollstock und arbeitete dort gerne und gut. Er tat, was man ihm sagte, und er war mit seiner kleinen Welt zufrieden.
Dann starb der Vater, er starb überraschend früh und plötzlich, offenbar war es die Leber leid geworden, ständig mit einem Übermaß von Alkohol konfrontiert zu werden und hatte ihre Arbeit eingestellt.
Paul konnte sich trotz aller Mühe nicht zu einer Form von Trauer durchringen und brachte die Beerdigung auf dem Südfriedhof ohne irgendeine gefühlsmäßige Anwandlung hinter sich. Jetzt war in der kleinen Wohnung im Martinsfeld mehr Platz, auch wenn sich die finanziellen Verhältnisse eher noch verschlechtert hatten. Seine Mutter putzte noch mehr, stopfte seine Sachen, bekochte ihn so gut, wie es das schmale Haushaltsgeld zuließ und überließ ihn ansonsten seiner eigenen Welt, und Paul war auch damit zufrieden.
Aber das Schicksal hatte noch einige Überraschungen für Paul auf dem Lager.
Eines Tages erhielt er auf der Arbeitsstelle einen Anruf der Polizei, durch den ihm mitgeteilt wurde, dass seine Mutter auf dem Salierring von einem betrunkenen polnischen LKW-Fahrer überfahren worden sei. Einem Polen – ausgerechnet!
Paul Slezak eilte verstört ins Severinsklösterchen, nur um die dürre Gestalt seiner Mutter ein letztes Mal unter einem dünnen Laken wahrnehmen zu können. Bei der Beerdigung vergoss er die Tränen, die er für den Vater nicht gehabt hatte, und als er in die Wohnung zurückkehrte, fühlte er sich auf einmal allein, richtig allein.
Zum ersten Mal erschien ihm die Wohnung im Martinsfeld viel zu groß und er begann sich darin unwohl zu fühlen. Anderen Menschen würden jetzt ihre Freunde zur Seite stehen, oder ihre Partner.
Aber richtige Freunde hatte er nie gehabt und Beziehungen zum anderen Geschlecht waren ihm völlig fremd, wenn man davon absieht, dass er vor Jahren einmal im Keller einen flüchtigen Blick auf die schmalen Brüste der vierzehnjährigen Nadine aus der Nachbarschaft hatte werfen dürfen, was ihn einen Eisbecher mit vier Kugeln gekostet hatte.
So ging er täglich zur Arbeit, kam abends zurück, wärmte sich etwas in der Mikrowelle auf und verbrachte die restliche Zeit bei Actionfilmen und unsäglichen Talkshows vor dem kleinen Fernseher.
Die Jahre vergingen und Paul Slezak war zufrieden. Mehr hatte er vom Leben nicht erwartet.
Einmal, ja einmal ging er mit Anna, einer ansehnlichen Lageristin aus der Firma ins Kino, aber als er behutsam ihre Brust streicheln wollte, wie er es in den Filmen so oft gesehen hatte, erhielt er eine schallende Ohrfeige und damit waren seine Beziehungsversuche zum weiblichen Geschlecht endgültig beendet. Für das, was er jetzt noch brauchte, war ihm seine Hand genug.
Mehr und mehr besuchte er jetzt abends die gemütliche Eckkneipe in seinem Veedel, nahm an den inhaltsleeren Gesprächen teil und warf Runden und Würfel, um gegen Mitternacht in die leere Wohnung zurückzukehren.
Aber das Schicksal war noch nicht fertig mit ihm.
Kurz vor Weihnachten machte seine Firma dicht und er landete mit den kargen Segnungen des Arbeitslosengeldes versehen im Niemandsland der Arbeitslosigkeit. Eine neue Stelle war nicht zu finden, bei den wenigen Vorstellungsgesprächen wurde seine erbärmliche Erscheinung lediglich mit mitleidigen Blicken bedacht und am Schluss ignorierte er die Vorschläge, die das Arbeitsamt ihm machte, völlig.
Und so ging er den Weg, den so viele vor ihm auch gegangen waren.
Das Geld reichte nicht mehr für die Wohnung, er erhielt die Kündigung und landete auf der Straße. Seine Gläubiger leerten seine Wohnung – das Meiste landete im Müllcontainer – und was er jetzt noch besaß, passte in den alten Seesack, den ihm sein Vater vererbt hatte. Die wenigen enthaltenen Orden und Uniformteile landeten beim Alträucher und sorgten für den Unterhalt der nächsten Tage.
Und von da an ging es steil bergab!
Jetzt waren die Grünanlagen an den Ringen seine neue Heimat, eine Heimat, die er sich mit Alkoholikern, Drogensüchtigen und Kleinkriminellen teilte. Vom Schlossergesellen zum Penner hatte er eine rasante Karriere hingelegt.
