Читать книгу Krisenfälle – Insolvenzen hautnah - Rolf-Dieter Mönning - Страница 6

Nur Spaß

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BAWICO stellte Ketten her. Und das seit mehr als 100 Jahren. Aus der Barth & Wirtz KG war im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des 1945 nahezu vollständig zerstörten Fabrikgebäudes die BAWICO GmbH geworden. Mit dem Eintritt des inzwischen betagten Geschäftsführers Schreiber, der nicht mehr weit von seinem achtzigsten Lebensjahr entfernt war, hatte es 1967 die letzte Anpassung des Gesellschaftsvertrages gegeben. Schreiber, ein entfernter Verwandter des Firmengründers Johannes Barth und Unternehmer alter Schule, bemühte sich nach Kräften, den in einem Flusstal gelegenen Kettenhersteller zu erhalten. Wie er war das ganze Unternehmen in die Jahre gekommen, ein Großteil der fast 350 Mitarbeiter überaltert, ebenso wie der Maschinenpark, die Gebäude und das Mobiliar im Bürotrakt.

Als ein in der Nähe von Pforzheim ansässiger Kunde Insolvenz anmelden musste, bedeutete das für BAWICO einen Ausfall von einer Viertelmillion Euro. Schreiber war klar, dass er Löhne und Gehälter des laufenden Monats nicht mehr würde bezahlen können. Als gewissenhafter Mensch hatte er sich umfassend informiert, wusste um die Haftungsrisiken eines Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung und kannte die Segnungen des Insolvenzgeldes, das ihn für maximal drei Monate liquiditätsmäßig enorm entlasten konnte, da das Arbeitsamt in dieser Zeit für die Löhne aufkommen würde. Mit Hilfe eines Insolvenzverwalters, so seine Überlegungen, konnte er vielleicht auch den dringend notwendigen Personalabbau betreiben. Denn dies wäre die entscheidende Voraussetzung für eine Veräußerung des Unternehmens. Sein holländischer Geschäftspartner Timmerman, der das in S’Hertogenbosch ansässige Unternehmen TISCO leitete, lag ihm schon seit Jahren in den Ohren. Er konnte sich die Übernahme von BAWICO vorstellen, aber bestenfalls mit der Hälfte der Belegschaft. Und auch in Holland hatte sich herumgesprochen, dass das deutsche Arbeitsrecht Sanierungen nahezu unmöglich machte, weil man sich immer von den falschen Leuten trennen musste, wenn es galt, die Belegschaft zu verkleinern.

Der langjährige Hausanwalt hatte Schreiber aufgeklärt und erläutert, einen Personalabbau in dieser Größenordnung schaffe man nur mit Hilfe des Insolvenzrechts. Nur der Insolvenzverwalter konnte einen Interessenausgleich durchsetzen, der den Betriebsrat zwingen würde, eine Namensliste mit den zu kündigenden Mitarbeitern zu akzeptieren, deren Kündigungen dann nicht mehr als sozialwidrig gelten würden. Und auch der Sozialplan, Schreckgespenst aller Investoren, würde im Insolvenzverfahren nur einen Bruchteil dessen kosten, was ansonsten als Abfindungsleistungen zu stemmen wäre.

Noch waren die Kundenbeziehungen intakt. Und deshalb sah Schreiber in der Insolvenzanmeldung nicht den Tod des bürgerlichen Kaufmanns, sondern eine echte Chance. So hatte er es neulich auch in der Wochenendbeilage einer großen Tageszeitung gelesen. Der Artikel endete mit der Empfehlung, nicht zu lange zu warten, sondern den Instrumentenkasten des Insolvenzrechts so früh wie möglich zu nutzen. Sogar Eigenverwaltung war möglich. Aber das mochte sich Schreiber nicht antun.

Unmittelbar nach Einleitung des Insolvenzverfahrens, noch am Tage der Antragstellung, machte ich den Erstbesuch. Anhand von Mustern zeigte mir Schreiber, korrekt in Anzug und Krawatte, die unterschiedlichen Kettentypen. Panzerketten für die Schmuckherstellung aus feinen Drähten in einer Dicke von 5 mm bis 15 mm, deren Glieder in sich verdreht sind, damit sie flach aufliegen, Ankerketten und Gliederketten in allen möglichen Dimensionen und Formen.

„Wir produzieren sowohl für die Schmuckindustrie als auch für die Technik, sind also breit aufgestellt und verfügen über eine verlässliche Kundschaft“, war Schreibers Fazit am Ende seines Vortrags. Die Zahlen zeigten aber eine beunruhigende Entwicklung. Von Jahr zu Jahr waren die Umsätze rückläufig. Schreiber verwies auf die asiatische Konkurrenz, wie jeder Unternehmer, der in Schwierigkeiten steckte. Seit drei Jahren waren Verluste zu verzeichnen, das Eigenkapital ging gegen Null. Gegen die Eintragung weiterer Grundpfandrechte auf dem Betriebsgelände und Abtretung aller Forderungen gegen Kunden, hatten die kreditierenden Banken nochmals stillgehalten, aber auch klar gemacht, dass eine weitere Begleitung, ohne tiefgreifende Änderungen und vor allem einen neuen Partner, nicht mehr vorstellbar wäre. Schreiber musste inzwischen monatlich berichten.

Nach unserem Gespräch führte er mich durch die Räume. In den Büros der Charme der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, ein wenig aufgemöbelt durch Bildschirme, die belegten, dass zumindest in Teilbereichen der Schritt in die Neuzeit vollzogen war. Immerhin grünte es gewaltig. In jeder Ecke und auf fast jedem Schreibtisch standen Grünpflanzen. Auch die Ordnung stimmte. Sorgfältig beschriftete Akten, eine klare Gliederung der einzelnen Abteilungen und Bereiche, die Mitarbeiter des Einkaufs und des Vertriebs saßen Tür an Tür.

Der Betriebsrat verfügte über ein eigenes Büro und war bestens ausgestattet. Der Betriebsratsvorsitzende mit dem treffenden Namen Kummer zeigte mir stolz einen aktuellen Insolvenzrechtskommentar, bei dem ich als Autor eines größeren Kapitels beteiligt war.

Betriebsräte musste man sich warmhalten. Damit hatte ich auch keine Probleme. Denn schon der Großvater väterlicherseits war vor dem Krieg nicht nur Mitglied der KPD, sondern auch längere Zeit Betriebsratsvorsitzender eines Solinger Messerherstellers gewesen. Die Urlaubsreisen hatte ich mir auch durch die Herstellung von Siebblechen während der Semesterferien verdient und war in dieser Zeit in die IG-Metall eingetreten. Die örtlichen Bevollmächtigten behandelten mich zwar nicht wie einen der ihren, respektierten mich aber, so dass wir normalerweise immer zu vernünftigen Ergebnissen kamen. Auch wenn es einmal weh tat und Mitarbeiter in größerem Umfang einer Sanierung zum Opfer fielen.

So bat ich Kummer, uns auf dem Rundgang zu begleiten. Schreiber sagte nichts, ich merkte aber, dass ihm das nicht recht war. In seiner Welt gab es ganz klar getrennte Ebenen.

Der Rundgang führte durch ein Industriemuseum. Biegemaschinen, Richtmaschinen, Abschneidemaschinen und Ziehmaschinen, alles, was benötigt wurde, um Draht zu bearbeiten, war vorhanden. Aber aus der Zeit der Mechanik, nur ganz vereinzelt, gab es, und dann stolz vorgeführt vom Geschäftsführer, eine computergesteuerte Anlage. Und die auch nicht mehr ganz neu, sondern aus der Insolvenz eines in der Nähe ansässigen Betriebes erworben. Sogar Drahtbiegemaschinen der Firma Hündgen waren vertreten. Hündgen, mein erster großer Fall vor Ewigkeiten. Darüber hatte sogar der Spiegel berichtet. Weil wir damals das Konkursausfallgeld mit Hilfe der Sparkasse vorfinanziert hatten, was nunmehr gang und gäbe, damals aber noch außergewöhnlich war. Und saniert worden war Hündgen unter Einbeziehung einer Mitarbeiterbeteiligungsgesellschaft, die sich an der Auffanggesellschaft, mit deren Hilfe eine übertragende Sanierung durchgeführt wurde, beteiligte. Der Erfolg war nur von kurzer Dauer. Längst gab es das Unternehmen nicht mehr. Aber seine Maschinen taten immer noch ihren Dienst.

Am Ende der Betriebsbesichtigung führte mich Schreiber in die Galvanik. Unsere Hexenküche, wie er meinte. Wannenbäder aus Stein, aber auch vierstufige Bäder aus Metall. Fässer mit Chemikalien. Arbeiter mit Gummistiefeln und schweren Gummischürzen. In einem kleinen Raum versteckt eine ebenfalls nicht mehr ganz neue Wasseraufbereitungsanlage.

„Die Anlage ist leider unterdimensioniert. Wir müssen das Prozesswasser zunächst in Außenbecken zwischenlagern und vorbehandeln, bevor wir es aufbereiten und am Ende in den Fluss leiten können.“

Ich schaute auf die in den Boden eingemauerten Auffangbecken, die mit Holzbohlen abgedeckt waren. Darunter blubberte das belastete Abwasser, das noch aufbereitet werden musste. Ich erfuhr, dass die Chemikalien für die Wasseraufbereitung ein großer Kostenfaktor waren und deshalb das Budget enorm belasteten.

„Und die Behörden tolerieren diese Form der Handhabung?“, wunderte ich mich nicht zuletzt mit Blick auf die teilweise durchbrochenen Abdeckungen.

„Es gibt traditionell gute Beziehungen zu den Ämtern. Aber bevor wir Abwasser in den Fluss einleiten dürfen, müssen wir schon sorgfältig arbeiten, denn an den Einleitungsstellen hängen Messgeräte, die sofort Alarm schlagen.“

Zurück im Gebäude schlug ich dem Betriebsratsvorsitzenden vor, die Mitarbeiter zu Dienstschluss kurzerhand in der Kantine zu versammeln, um erste Informationen zu erteilen. Wenig Zeit später kam Kummer wieder zurück. Er hatte mit der Gewerkschaft gesprochen. Der zuständige Bevollmächtigte wollte unbedingt an einer Betriebsversammlung teilnehmen und bestand zudem auf formeller Einladung, Ankündigung und Mitteilung der Tagesordnung.

„Dann mache ich eben nur eine Informationsveranstaltung. Zur Betriebsversammlung können Sie dann als Betriebsrat einladen. Von mir aus nächsten Freitag.“

Schon bald tauchten die holländischen Geschäftspartner auf. Schreiber hatte mir eingeschärft, diese zuvorkommend zu behandeln. Sie hätten ein echtes Übernahmeinteresse und auch das notwendige Geld und Knowhow. Mir war aufgefallen, dass TISCO auch mit einem namhaften Betrag in der offenen Postenliste vertreten war. Rechnungen von BAWICO in Höhe von über 1,2 Mio. € waren zum Teil schon überfällig.

Im Grenzland galt die Warnung: Glaubst Du, du hättest ein gutes Geschäft mit Holländern gemacht, dann waren es entweder keine Holländer oder kein gutes Geschäft. Ich war also auf der Hut, als die Herren Timmerman und Brouwers im Büro von Schreiber Platz genommen hatten. Kaffee hatte ich in ausreichender Menge geordert. Das war bei Verhandlungen mit Holländern immer eine wichtige Voraussetzung für ein ordentliches Verhandlungsklima.

Timmerman bat darum, das Gespräch zunächst ohne den Geschäftsführer zu führen, der daraufhin sichtlich erstaunt den Raum verließ.

Ohne Umschweife legte mir Timmerman ein Papier vor, das mit „Vorvertrag“ überschrieben war. Darin verpflichteten sich Schreiber und seine Cousine Anneliese Braun als Gesellschafter von BAWICO zur Übertragung ihrer Geschäftsanteile zum symbolischen Preis von 1,-- € an die Niederländer. Die einzige Gegenleistung sollte darin bestehen, dass die Erwerber dafür sorgten, dass die Banken die ihnen abgetretenen Lebensversicherungen der beiden Gesellschafter freigaben. Dies aber nur dann, wenn der notwendige Personalabbau weniger als 500.000,-- € an Abfindungen und Sozialplanansprüchen kosten würde. Wirksam werden sollte die Vereinbarung erst dann, wenn der Personalabbau auf etwa 150 Mitarbeiter umgesetzt war. Wer das bezahlen sollte, stand in dem Vorvertrag nicht.