Hätte ihn seine Mutter gesehen, sie hätte sich für ihn geschämt. Seine kleine, hagere Gestalt war ungepflegt und strotzte vor Schmutz, er sah unangenehm aus und roch auch so. Wenn er schwarz mit Bahn oder Bus fuhr, achteten die Mitfahrer peinlich genau auf den gehörigen Abstand und verzogen geringschätzig ihr Gesicht.
Seine Kleidung bezog er aus den Kleidercontainern, seine Tätigkeit bestand aus Betteln und Flaschensammeln. Und ab und zu ließ er auch Kleinigkeiten aus den umliegenden Supermärkten mitgehen, sorgsam darauf bedacht, dass er nicht erwischt wurde, was ihm stets gelang. Obwohl er manchmal glaubte, dass er im Klingelpütz, wie die JVA in Ossendorf immer noch bei einigen Betroffenen genannt wurde, besser aufgehoben wäre. Drei Mahlzeiten am Tag, ein warmes Zimmer, Duschen und saubere Kleidung – das waren Dinge, von denen er jetzt allenfalls träumen konnte. Aber wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit, dieses Zitat von Benjamin Franklin hatte er in der Schule vierzigmal abschreiben müssen, weil er die Katze des Hausmeisters in eine Blechkiste gesteckt hatte und so war es ihm dauerhaft im Gedächtnis geblieben.
Und doch, in diesem Winter, der so kalt war und dessen zugige Winde durch seine armselige Kleidung fuhr und seine verbliebenen Zähne klappern ließen, in diesem Winter kam die Wende! Er hatte gerade seinen achtundsechzigsten Geburtstag gefeiert, ohne dass das irgendjemanden interessiert hätte, als das Schicksal beschlossen zu haben schien, ein Einsehen mit ihm zu haben.
Rastlos und frierend schlurfte er durch sein altes Viertel, vorbei an seiner alten Wohnung, in der jetzt laut Klingelschild eine Familie namens Matruskeit wohnte und landete schließlich vor der Pfarrkirche St. Pantaleon.
Als Protestant hatte er diese Kirche, eine der schönsten romanischen Kirchen Kölns, noch nie betreten, obwohl sie nur wenige Meter von seiner alten Wohnung gelegen war.
Aber jetzt schienen ihn der kalte Wind und die dicken Schneeflocken, die sich in der anbrechenden Dunkelheit wie ein Teppich über die Stadt legten, geradezu magisch in die Kirche zu treiben. Zögernd betrat er die Kirche durch einen Seiteneingang und legte den Seesack, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt, auf den Boden hinter die Tür. Seine Augen brauchten eine Zeit, bis sie sich an die Dunkelheit des großen Kirchenraums gewöhnt hatten und es waren zuerst seine Ohren, die den dezenten Klang einer Orgel wahrnahmen. Hätte er sich mit Musik etwas ausgekannt, hätte er vielleicht gewusst, dass es sich um das Deutsche Requiem von Brahms handelte, aber so empfand er die Musik einfach nur als angenehm. Angenehm auch die Atmosphäre von Ruhe, etwas Wärme und der Geruch von Weihrauch, der von der letzten Messe übrig geblieben war und wie ein feiner Schleier im Kirchenraum hing.
Er sah sich um. Er war allein in der Kirche, oder jedenfalls fast allein. Ganz vorne, in der ersten Reihe saß ein Mann in einem schwarzen Anzug, einige Reihen dahinter eine Frau in einem dunkelfarbigen Kostüm, daneben ein älterer Mann in einem dunklen Trenchcoat.
Und er!
Paul Slezak.
Da stand er nun, unschlüssig, was zu tun. Er nahm allen Mut zusammen und ging etwas nach vorne, um sich in eine der letzten Reihen zu setzen.
Und dann erstarrte er. Denn er entdeckte ihn.
Den Sarg!
Vor dem Altarraum stand ein Sarg. Ein kostbares Teil aus massiver Eiche, so viel konnte Paul Slezak von hinten sehen, daneben links und rechts je zwei goldene Kandelaber, deren Kerzen ein warmes Licht spendeten und im Luftzug flackerten.
Eine Totenmesse! Er war in eine Totenmesse geraten, oder so was Ähnliches. Freilich schien der Verstorbene so gut wie keine Freunde oder Bekannte gehabt zu haben, denn außer diesen drei Personen war niemand da, der dem Toten die letzte Ehre erwiesen hätte.
Die Musik endete wenig später abrupt. Der Mann in dem schwarzen Anzug stand auf, stellte sich vor den Sarg und verneigte sich tief. Dann ging er zurück in die Bank, nicht ohne vorher einen schnellen Blick durch den leeren Kirchraum schweifen zu lassen.
Auch die Dame im Kostüm und der Mann in Trenchcoat erhoben sich und taten es dem Mann gleich. Nach einer langen Verbeugung gingen sie zurück durch die Reihen, warfen einen kurzen, anscheinend missbilligenden Blick auf den Penner, der sich da erdreistete, an diesem merkwürdigem Requiem teilzunehmen und verließen die Kirche.