Für Timmerman war klar, dass das nicht zu seinen Lasten gehen sollte. Er sah die Gesellschafter in der Pflicht.

„Also holländisch kaufen?“, fragte ich eher rhetorisch. „Kleinster Einsatz, größter Profit!“

In wenigen Worten erläuterte ich den Gesprächspartnern, dass der Vorvertrag nichts wert sein würde, weil er der notariellen Beurkundung bedurft hätte. Ein Unternehmenskauf könnte frühestens nach Verfahrenseröffnung erfolgen. Dann aber zu angemessenen Preisen, nach vorheriger Bewertung sämtlicher Vermögensgegenstände. Meine Auskünfte schlugen den Holländern offensichtlich aufs Gemüt. Zur Aufmunterung wies ich darauf hin, dass der erforderliche Personalabbau vor Vertragsschluss unter Nutzung der durch das Insolvenzrecht gewährten arbeitsrechtlichen Erleichterungen erfolgen könnte.

Timmerman und sein Brouwers wollten sich beraten, Anwälte hinzuziehen und sich dann wieder melden.

„Vergessen Sie nicht, TISCO ist als Händler der größte Kunde.“ Ich wusste nicht recht, ob das eine Drohung oder lediglich eine Tatsachenfeststellung war.

Schreiber wollte wissen, ob ich eine Zusage erhalten hatte, wann TISCO die offenen Forderungen ausgleichen würde. Das hatte ich ganz vergessen. Die Liquiditätslage war besorgniserregend, die Handlungsspielräume daher sehr begrenzt.

„Wir brauchen die Zahlungen, mindestens 350.000,-- €, sonst hilft uns auch das Insolvenzgeld nicht“, so Schreibers Einschätzung. Als erstes würde die Galvanik stillstehen, wenn wir kein Geld für Chemikalien hätten, der größte Kostenfaktor nach dem Einkauf von Draht.

Die Lage verschärfte sich von Tag zu Tag. Auf telefonische Rückfrage behauptete Timmerman, man habe eine Vielzahl von Kundenreklamationen. Bei den Schmuckketten wäre die Beschichtung nicht in Ordnung. Da man Regressforderungen fürchten müsste, könnte man natürlich auch selbst keine Zahlungen leisten. Mir war klar, der Übernahmepoker hatte begonnen.

Aber auch der Betriebsleiter war besorgt. Aus dem Chemieunterricht wusste ich, dass man unter Galvanisieren das Auftragen einer dünnen Schicht eines Metalls mit Hilfe eines elektrischen Stroms auf ein anderes Metall verstand. Metallüberzüge, die durch Elektrolyse der entsprechenden Salzlösungen erzielt werden. Betriebsleiter Esser redete wie mit einem Fachmann. Kathode, Anode, positiv geladene Metallionen, Grundlagen der Elektrolyse, Besonderheiten bei der Beschichtung mit Kupfer, Nickel, Silber oder Chrom. Ich versuchte, zu folgen. Er erklärte mir die verschiedenen Vorbehandlungen wie Reinigen, Entfetten unter Verwendung von Lösungsmitteln, dann das eigentliche Galvanisieren, anschließend spülen, passivieren und trocknen. Mir fiel die zehnte These zur Verteidigung meiner Dissertation an der Universität von Maastricht ein: Ein Insolvenzverwalter ist ein Mensch, der von immer mehr immer weniger weiß, bis er zum Schluss von allem nichts mehr weiß. Jetzt musste ich versuchen, mir wenigstens die Grundlagen anzueignen, damit ich die Problematik verstand.

„Das größte Problem ist das anfallende Schmutzwasser und seine Aufbereitung“, fuhr Esser fort. „Fast alle Substanzen, die während des Verfahrens verwendet werden, fallen im Schmutzwasser an. Cyanide, giftige Metalle, saure Lösungen und jede Art von Lösungsmitteln, es ist daher hoch belastet, auch mit Schwermetallen und Fluoriden. Dazu Öle und Fette.“

Ich verwies auf die Wasseraufbereitungsanlage, die mir Schreiber schon gezeigt hatte. Dies verursachte bei Esser lediglich ein müdes Lächeln. Das ist eine Anlage, die schon längst ins Museum gehörte, so seine Einschätzung.

Er erläuterte im Detail, dass jeder Betrieb, der Abwasser einleitet, zur Selbstüberwachung verpflichtet wäre. Dazu zählten die laufende Dokumentation der betrieblichen Vorgänge, also vor allem die Abläufe in der Galvanik und die Zusammensetzung der Stoffe, die eingeleitet wurden, natürlich unter strikter Einhaltung der Grenzwerte. Regelmäßig mussten alle Aufzeichnungen und Berichte der zuständigen Behörde zur Prüfung vorgelegt werden.

„Die Abwassermenge und die Zusammensetzung müssen wir also selbst prüfen. Dazu haben wir Messgeräte angebracht, entnehmen aber auch Proben.“

Die Becken fungierten als eine Art Puffer. Hier erfolgte sowohl die Vor- als auch die Nachbehandlung, da die Aufbereitungsanlage ja noch den technischen Stand des letzten Jahrhunderts repräsentierte. Mit Nachdruck wies Esser darauf hin, dass es angesichts der verschärften Überwachung, hoher Bußgelder und sogar der Gefahr des strafbaren Handelns darauf ankam, sich innerhalb der Einleitungsgenehmigung zu bewegen, also sorgfältig darauf zu achten, keine wassergefährdenden Stoffe in den Fluss zu leiten. Die Aufbereitung erfolgte chemischphysikalisch, aber auch mechanisch durch Rührwerke und Siebe in den Auffangbecken. Mir wurde klar, dass es zur Einhaltung der Grenzwerte keine Alternative gab, obwohl ich mir unter den Fachbegriffen wie Fällung, Flockung und Sedimentation nichts vorstellen konnte. Am Ende nahm ich mit, dass die Überwachung mit der Zeit immer schärfer geworden war.

„Früher hatten wir zu den zuständigen Mitarbeitern gute Kontakte, die drückten auch schon mal ein Auge zu. Die jungen Leute hingegen sind schmerzfrei. Da gibt es keinen Rabatt.“

Mit einem Vortrag über Grenzwerte, vor allem über die Folgen einer Überschreitung des Nickelgrenzwertes, schloss er seine Ausführungen. Immerhin wusste ich jetzt, wir brauchten Chemikalien. Sonst gab es Probleme bei der Einhaltung der Einleitgrenzwerte. Die Becken würden überlaufen und um das zu verhindern, müsste man die Galvanik stilllegen, zumal uns ohnehin die Einsatzstoffe für die Beschichtung ausgingen.

Freitags drauf fand die Betriebsversammlung statt.

„Wir von der IG-Metall gehen davon aus, dass der vorläufige Insolvenzverwalter den Betrieb fortführt und dafür sorgt, dass er von einem finanzkräftigen Investor übernommen wird. Interessenten sind da!“, rief Gewerkschaftssekretär Heuser der Belegschaft zu. Das steigerte die Stimmung der Betriebsversammlung, zumal ich erklären konnte, dass das Arbeitsamt der Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes zugestimmt hatte, so dass es schon in den nächsten Tagen zur Auszahlung der rückständigen Löhne kommen würde. Es war der Betriebsratsvorsitzende, der seinem Namen Ehre machte und die Sorge artikulierte, dass der Betrieb stillstehen könnte, wenn die in den Auffangbecken gesammelten Spülwässer nicht sicher und zuverlässig aufbereitet werden konnten, so dass die Einleitungsgrenzwerte in den Fluss eingehalten wurden.

Ich versuchte die Befürchtungen zu zerstreuen, verwies auf die offenen Forderungen und äußerte die Erwartung, dass wir alsbald über die notwendige Liquidität verfügten, um die chemikalisch-physikalische Behandlung des Prozesswassers ordnungsgemäß durchzuführen.

„Und wenn nicht?“, kam ein Einwand aus der Versammlung.

„Dann warten wir eben auf den nächsten starken Platzregen!“, sagte ich ruhig und versuchte, dabei ernst zu bleiben.

„Und dann öffnen wir die Schieber?“, kam es zurück.

„Zum Beispiel!“

Hartmann, der seit Jahren für mich Grundstücke bewertete, aber auch Eigentumsvorbehaltsansprüche prüfte und beschied, schaute mich etwas skeptisch an.

„Die Truppe hat das hoffentlich richtig verstanden?“

Hartmann kam aus dem Bergischen. Böse Zungen behaupteten, die in dieser Region lebenden Menschen hätten die Flexibilität der Westfalen und die Zuverlässigkeit der Rheinländer. Wer es gut mit ihnen meinte, sah es umgekehrt.

„Mensch Hartmann, wir sind hier im Rheinland. Hier kann man Spaß und Ernst auseinanderhalten!“

Wir beschäftigten uns wieder mit den Zahlen. Es sah nicht gut aus. Spätestens Mitte nächster Woche wurde es eng. Wir brauchten dringend Liquidität, um Chemikalien zu kaufen.

Drei Tage später zogen schwere Gewitter auf. Es donnerte und blitzte und, begleitet von einem heftigen Sturm, regnete es über Stunden in Strömen. Die Holländer hatten immer noch nicht gezahlt, jetzt wurde es kritisch. Wir mussten die Produktion drosseln, die Herstellung von Schmuckketten zurückstellen, obwohl hier die größten Margen lagen. Aber auch die Vorräte an Draht gingen bei einigen Abmessungen zur Neige und zu allem Überfluss war eine der Biegemaschinen, auf der schwere Glieder gebogen wurden, ausgefallen.

Ich machte mich auf den Weg zum Betrieb. Den Berg hinunter konnte man das Flusstal schon von weitem einsehen. Der Regen hatte nachgelassen, das Gewitter war weitergezogen. An der Jägerhausstraße bog ich links Richtung Stadt ab und schon wenige hundert Meter vor dem Betrieb waren gelbe und blaue Blinklichter nicht zu übersehen. Da die Entwicklung des gesamten Flusstals von Eisenhütten geprägt war, wo der vormalig abgebaute Eisenstein verarbeitet und Hammerwerke und Blasebälge von Wasserkraft angetrieben wurden, konnte ich den Einsatzort nicht sofort zuordnen. Aber als ich die Einfahrt zum Betriebsgelände von BAWICO passierte, bestand kein Zweifel mehr. Der Einsatz galt uns. Arbeitsunfall, Feuer durch Blitzschlag, Sturmschäden am Dach, gingen mir als mögliche Ursachen durch den Kopf. Ich parkte vor dem Verwaltungsgebäude. Im Chefzimmer saß Schreiber, wie immer im grauen Anzug und Krawatte mit drei oder vier Männern in Zivil, Vertreter des Umweltamtes und des Wasserverbandes, wie mir gesagt wurde, und zwei uniformierten Polizisten. Schnell war ich im Bilde. Umweltalarm! Belastete Abwässer waren in den Fluss geleitet worden. Messungen und erste Proben hatten eine hohe Belastung mit Schadstoffen ergeben. Wir standen im Verdacht, für den Störfall verantwortlich zu sein. Anwohner, Spaziergänger wollten vermehrt tote Fische gesehen haben und hatten die Polizei alarmiert. Ich hatte eine Ahnung, hielt mich aber bedeckt. Auch Schreiber war klug genug, keine Mutmaßungen von sich zu geben.

Den ganzen Tag eilten Polizei und Behördenvertreter durch den Betrieb, sprachen mit Mitarbeitern, nahmen die Auffangbecken in Augenschein, prüften die Einleitungsvorrichtungen und die Schleuse, eine Art Schieber, mit dem die Ableitung des Abwassers über einen Kanal in den hinter dem Betriebsgebäude vorbeifließenden Fluss erfolgte. Mit Hilfe einer Kurbel konnte der Schieber geöffnet oder geschlossen werden. Als wir für kurze Zeit allein im Raum waren, fragte ich Schreiber, was denn passiert wäre. Er konnte es auch nicht genau sagen. Aber es war wohl Kummer, der Betriebsratsvorsitzende, der, zusammen mit einem weiteren Mitarbeiter, den Schieber geöffnet hatte. Jedenfalls waren die Becken leer. Der Störfall hatte Stadt, Kreis und die Polizei mobilisiert, selbst ein Wagen der Feuerwehr stand einsatzbereit am Rand des Gewässers, das immer noch braunes Hochwasser führte und Äste, Planken und Hausrat transportierte. Auch die Ränder des Parkplatzes standen unter Wasser.