Paul Slezak hätte später nicht sagen können, was ihn so plötzlich getrieben hatte, aber er stand auf, ging die wenigen Meter und stellte sich vor den Sarg. Jetzt erst bemerkte er, dass der Sarg offen war. Ein Mann lag darin, offenbar schon sehr alt, denn schüttere, weiße Haare und ein ebenso weißer Vollbart umrahmten ein schmales Gesicht mit geschlossenen Augen. Das Gesicht war fast maskenhaft geschminkt, die fleckigen Hände waren auf dem Leib gefaltet. Und der Tote trug einen Anzug. Einen dunkelblauen Anzug aus feinstem Stoff, in der Reverstasche steckte ein silbernes Einstecktuch. Der Tote strahlte auch jetzt noch Würde aus, Würde und Autorität.
Slezak verneigte sich, murmelte etwas, weil die anderen das auch getan hatten und ging zurück in die Bank. Er wollte die Kirche noch nicht verlassen. Jetzt noch nicht, denn draußen wartete eine erbarmungslose Kälte und hier drin war es – fast schon gemütlich.
Nach einer Weile stand der Mann im schwarzen Anzug auf und näherte sich Slezak mit langsamen Schritten. Er war groß und von schlanker, aber stattlicher Gestalt. Schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar, das Gesicht bartlos mit einem energischen Kinn, insgesamt eine imposante Erscheinung, die den Obdachlosen erschauern ließ. So sahen die Rechtsanwälte oder Präsidenten in den amerikanischen Filmen aus, die Michael Douglas so meisterhaft verkörperte. Oder Harrison Ford. Oder Kevin Spacey. Er kannte sie alle, hatte ja genug Filme gesehen. Und so einer stand jetzt vor ihm.
Aber was zum Teufel will der von mir?
Der Mann blieb vor ihm stehen und musterte ihn kurz. Dann holte er aus seiner Tasche eine weiße Visitenkarte aus feinster Bütte und überreichte sie Slezak.
„Ich bin Dr. Winter“, sagte er mit einer sonoren Stimme leise, „Rechtsanwalt und Notar des Verstorbenen. Ich würde mich freuen, Sie morgen gegen 12.00 Uhr in meinen Praxisräumen begrüßen zu dürfen.“
Der Anwalt muss das ungläubige Staunen in Slezaks Augen bemerkt haben, denn er fügte eilig dazu: „Sie … äh … Sie sollten wirklich kommen, mein Herr. Es dürfte sich für Sie … lohnen! Verraten Sie mir noch Ihren Namen?“ Slezak brauchte eine Zeit, bevor er sich gefasst hatte und „Slezak, Paul Slezak“, stammeln konnte.
Der Anwalt nickte ihm freundlich zu und verließ die Kirche.
Slezak blieb wie vom Donner gerührt einige Minuten sitzen.
Waaaaas …?
Inzwischen war ein Priester aus der Sakristei in den Altarraum getreten. Er wedelte mit einem Metallding über den Sarg, murmelte offenbar ein Gebet, segnete den Sarg und seinen leblosen Inhalt und verschwand wieder so dezent, wie er gekommen war. All das betrachtete Slezak, dem katholische Riten so unbekannt waren wie das Paarungsverhalten der Erdmännchen, mit großem Erstaunen.
Und wieder öffnete sich die Tür, in der der Priester verschwunden war.
Mehrere Männer traten in den Altarraum. Sie schlossen den Sarg und brachten ihn nach hinten.
Slezak brauchte noch einige Minuten, bevor er mit langsamen Schritten zum Ausgang ging. Er packte seinen Seesack und sah draußen einen Bestattungswagen vor der Tür stehen.
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Zögernd trat er an den Wagen heran und fragte den Gehilfen, der rauchend neben dem Wagen stand: „Eine Frage, der Herr. Wohin … ich meine, wohin bringen Sie den Verstorbenen jetzt hin?“
Der kahlköpfige Gehilfe in einem verschlissenen schwarzen Anzug musterte den Fremden kurz und grinste dann: „Zum Südfriedhof, in die Kühlkammer. Da ist es noch kälter als hier.“ Er lachte kurz rau auf und schnippte die Zigarette weg.
Nachdenklich verließ Slezak das Kirchengelände.
Es war dunkel und spät geworden. Slezak würgte das letzte trockene Brötchen herunter, das sich noch in seinem Seesack befunden hatte und trottete durch das dichter werdende Schneetreiben zu seiner Schlafstelle am Sachsenring. Aber seine Bank war besetzt und es lohnte sich nicht einen Streit anzufangen, denn der neue Besitzer, ein rumänischer Eierdieb, war mindestens einen Kopf größer als er und als Säufer und Schläger bekannt. Wie sein Vater!
So war er froh eine geschützte Stelle im Eingang des nahen Humboldtgymnasiums zu finden.