Hartmann zog mich auf die Seite. Die Behördenleute hatten ihn der Belegschaft zugeordnet, so konnte er unbeobachtet Gespräche führen. Auch mit Kummer. Dieser hatte Heinzchen angewiesen, den Schieber zu öffnen. Ausgerechnet Heinzchen, das Faktotum, der letzte Hilfsarbeiter, eingesetzt als Hofkehrer, zum Transport von Material und Putzmitteln und mittags als Bote damit befasst, Fritten und Currywurst aus dem nahegelegenen Imbiss zu holen, aber nur mit Notizzettel, da er sich nichts merken konnte. Der tat, was man ihm sagte, ohne zu denken.

„Wo ist Kummer jetzt?“, wollte ich wissen.

„Ich habe ihn nach seinem Gespräch mit den Leuten vom Umweltamt nach Hause geschickt. Er fühlte sich etwas unwohl!“

Langsam reifte die Ahnung zur Erkenntnis. Meine flapsige Bemerkung anlässlich der Betriebsversammlung wurde gleich beim ersten Starkregen umgesetzt. Das konnte böse enden. Immerhin, die Becken waren leer, die Produktion würde weitergehen.

Das Lokalradio, ein Privatsender, berichtete bereits am nächsten Morgen in den Frühnachrichten von einem Störfall, der Umweltalarm ausgelöst hatte. Ein metallverarbeitender Betrieb stand im Verdacht, giftige Chemikalien in den nahegelegenen Fluss geleitet zu haben. Polizei und Umweltbehörden würden ermitteln.

Die beiden lokalen Zeitungen wussten es noch genauer. Ein insolventer, metallverarbeitender Betrieb wurde als möglicher Verursacher bezeichnet. Da blieben nicht so viele übrig, zumal die Lokalisierung recht präzise war. Von einem massiven Fischsterben war die Rede.

Fische waren mir in diesem Gewässer noch gar nicht aufgefallen. Aber tatsächlich, wie ich schnell herausfand, gab es sogar eine Fischereigenossenschaft und einen Fischereiberechtigten. Die würden sich auch bald schon bemerkbar machen. Das war mir klar. Und Schluss mit allen Direkteinleitungen, war jetzt der übereinstimmende Tenor in der Berichterstattung.

Erst Birgit, dann Heiner, nacheinander hatte ich die beiden Lokalredakteure an der Strippe. Birgit schrieb für die „Blauen“, Heiner für die „Gelben“. Mit beiden verband mich fast schon Freundschaft. Sie schrieben nie boshaft und hielten sich an die Vorgabe „off the records“. Das war auch an diesem Tag die Devise, verbunden mit einem Versprechen als Gegenleistung, mit Informationen dienlich zu sein, sobald ich sprechfähig wäre.

Vor allem galt meine Sorge dem Betriebsratsvorsitzenden. Er musste aus der Schusslinie kommen. Um Heinzchen machte ich mir keine Gedanken. Dass der nicht die hellste Kerze auf dem Leuchter war, blieb niemandem verborgen. Das würden selbst die Leute aus den Ämtern merken.

„Frau Krüger-Hoffmann wartet schon auf Sie im Wappensaal“, begrüßte mich Schreiber. Auch heute wieder grauer Anzug, weißes Hemd, dezente Krawatte. Nur ein paar Sorgenfalten mehr, wie mir schien. Trotz aller Probleme hielt er sich kerzengerade. Bewundernswert. Auf Nachfrage wurde Schreiber präziser. Krüger-Hoffmann war die Leiterin des Umweltamtes und hatte bei den letzten Kommunalwahlen als grüne Kandidatin für den Stadtrat einer benachbarten Stadt im Raum Köln kandidiert. Sie hatte aber noch keine Sprechstunde. Kühl wurde ich wieder aus dem Saal komplimentiert. Sie wollte noch auf den Staatsanwalt warten.

„Staatsanwalt? Was will denn ein Staatsanwalt hier?“, fragte Schreiber, der sich über die grauen Haare strich und die schwarze Brille abnahm.

„Wenn die uns den Betrieb dichtmachen, war es das!“, und er schaute dabei noch bekümmerter drein als bei meinem Eintreffen.

Wenig später fuhr ein schwarzer Porsche vor. Ihm entstieg ein Mann meines Alters. Rote Hose, weißes Hemd, blauer Pullover, Lederjacke, Sportschuhe. Herbert Greiner, Dezernent der Staatsanwaltschaft in Wirtschaftssachen, Porschefahrer und Golfspieler. Diese Attribute waren schon lange Gegenstand des üblichen Behördentratsches. Ein Mann mit Augenmaß, geschätzt und geachtet vor allem von Anwälten. Wie mir schien, hatte er ein wenig zugelegt. Bevor er zu den kleinen weißen Bällen gekommen war, spielte er über Jahre als Torwart in einem Vorortverein, der berüchtigt war für seinen Sportplatz, einem besseren Acker, der nach einer Seite abfiel. Die Spiele dort arteten immer in Kampf und Krampf aus, vor allem im Winter, wenn der untere Teil des Platzes, der an einen Bach grenzte, eher einem Morast glich. Ich spielte, nachdem ein Meniskusschaden die erhoffte Karriere gestoppt hatte, im benachbarten Verein, meist eine Klasse höher. Zu Pokalspielen und sogenannten Freundschaftsspielen, die meist am Rande des Abbruchs standen, trafen wir regelmäßig aufeinander. Ebenso bei den beliebten Spielen Rechtsanwälte gegen Staatsanwälte und Richter. Da konnte man im fortgeschrittenen Alter auch mit dem ein oder anderen Wehwehchen noch mitspielen, da es vor allem um die dritte Halbzeit in der „Letzten Instanz“ ging.