Er breitete seine Isomatte aus, bedeckte sich mit einer fadenscheinigen Decke und suchte den Trost des Schlafes. Aber seine Gedanken konnten sich nicht von dem Erlebnis in der Kirche trennen. Immer wieder sah er den würdevollen Toten vor sich, den teuren Sarg, die Kandelaber …
Wirre Gedanken begleiteten ihn, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel. Und noch im Traum stand der Mann in schwarzem Anzug vor ihm und winkte ihn mit dem Finger zu sich.
Slezak wachte am frühen Morgen auf, Hunger und Kälte hatten jeden weiteren Schlaf unmöglich gemacht. Er machte sich auf, bevor die Schüler kamen und ihn mit blöden Sprüchen bedenken konnten. Dennoch stattete er der Toilette auf dem Schulhof einen schnellen Besuch ab, wusch sich durch das Gesicht und spülte die üblen Gerüche der Nacht aus dem Mund. Er zog die besten Sachen, die er noch hatte, aus seinem Seesack. Eine alte zerlöcherte Jeans, einen schwarzen, speckigen Pullover und seinen Parka.
Dann holte er die Visitenkarte aus der Tasche und warf einen Blick darauf.
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Er schwankte hin- und her. Soll ich da wirklich hingehen? Es lohnt sich, hat er gesagt. Lohnt sich? Für mich? Wie sollte sich das lohnen? Ich kenn den Mann doch gar nicht. Slezak hatte unwillkürlich den Weg zum Zülpicher Platz eingeschlagen, obwohl es noch viel zu früh war. Ein Blick auf seine Damenuhr, das einzige Erbstück von seiner Mutter, zeigte gerade acht Uhr.
Aber vorher musste er noch etwas zwischen die Kiemen kriegen. Er wühlte in seinen Taschen und fand die karge Ausbeute seiner gestrigen Flaschensuche. Drei Euro achtzig – genug, um in der Bäckerei am Barbarossaplatz ein Brötchen und eine Tasse Kaffee zu ergattern. Der Schneefall hatte aufgehört, aber die Luft war von eisiger Kälte und die dunklen Wolken verhießen weiteren Schnee. Als Kind hatte er sich gefreut, wenn die Flocken vom Himmel rieselten. Manchmal war er zum Volksgarten gegangen und war mit einem geliehenen Schlitten den kleinen Berg hinabgerodelt.
Aber in seiner jetzigen Lage bedeutete Schnee nur Kälte und Feuchtigkeit. Wenn man arm ist, macht auch Schnee keinen Spaß!
Die Mitarbeiterin der Bäckerei am Barbarossaplatz bedachte ihn mit einem arroganten Blick der Feindseligkeit, als sie Brötchen und Kaffee herüberschob und er setzte sich als einziger draußen auf einen Stuhl in den eisigen Wind, um sein karges Frühstück hastig herunter zu schlingen.
Aber er hatte einen Entschluss gefasst.
Während er den letzten Bissen des Leberwurstbrötchens verzehrte und mit dem Rest Kaffee herunterspülte, hatte sich ein Gedanke in seinem Kopf festgesetzt: Er würde den feinen Rechtsanwalt besuchen. Was konnte ihm schon passieren? Wir werden sehen …
Vom Barbarossaplatz zum Zülpicher Platz waren es nur wenige Minuten und so stand er kurze Zeit später vor dem imposanten Gebäude, das im zweiten Stock die Kanzlei Dr. Winter aufwies. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es gerade zehn Uhr war, also viel zu früh.
Aber egal, drinnen war es warm und andere Termine hatte er zurzeit gerade nicht, also herein!
Er klingelte, eine Stimme erklang.
„Notariat Dr. Winter. Haben Sie einen Termin?“
„Nein, äh … ich … ich heiße Slezak, Paul Slezak. Herr Winter, äh … ich meine Dr. Winter hat mir gestern seine Karte gegeben und mir gesagt, ich … ich sollte heute bei ihm vorbeikommen.“
„Sie sind der Herr aus der Pantaleonskirche?“
„Äh … wie? Pantaleonskirche, ja, bin ich.“
Der Türöffner gab ein diskretes Summen von sich.
„Bitte kommen Sie herauf, Herr … Slezak.“
Das Abenteuer konnte beginnen.
Er gestattete sich den Luxus eines Aufzugs und fuhr summend die zwei Stockwerke hoch.
Ein Empfangsraum mit gediegener, aber nicht übertriebener Ausstattung erwartete ihn und eine Empfangsdame in blauem Kostüm, die rötlichen Haare hochgesteckt. Die Dame erinnerte ihn an Sophie Turner, die er aus Game of Thrones kannte, aber sie war wohl doch etwas älter – und nicht ganz so schön.
„Herr Slezak, willkommen in unseren Räumen. Bitte nehmen Sie Platz.“
Sie warf einen Blick auf die Bürouhr, die über ihrem Schreibtisch hing. „Sie sind etwas früh dran. Herr Dr. Winter hat noch einen Termin und ich muss Sie bitten, noch etwas zu warten.
Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
Slezak war es weder gewohnt, dass man ihn so freundlich ansprach, noch hatte ihm jemals einer einen Kaffee angeboten, aber er nickte dankbar, während er seinen Seesack unter einem Stuhl verstaute. Wenig später war er mit Kaffee und Gebäck versorgt, was er beides sichtlich genoss. Er nahm sich eine der Zeitungen, erfuhr zum ersten Mal, was sich in letzter Zeit in der Welt ereignet hatte und stellte fest, dass ihn das alles nicht interessierte.
Es war warm hier und die wenigen Stunden, die er geschlafen hatte, zeigten ihre Wirkung.
Er schlief ein, was die Empfangsdame mit einem milden Lächeln quittierte.
Eine sachte Berührung an der Schulter ließ ihn plötzlich hochschrecken. Eine sanfte Stimme säuselte ihm ins Ohr; „Herr Dr. Winter hat jetzt Zeit für Sie.“
Abrupt setzte er sich auf. Der Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er mehr als eine Stunde geschlafen hatte.
„Oh … wie peinlich.“
„Das macht doch nichts. So konnten Sie die Zeit sinnvoll überbrücken, nicht wahr? Hier entlang bitte.“
Mit einem freundlichen Lächeln wies sie den Weg zum Büro des Anwalts und öffnete die Tür.
Auch hier kein übertriebener Luxus, aber doch holzgetäfelte Wände, eine Wand, die durch ein Bücherregal ausgefüllt war, das bis zur Decke ging. Auf der anderen Seite Bilder, die offenbar Fotos der Familie zeigten und ein Foto, das den Anwalt mit einem anderen Mann zeigte, von dem Slezak keine Ahnung hatte, dass es der frühere Oberbürgermeister war. Die dritte Seite schmückte ein rotes Ledersofa. Vor dem Fenster stand ein ausladender Schreibtisch, der mit Papieren und Akten beladen war.
Dr. Winter, der hinter dem Schreibtisch gesessen hatte, stand auf, ging um den Schreibtisch herum und gab dem Besucher mit einem freundlichen Lächeln die Hand.
„Herr Slezak, nicht wahr? Wir kennen uns aus der Kirche.“
Slezak schüttelte die dargebotene Hand und nickte nur stumm.
„Bitte nehmen Sie Platz.“ Er deutete auf den Lehnstuhl der vor dem Schreibtisch stand, und nahm wieder seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein.
„Sicher werden Sie wissen wollen, weshalb ich Sie hergebeten habe, nicht wahr?“
„Äh … ja.“
„Nun, die Sache ist so. Ich vermute, Sie kannten den Verstorbenen in der Kirche nicht, oder?“
Slezak schüttelte den Kopf.
„Und Sie waren in der Kirche, weil …“
„… weil mir kalt war.“ Slezak räusperte sich und der Anwalt lächelte verständnisvoll.
„Das habe ich mir schon gedacht. In diesem Fall aber war es für Sie ein … nennen wir es glücklicher Umstand.“ „Umstand? Wieso?“
„Der Verstorbene war ein sehr erfolgreicher Unternehmer. Sein Name tut jetzt hier nichts zur Sache und wir lassen ihn einstweilen aus. Kurz vor seinem Tod hat er sich einen Lebenswunsch erfüllt und eine mehrwöchige Afrikareise unternommen, von der er ziemlich krank zurückgekommen ist. Einige Wochen später ist er gestorben, möglicherweise hat er sich in Afrika eine Infektion zugezogen. Die Ärzte suchen noch nach der Ursache.“
Er machte eine kurze Pause und faltete die Hände wie zum Gebet.
„Aber das braucht Sie nicht zu interessieren. Wichtiger für Sie dürfte Folgendes sein: Er hinterlässt keine Kinder und seine drei Ehefrauen, mit denen er zeitlebens verheiratet war, wurden großzügig abgefunden. Weitere, erbberechtigte Verwandte gibt es nicht. Überdies war er sehr vermögend und hat über die Verteilung seines Vermögens nach seinem Ableben genaue Verfügungen getroffen.“ Slezak nickte stumm und verstand nichts. Insbesondere verstand er nicht, was das alles mit ihm zu tun haben könnte. Der Anwalt schlug die vor ihm liegende Akte auf.
„Er hat verfügt, dass die Hälfte seines Vermögens an eine Stiftung der Partei geht, in der er vierzig Jahre Mitglied war.“
Er machte eine kurze Pause und blickte seinen Besucher durchdringend an.
„Die andere Hälfte soll an diejenigen gehen, die in der Kirche sein Requiem besucht haben!
Mich natürlich ausgenommen, da ich äh … in Ausübung meines Amtes da war.“
Der Anwalt gestattete sich ein dünnes Lächeln.