Beim letzten Spiel, das schon geraume Zeit zurücklag, hatte es mächtig Ärger gegeben. Ich hatte das Siegtor für die Anwälte geschossen, und dabei ein klein wenig die Hand zu Hilfe genommen. Kollege Meyer, der den Schiri machte, hatte es übersehen, aber Herbert im Tor der Richter wollte es genau erkannt haben. Wir gifteten uns an, aber ich blieb dabei: Wenn überhaupt, war die Hand angelegt. Das Tor zählte. Selbst beim Bier in der Kneipe hatte sich Herbert noch nicht beruhigt.

„Ist doch nur Spaß!“, beschied ich ihn.

Da ich gerade telefonierte, empfing ihn Schreiber und brachte ihn in den „Wappensaal“. Kurz darauf wurde ich gebeten. Herbert saß am Kopfende, links daneben Krüger-Hoffmann, passend im grünen Kleid, darüber eine schwarze Strickjacke. Mit Ende Dreißig war sie bereits zur Amtsleiterin aufgestiegen. Auf dem Frauenticket war Schreiber überzeugt. Jedenfalls waren die Kontrollen strenger geworden, seit sie das Umweltamt leitete. Keine unsympathische Erscheinung, auch wenn sie mich sehr amtlich ansah. Neben ihr ein weiterer Behördenvertreter. Den Namen hatte ich gleich wieder vergessen.

Der dunkle Saal war gefüllt mit Vitrinen, in denen Ketten aller Art ausgestellt wurden. Darüber Bilder von den Firmengründern in Öl, Familienwappen, ein paar Geweihe an der Stirnseite. Massiver Holztisch, Holzstühle mit dunkelgrauem, teil rissigem Leder, gepolstert. Parkettboden, über dem Tisch ein schwerer Leuchter mit acht Glastulpen. Man hätte depressiv werden können.

Ich begrüßte die drei per Handschlag, aber spürte sofort, hier war Distanz angesagt und unterließ persönliche Bemerkungen.

Frau Küppers, die Sekretärin, brachte ein Tablett mit einer Kanne Kaffee, diversen Tassen, Zucker und Milch sowie eine große Flasche Mineralwasser und Gläser. Es dauerte etwas, bis jeder versorgt war.

„Herr Rechtsanwalt, wir ermitteln wegen des Verdachts der unbefugten Gewässerverunreinigung gemäß § 324 StGB. Sie sind hier als Insolvenzverwalter für den Betrieb und seine Abläufe verantwortlich. Was können Sie uns sagen?“

„In welcher Eigenschaft soll ich etwas sagen? Und nebenbei, ich bin vorläufiger Insolvenzverwalter!“

Die drei griffen zum Stift und machten sich Notizen.

„Die Akte hat noch ein AR-Aktenzeichen, wir sammeln Informationen im Rahmen eines Vorverfahrens.“

Das war clever. So musste der Staatsanwalt nicht belehren, ob ich als Zeuge oder Beschuldigter vernommen würde. Eine allgemeine Erörterung also, oder doch mehr?

Zunächst erläuterte die Dame vom Umweltamt die generellen Anforderungen an das Einleiten von Wasser ins Gewässer und hier speziell die strengen Anforderungen an eine Direkteinleitung, insbesondere unter besonderer Berücksichtigung der ohnehin kritischen Belastungen des Abwassers durch galvanische Verfahren. Direkteinleitungen, so stellte sie klar, sollte es in Zukunft und unter ihrer Verantwortung ohnehin nicht mehr geben und der Bestandschutz für Altanlagen musste reduziert und am Ende beseitigt werden. Wenn die Insolvenz zur Stilllegung führen würde, käme eine neue Erlaubnis für einen Nachfolger nicht mehr in Betracht. In der Vergangenheit habe man noch das eine oder andere Auge zugedrückt und die Auflagen im Zusammenhang mit der Erlaubnis zur Einleitung von Abwasser nach entsprechender Aufbereitung nicht verschärft, um den Betrieb nicht zu gefährden.

Der Staatsanwalt wollte aber offensichtlich kein Seminar über die Einleitung von Abwasser durchführen und unterbrach.

„Herr Kollege, es gibt mehrere Aussagen aus der Belegschaft, die übereinstimmend bekunden, dass Sie in der Betriebsversammlung, die wohl letzten Freitag stattgefunden hat, das Öffnen der Schieber beim nächsten Gewitter als Handlungsalternative genannt haben. Quasi im Sinne einer Aufforderung. Sie sollen gesagt haben, dann öffnen wir halt den Schieber.“

„Das war Spaß!“, rief ich aus.

„Spaß?“ Die doppelt Grüne bekam Schnappatmung.

„Das nennen Sie Spaß. Ein Gewässer verunreinigen oder gar vergiften. Soll ich Ihnen mal vorlesen, was die Analysen ergeben haben?“

Aus ihren Unterlagen rasselte sie die Werte herunter. Der ganze Chemiebaukasten war vertreten, gelöste und ungelöste Stoffe, Cyanid, Fluorid, auch Chrom, Kupfer, Quecksilber, Nickel.

„Was Sie Spaß nennen, haben Ihre Mitarbeiter als Aufforderung verstanden!“, so die Einschätzung der Amtsleiterin.

Ich wollte wissen, wann die Werte ermittelt wurden und, ob es schon Erkenntnisse über die heutige Belastung gab. Woher bezog sie denn die Gewissheit, dass wir es waren, die für die Verunreinigung die Verantwortung trugen? Und hatten wir die alleinige Verantwortung? Schließlich gab es noch mehr metallverarbeitende Betriebe im Tal. Und außerdem war Hochwasser, da konnten leicht ufernah platzierte Fässer oder Tanks überspült worden sein.

„Bei der Gewässerverunreinigung reicht die abstrakte Gefährdung aus“, warf der Staatsanwalt ein.

„Mag sein, aber wenn es keine dauerhaft nachteiligen Auswirkungen gibt, dann spricht das doch eher dafür, dass die Werte eingehalten wurden. Was ist denn passiert? Wie viele Stichlinge sind denn verendet, wenn überhaupt?“

Da war ich bei Frau Krüger-Hoffmann an der richtigen Adresse. Auch Stichlinge waren in ihren Augen schützenswert, im Übrigen wollte man auch tote Saiblinge und sogar Bachforellen gefunden haben. Ich versuchte, schleunigst auf sicheren Grund zu kommen.

„Wir haben eine wasserrechtliche Einleitungserlaubnis.“

„Die ist hinfällig, wenn die Grenzwerte überschritten sind“, fiel mir Krüger-Hoffmann gleich ins Wort.

„Aber woher nehmen Sie die Gewissheit, dass wir für die Überschreitung der Grenzwerte verantwortlich sind, und zwar – wie Sie glauben – alleinverantwortlich?“

„Ihre Mitarbeiter haben schließlich eingeräumt, dass der Inhalt der Auffangbecken ohne vorherige Aufbereitung in das Gewässer geleitet wurde, das sagt doch wohl alles“, Krüger-Hoffmann ließ sich nicht beirren, wir waren in ihren Augen die Übeltäter. So kamen wir nicht weiter. Also versuchte ich es mit einem anderen Ansatz.

„Frau Krüger-Hoffmann, Ihre Auffassung in allen Ehren, aber Sie können den Gewässerschutz nicht verabsolutieren. Im gesamten Verwaltungsrecht gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, immerhin geht es hier auch um die Erhaltung von Arbeitsplätzen, fast 450 an der Zahl.“

Der Staatsanwalt korrigierte „In der Presse steht 350.“

„Da kommen aber noch mehr als 40 Heimarbeiterinnen dazu“, versuchte ich meine Zahl zu retten. Herbert hatte sein Abitur am altsprachlichen Gymnasium gemacht, konnte aber addieren.

„Gibt 390, immer noch ein Stück weg von 450.“

Frau Krüger-Hoffmann wollte sich erst gar nicht auf die Zahl der Arbeitsplätze einlassen: „Jetzt kommen Sie uns nicht mit dem Gegensatz von Ökologie und Ökonomie. Der Zweck heiligt nicht die Mittel, auch nicht, wenn es um die Erhaltung von Arbeitsplätzen geht.“

„Sie können den Mitarbeitern keine böse Absicht unterstellen. Sie wollten dem Gewässer nicht schaden und waren der Meinung, durch das Hochwasser werden etwa noch belastete Abwässer ausreichend verdünnt.“

„Das nennen sie keine böse Absicht? Den Fluss vergiften und alle darin lebenden Wesen gleich mit?“ Jetzt wurde es bissig.

„Der Fluss hat sich morgen wieder erholt, aber verlorene Arbeitsplätze sind verloren, ein für alle Mal“, keilte ich zurück.

An dieser Stelle schaltete sich der Staatsanwalt ein, der unserem Wortgefecht bislang eher teilnahmslos zugehört hatte.

„Was haben denn die Arbeitsplätze mit Abwasser zu tun?“, wollte er wissen.

Mit wenigen Worten begann ich, die Liquiditätslage und die damit verbundenen Probleme zu erklären. Ich wies darauf hin, dass der Einkauf von Chemikalien und anderen Einsatzstoffen derzeit liquiditätsbedingt eingeschränkt war. Herbert hörte zu und wehrte mit einer Handbewegung die Amtsleiterin ab, die mir ins Wort fallen wollte. Er fragte nach und wollte wissen, wie lange wir noch produzieren könnten, ließ sich die möglichen Auswirkungen des Liquiditätsengpasses, insbesondere auf Galvanik, schildern.

Plötzlich gingen bei mir die Warnlichter an. Hatte ich doch ein leichtes Ziehen an seinen Mundwinkeln, fast ein Lächeln gesehen. Ich sah die Grube, die sich vor mir auftat und in die ich fast hineingefallen wäre.

Krüger-Hoffmann war nicht auf Ballhöhe, in ihrem Eifer war ihr der Hintersinn in den Fragen des Staatsanwaltes entgangen.

„Wenn man Ihnen zuhört, kann man immer weniger an Spaß glauben. Sie haben eine Notlage mit Hilfe unbedarfter Mitarbeiter gelöst!“

Das war die Vorlage. Ich verwandelte eiskalt.

„Damit das klar ist. Wir haben über eine Million Euro fällige Forderungen gegen diverse Abnehmer. Stündlich erwarte ich einen größeren Geldeingang. Wir sind also in der Lage, den Betrieb fortzuführen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, niemand wollte unbefugt den schönen Bach oder Fluss verunreinigen und ich habe dazu auch nicht aufgefordert, weder direkt noch indirekt. Dazu hätte mir als lediglich vorläufigem Verwalter auch die rechtliche Befugnis gefehlt.“

Um ein Haar hätte ich ausgeplaudert, dass uns die Aktion aus einer kritischen Lage befreit hatte.

Der Staatsanwalt klappte seinen Ordner zu und griff nach seinem Sakko.

„Ich dachte schon, Sie wollten uns einen rechtfertigenden Notstand verkaufen.“ Mit einem kurzen Nicken war ich entlassen. Krüger-Hoffmann kam nicht mehr dazu, weitere Fragen zu stellen, die ihr erkennbar auf der Zunge lagen. Ich sah zu, dass ich raus kam.

Schweigend begleitete ich den Staatsanwalt zum Parkplatz. Krüger-Hoffmann und ihr Begleiter, der die ganze Zeit stumm am Tisch gesessen hatte und nur durch Nachschenken der Getränke aufgefallen war, waren nicht mehr zu sehen. Am Fahrzeug angekommen, sah mich Herbert an.

„Dir würde ich die Sache glatt zutrauen. Geschickt formulieren. Natürlich ganz arglos. Erfolg ist alles. Da hilft auch schon einmal ein Foulspiel, wie wir wissen!“

Sprach’s, zwängte sich in seinen beräderten Kohlenkasten, dröhnte davon und ließ mich mit meiner Aversion gegen Männer in roten Hosen im Allgemeinen und solche, die darin auch noch Golf spielen im Speziellen, auf dem Parkplatz zurück.

Hartmann fing mich auf dem Flur ab. Nachdem ich kurz berichtet hatte, wusste er wenigstens halbwegs Erbauliches zu erzählen. Die Belegschaft war angesichts der geleerten Behälter erleichtert. Aus der Sicht der Mitarbeiter war die Fortführung damit gesichert. Über 80 % der Mitarbeiter waren Mitglieder der IG-Metall. Sie standen hinter ihrem Betriebsratsvorsitzenden. Was zählten da ein paar tote Fische.