„Er muss vermutet haben, dass es nicht allzu viele sein würden. Seine unternehmerischen Tätigkeiten haben ihm wenige Freunde gemacht!“
Er trommelte dezent mit den Fingern auf dem Schreibtisch und lächelte wieder geschäftsmäßig.
Slezak blickte in verständnislos an.
„Wie Sie festgestellt haben, befanden sich außer meiner Person lediglich drei Personen in der Kirche. Die eine, die Dame, war seine langjährige Haushälterin“, wieder eine kurze Pause, „die andere Person war sein Gärtner und die dritte waren … Sie!“
Er trank einen Schluck aus einem Wasserglas.
„Ich?“ Slezak stammelte nur. „Aber ich kannte ihn ja gar nicht.“
„Das spielt keine Rolle. Ich habe Ihnen seine letztwillige Verfügung genannt. Diese drei Personen erben die Hälfte des genannten Nachlasswertes. Möchten Sie vielleicht einen Cognac?“
„Cognac? Ja, gerne.“
Der Anwalt stand auf, holte eine Flasche und einen Schwenker aus dem Schrank und goss großzügig ein. Slezak zögerte nicht lange und leerte das Glas fast in einem Zug, was Dr. Winter mit einem nachsichtigen Lächeln quittierte. Der Cognac hatte Mut gemacht.
„Und wie hoch … ich meine wie viel …?“, er unterbrach seine Rede und schlürfte den letzten Rest aus seinem Glas.
„Auf drei Personen verteilt sprechen wir hier von ziemlich genau von“, er räusperte sich, „zwölf Millionen Euro, also vier Millionen pro Erbe!“
Der Anwalt sah noch, wie sein Besucher die Augen verdrehte, dann sank er in Zeitlupe von seinem Stuhl. Das Cognacglas segelte auf den Teppich und zerbrach.
„Herr Slezak, hallo, aufwachen!“
Die Stimme eines Engels schien ihn zu wecken, der altbekannte Duft von 4711 wehte um seine Nase. Er öffnete die Augen. Der Engel war hübsch, hatte rötliche Haare wie Sophie Turner und lächelte ihn mit strahlend weißen Zähnen an.
„Äh … was? Wo bin ich? Bin ich im … Himmel?“
„Nein, noch nicht. Das hat noch Zeit. Sie sind in meinen Amtsräumen und die unverhoffte Nachricht hat Ihnen eine kleine Ohnmacht beschert.“ Das war nicht der Engel, diese sonore Stimme kannte er. Er setzte sich auf. Er lag auf dem roten Ledersofa und blickte den Anwalt an. „Es … es tut mir leid. Aber Sie müssen verstehen …“
„Natürlich verstehe ich das. Wer erbt schon so unverhofft eine solche Summe, zumal wenn er in einer so … äh … prekären Lage ist wie Sie, nicht wahr? Das kann einen schon mal umhauen.“
Slezak nickte und stand auf.
„Trotzdem …“
„Würden Sie bitte noch einmal Platz nehmen, Herr Slezak. Es gibt nämlich noch etwas, was ich Ihnen mitzuteilen habe.“
Slezak blickte ihn fragend an und nahm seinen alten Platz wieder ein, während der rothaarige Engel dezent den Raum verließ. Auch die Reste des zerbrochenen Cognacschwenkers waren auf wundersame Weise verschwunden.
Der Anwalt blickte ihn wohlwollend an, faltete seine Hände zu einer Raute, wie man es von der Bundeskanzlerin kannte und fuhr fort. „Der Verstorbene hat in seiner Verfügung an die Auszahlung der Erbschaft noch eine Bedingung geknüpft.“
„Bedingung? Was für eine Bedingung?“
„Der Verstorbene erwartet, dass die Erben, in diesem Falle sind es ja nur drei, an seiner Beerdigung teilnehmen, die morgen stattfindet.“
„Beerdigung? Natürlich … äh ja, ich komme natürlich zur Beerdigung. Kein Problem.“
Der Anwalt nickte. „Aber die Bedingung setzt ebenfalls voraus, dass die Erben in tadelloser Kleidung teilnehmen.“ Er musterte den Besucher dezent und ergänzte: „In diesem Fall dürfte ein blauer oder schwarzer Anzug als angemessen gelten.“
„Ein Anzug?? Aber woher soll ich den denn nehmen? Meinen Sie, Sie könnten eine kleine äh … Vorauszahlung leisten, damit ich mir …?“
Der Anwalt schüttelte den Kopf. „Davon ist in der Verfügung leider nicht die Rede. Ich verstehe Ihr Problem, aber ich fürchte, Sie müssen es allein regeln. Und lassen Sie mich noch ergänzen: Erfüllt ein Erbe diese Bedingung nicht, so fällt sein Anteil an das örtliche Tierheim.“
Er stand auf und reichte Slezak die Hand. Slezak verstand. Die Unterredung war zu Ende.
Und Slezak wusste, dass er ein Problem hatte, ein Riesenproblem!
Dichter Schneefall hatte eingesetzt und Paul Slezak suchte Schutz in einer Toreinfahrt, während die Gedanken in seinem Kopf tobten.
Einen Anzug? Woher krieg ich so einen Scheißanzug? Und vier Millionen? Mein Gott, wie verrückt ist das denn? So viel kann ich ja im Leben nicht ausgeben. Aber wenn ich keinen Anzug habe, ist das Geld futsch. Zu irgendeinem blöden Tierheim. Und dann kann ich …
In diesem Augenblick passierte ein Leichenwagen die Toreinfahrt. Slezak registrierte den Wagen nur aus dem Augenwinkel, aber es fuhr wie ein Blitz durch seinen Kopf. Eine Szene setzte sich wie festgenagelt in seinem Kopf fest.
Kirche.
Sarg.
Toter.
Anzug!
Der Verstorbene hatte im Sarg einen solchen Anzug getragen. Der Mann war von etwa gleicher Statur und Größe gewesen. Der Anzug müsste passen und – ehrlich – er würde ihn ja nicht mehr brauchen.
Aber wie komme ich an den Anzug? Hatte der Typ am Leichenwagen nicht gesagt, dass der Verstorbene im Kühlhaus auf dem Südfriedhof aufbewahrt werde.
Selten war ein Plan in seinem Kopf so schnell gereift wie in diesem Augenblick. Er musste aber noch etwas Zeit überbrücken, denn für sein Vorhaben war Dunkelheit eine absolute Voraussetzung. Er tigerte also in die Stadt und verbrachte den Nachmittag in der Wärme einiger Kaufhäuser, stets argwöhnisch beobachtet von einigen Hausdetektiven. Im Kaufhof gab es gerade eine Französische Woche und es gelang ihm, mit Hilfe etlicher Probehäppchen und diverser Weinverkostungen Hunger und Durst in ausreichendem Maße zu stillen. Als er den Kaufhof verließ, war es bereits stockdunkel und seine Damenuhr stand auf Viertel nach acht. Gut gelaunt stapfte er durch den tiefer werdenden Schneematsch zur nahen Straßenbahnhaltestelle. Ein Zug der Linie 12 brachte ihn in kaum mehr als zwanzig Minuten zum Südfriedhof, wobei seine Hoffnung, dass in der Bahn um diese Zeit weniger kontrolliert wurde, nicht enttäuscht wurde.
Natürlich hatte der Friedhof zu dieser Zeit schon geschlossen, aber das stellte kein Hindernis dar. Die niedrige Mauer war schnell überwunden und er stand neben der Leichenhalle, die sich an die achteckige Trauerhalle im neuromanischen Stil anschließt und auch schon mehr als hundert Jahre alt ist.
Die Gebäude waren ihm von der Beerdigung seiner Mutter bestens vertraut und auch die Öffnung des Gebäudes stellte für einen gelernten Schlosser kein Problem dar. Das dazu nötige Werkzeug befand sich ebenso in seinem Seesack wie eine kleine Taschenlampe. Mit einem leichten Knarren öffnete er die Tür der Leichenhalle, wo ihn sofort eine Kälte empfing, die die Außentemperaturen noch deutlich überstieg. Vier Särge standen vor ihm, die auf eine Bestattung am nächsten Tag warteten. Aber den Sarg, den er suchte, fand er direkt, es war der teuerste und prächtigste. Er brauchte noch nicht einmal seine Taschenlampe, denn das diffuse Licht der Außenbeleuchtung reichte vollkommen aus.
Ohne größere Mühe konnte er den Sarg öffnen und fand sich mit jenem würdigen Gesicht konfrontiert, das er aus der Kirche kannte. Da der Verstorbene zu Lebzeiten ein Leichtgewicht gewesen war, gelang es Slezak, ihn ohne größere Mühe aus dem Sarg zu hieven. Etwas schwieriger war es da schon, den Toten seines edlen Anzugs zu berauben. Mit Erstaunen stellte Slezak fest, dass auch Tote offenbar Unterwäsche trugen. Merkwürdig aber auch, dass Arme und Beine des Verstorbenen von dunklen Flecken überzogen waren. Egal, das konnte ihn jetzt nicht interessieren.
Er entledigte sich blitzschnell seiner ärmlichen Kleidung – die würde er nie mehr brauchen – stopfte sie in den Sarg und zog den blauen Anzug des Toten an. Passte perfekt! Jetzt den Verstorbenen wieder in den Sarg legen und den Sarg sorgsam verschließen.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Trotz der Kälte war er ins Schwitzen gekommen, wobei es weniger die Arbeit selbst als die Ungewöhnlichkeit seiner Tätigkeit war, die ihn ins Schwitzen gebracht hatte.
Er verließ den Friedhof auf dem gleichen Weg, auf dem er ihn betreten hatte. Dabei begleiteten ihn ein Hochgefühl und eine Euphorie, die er zeitlebens nie gekannt hatte.