Der nächste Morgen begann unerfreulich. Das Radio brachte in der Sendung „Aus der Region“ eine kurze Einspielung aus einem Interview mit dem Bürgermeister, der eine Anweisung des Insolvenzverwalters als Auslöser des Störfalls behauptete. Die Nachricht traf mich um 06:30 Uhr beim Rasieren. Ich durfte sie eine Stunde später auf der Fahrt ins Büro gleich nochmals hören.

„Haben Sie den Bürgermeister im Radio gehört?“, wollte Anna, meine allerrechteste Hand, wissen.

„Den Genossen Bürgermeister können Sie gleich mal von der Liste der Spendenempfänger für die nächste Kommunalwahl streichen!“

Birgit und Heiner hatten sich an die Absprachen gehalten. Die „Gelben“ und die „Blauen“ berichteten sachlich, ich kam nur am Rande der jeweiligen Artikel vor. Schwerpunktmäßig wurden die Naturschützer zitiert. Diese hauten mächtig auf den Putz, forderten ein Verbot der Direkteinleitung und die Stilllegung jeder Galvanik. Die Fraktion der Grünen im Stadtrat schloss sich an. Die CDU wiegelte ab und die SPD wollte, anders als ihr forscher Bürgermeister, erst einmal prüfen. Tote Stichlinge gegen gefährdete Arbeitsplätze, eine surreale Debatte war da im Gange.

Natürlich war auch der Fischereiberechtigte einigermaßen unfroh. Dies galt allerdings auch für den zuständigen Insolvenzrichter Brandenburg, der mich im Laufe des Vormittags anrief. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis. Teilten die Begeisterung für Fußball und redeten auch schon mal über persönliche Dinge. Jetzt aber war er durch die Darstellung in den Medien beunruhigt und ließ sich berichten. Ich erzählte nur das Nötigste. Sein Fazit war unerfreulich.

„Wenn wegen unbefugter Gewässerverunreinigung gegen Sie als Beschuldigter ein Strafverfahren eingeleitet wird, werden ich Sie wohl kaum noch in dieser Sache als Insolvenzverwalter bestellen können.“

Wenn Brandenburg dergleichen äußerte, wog das schwer. Denn er war für seine abgeklärte und kompetente Amtsführung bekannt. Er hörte zu, gab manchen klugen Rat und wählte die Verwalter nach sachlichen Kriterien aus. Erfahrung, Seriosität, Unabhängigkeit, Kapazitäten und Branchenkenntnisse bestimmten seine Auswahlentscheidungen.

Timmerman mochte nicht mit mir sprechen. Aber ich bekam Brouwers ans Telefon.

„Wenn Sie nicht zahlen, können Sie die Übernahme vergessen, dann steht der Betrieb still!“

„Wenn Sie den Fluss vergiften, auch!“, gab er ungerührt zurück, versprach aber immerhin über eine Abschlagszahlung nachzudenken.

Heiner meldete sich mobil.

„Gibt es was Neues?“

Ich verneinte. Er erzählte von Anrufen und Mitteilungen an die Redaktion. Die Meinungen waren geteilt. Wütende und verständnisvolle Aussagen hielten sich die Waage. Heiners Artikel zeichneten sich oftmals durch schöne Wortspiele aus.

„Hast Du also fließend saniert?“, fragte er am Ende des Telefonats.

Der listige Insolvenzverwalter. Das ließe sich vielleicht sogar gut vermarkten. Wenn das Damoklesschwert eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und der vom Insolvenzrichter angedrohte Rausschmiss nicht wären.

Aus dem Betrieb meldete sich Hartmann. Kummer, der Vorsitzende des Betriebsrates, bot an, die Sache auf seine Kappe und mich aus der Schusslinie zu nehmen. Das aber wollte ich auf keinen Fall. Ich beschied Hartmann mit dem Hinweis, Kummer anzuweisen, keine weiteren Angaben zu machen. Schließlich musste die Behörde nachweisen, dass sich die Einleitung nicht im Rahmen der Erlaubnis gehalten hatte, der Genehmigungsrahmen quantitativ und qualitativ überschritten wurde und eine ursächliche Verknüpfung zwischen Einleitung und Verunreinigung gegeben war. In diesen Rahmen passte die Information, die sich Hartmann für das Ende des Gesprächs aufgespart hatte. Die Ergebnisse der heutigen Messungen waren unauffällig und tote Fische wurden auch nicht mehr gefunden. Also keine nachhaltige oder gar dauerhafte Verunreinigung, dank des Hochwassers. Meine Sorgen wurden ein wenig kleiner.

Am Nachmittag rief Herbert Greiner an. Ich hatte mir gerade den sechsten Espresso geholt und bereitete das übliche Informationsschreiben an die Lieferanten vor. Mein Puls beschleunigte sich und Greiners Einleitung trug auch nicht zur Beruhigung bei.

„Also, um es klar und deutlich zusagen. Wir werden Umweltdelikte nicht länger als Kavaliersdelikte oder Lässlichkeiten behandeln. Es ist Zeit, dass Verstöße mit allem Nachdruck strafrechtlich verfolgt und geahndet werden. Diese Linie hat der Leitende Oberstaatsanwalt in der Dezernentenbesprechung vorgegeben. Daran werden wir uns jetzt halten.“

Mir verschlug es die Sprache.

„Bist Du noch da?“, wollte er wissen.

„Ihr wollt tatsächlich ein Ermittlungsverfahren einleiten?“, brachte ich leicht gequält heraus. Das konnte doch wohl nicht sein.

„Das wäre eine Option“, fuhr Herbert ungerührt fort.

Mir fiel nichts mehr ein.

„Ist das Dein Ernst?“, war alles, was ich sagen konnte.

Ruhe am anderen Ende. Herbert räusperte sich.

„War nur Spaß!“ Ich sah ihn grinsend vor mir, meinen Schock auskostend.

„Die Sache wird zur Prüfung möglicher Ordnungswidrigkeiten an die Verwaltungsbehörde abgegeben. Für ein Strafverfahren reicht es nicht. Aber Deine Späße solltest Du zukünftig besser dosieren!“

Ausgleich! 1:1!

Krisenfälle – Insolvenzen hautnah

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