Zur gleichen Zeit, als Paul Slezak glücklich nach einer passenden Unterkunft suchte, wurde Rechtsanwalt Dr. Winter durch einen Telefonanruf bei seiner abendlichen Patiencerunde gestört.
„Entschuldigen Sie die Störung, Herr Dr. Winter, aber es ist wichtig. Sehr wichtig!“
„Herr Professor Menke“, er verzog ob der späten Störung missmutig sein Gesicht, „hätte das nicht bis morgen Zeit gehabt?“
„Nein, hätte es nicht!“
„Nicht?“
„Nein! Wir haben jetzt in unserem Institut nach aufwändigen Untersuchungen die Todesursache Ihres Mandanten herausgefunden.“
„Aha!“
„Ja, er ist am Ebola-Virus gestorben. Einer höchst infektiösen Krankheit, die er sich offenbar auf seiner Afrikareise zugezogen hat.“
„Ebola?“, murmelte Winter.
„Ja, eindeutig. Ebola ist eine Infektionskrankheit, die durch Viren der Gattung Ebolavirus hervorgerufen wird. Die Bezeichnung geht auf den Fluss Ebola im Kongo zurück, in dessen Nähe diese Viren 1976 den ersten allgemein bekannten großen Ausbruch verursacht hatten.“ Jetzt war Professor Menke ganz in seinem wissenschaftlichen Element.
„Diese Krankheit ist höchst gefährlich und ansteckend. Sie kann von erkrankten Menschen durch Körperflüssigkeiten wie Blut, Schweiß oder Urin oder von kontaminierten Gegenständen unmittelbar auf den Menschen übertragen werden. Die Letalität, also die Sterblichkeitsrate liegt bei bis zu neunzig Prozent.“
„Aber …“
„Sie sollten weiter zuhören, mein Bester. Die Inkubationszeit ist schon ab zwei Tagen nachgewiesen. Das Ganze ist höchst gefährlich und daher natürlich meldepflichtig.“ „Meldepflichtig? Lieber Professor, der Mann ist tot und morgen ist seine Beerdigung. Er liegt in einem verschlossenen Sarg, wen soll er also anstecken?“
„Aber …“
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, mein Bester. Wir vergessen diese Angelegenheit und ich lasse Ihrem Institut aus dem Nachlass des Verstorbenen eine größere Summe zukommen. Das wäre sicher in seinem Sinne.“
Auf der anderen Seite herrschte kurzes Schweigen.
„Einverstanden, aber wir müssen sichergehen, dass der Sarg nicht mehr geöffnet wird und es keinen Kontakt mehr zur Außenwelt gibt.“
„Das garantiere ich Ihnen, Professor.“
„Der Inhalt des Sarges ist so infektiös, dass man sich schon infizieren würde, wenn man nur mit der Kleidung des Toten in Berührung käme.“
„Alles klar, Professor, ich habe verstanden. Aber niemand“, er kicherte leise, „wird den Anzug des Toten mehr tragen.“
Aber darin irrte sich der gute Anwalt. Als er am nächsten Morgen Paul Slezak im feinen blauen Anzug bei der Beerdigung, an der lediglich die wenigen Personen aus der Kirche teilnahmen, sah, wunderte er sich zwar nicht wenig über den feinen Anzug des Mannes, aber er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass sein verstorbener Mandant lediglich in seiner Unterwäsche begraben wurde.
Nach der Beerdigung wurde ein Treffen zur Regelung der Modalitäten und Auszahlung des Erbanteils in vierzehn Tagen vereinbart.
Frohen Mutes zog sich Slezak in eine Schrebergartensiedlung in Zollstock zurück, die er als sicheres Ausweichquartier kannte. Nach der Beerdigung hatte es einen kleinen Imbiss gegeben, dem er reichlich zugesprochen hatte und der Rest hatte Platz in seiner Jackentasche gefunden. Er lehnte sich entspannt zurück und während er überlegte, was er mit vier Millionen Euro anfangen könnte, dämmerte er langsam ein. Aber schon nach kurzer Zeit wurde er wach, weil er ein Jucken und Kratzen am Körper verspürte. Er schwitzte und fühlte nach seiner Stirn, die sehr heiß war. Vielleicht habe ich mir eine Grippe eingefangen, dachte er, kein Wunder bei dem Wetter. Langsam glitt er in einen unruhigen Schlaf …
Zwei Tage vor dem vereinbarten Treffen wurde Paul Slezak mit Anzug und Seesack tot in einer Schrebergartensiedlung in Zollstock aufgefunden. Die Ärzte gaben sich nicht viel Mühe mit einer möglichen Diagnose. Slezak wurde zwei Tage später auf Kosten der Stadt Köln eingeäschert.
Wenig später erhielt das Tierheim in Köln Zollstock unverhofft eine mehr als ansehnliche Spende.