Читать книгу WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. I - Rolf Große - Страница 9
Einleitung
ОглавлениеAls im Jahre 1958 die „Deutsche Historische Forschungsstelle in Paris“, das jetzige Deutsche Historische Institut, eröffnet wurde, bedauerte Eugen Ewig in seiner Begrüßungsansprache, es gebe noch keine Studie, die in vergleichender Perspektive der Geschichte Deutschlands und Frankreichs im Mittelalter gewidmet sei. Als Vorbild nannte er die Arbeiten von Ernst Robert Curtius, der vor allem in seinem berühmten Buch über „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ die gemeinsamen Wurzeln französischer und deutscher Literatur aufzuzeigen vermochte1. Das Desiderat, auf das Eugen Ewig hinwies, existiert heute, ein halbes Jahrhundert später, nicht mehr. Nachdem 1974/75 Walther Kienasts dreibändiges Werk über „Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit (900–1270)“ erschienen ist2, legte jüngst mit Joachim Ehlers der wohl beste Frankreichkenner unter den deutschen Mediävisten eine eindrucksvolle Studie zum Thema vor, der sein Schüler, Martin Kintzinger, ein Buch mit dem Titel „Die Erben Karls des Großen. Deutschland und Frankreich im Mittelalter“ folgen ließ3. Ebenfalls zu erwähnen sind die beiden ersten Bände des „Handbuchs der europäischen Geschichte“, herausgegeben von Theodor Schieffer und Ferdinand Seibt4, sowie das imposante Alterswerk von Carlrichard Brühl über „Deutschland und Frankreich. Die Geburt zweier Völker“5. Zahlreiche Publikationen, vor allem von Karl Ferdinand Werner und Michel Parisse, tragen dazu bei, die Geschichte des Nachbarlandes auch einem breiteren Publikum nahe zu bringen6.
Die große Beliebtheit, der sich die deutsch-französische Geschichte zurzeit erfreut, manifestiert sich auch in einer verstärkten Zusammenarbeit der Historiker beider Länder. 1997 und 1998 fanden zwei Tagungen in Sèvres und Göttingen statt, die dem gegenseitigen Austausch über aktuelle Tendenzen der Mediävistik diesseits und jenseits des Rheins dienten und deren Beiträge inzwischen in einem umfangreichen Band gedruckt vorliegen7.
Nach einer Rechtfertigung für dieses gestiegene Interesse brauchen wir nicht lange zu suchen. Viele Gründe lassen sich anführen, und so würde der Zeithistoriker auf die enge Freundschaft, die sich zwischen den beiden Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, verweisen. Noch einfacher hat es der Mediävist. Werfen wir einen Blick in die Einführung des Kolloquiumsbandes von Sèvres und Göttingen, so lesen wir, weshalb gerade die Erforschung des Mittelalters nationale Grenzen überschreiten kann und muss8:
„Parce que le Moyen Âge a pour l’essentiel ignoré les nations telles que nous les connaissons depuis l’époque moderne, les médiévistes ont l’habitude de regarder par delà les frontières et donc nécessairement de dialoguer avec leurs collègues des pays voisins ou de se mesurer à eux. Leur objet le plus familier, c’est l’Europe, ou du moins la chrétienté, ce qui autorise les contacts fructueux, la réflexion commune, sans interdire parfois les malentendus.“
Im Rahmen einer „Deutsch-Französischen Geschichte“ behandeln wir natürlich nicht das gesamte christliche Europa. Suchen wir nach dem gemeinsamen Ursprung beider Länder, dann fällt der Blick auf das Frankenreich, und es erscheint berechtigt, unseren Band mit Karl dem Großen zu beginnen, also einer Zeit, da es Deutschland und Frankreich noch gar nicht gab. Karl verkörpert wie kein Zweiter das, was beide Länder miteinander verbindet. Der Aachener Historiker Max Kerner widmete dem Karlsmythos jüngst ein sehr lesenswertes Buch, das auch auf die „Karlsbüste“ in der Schatzkammer des Aachener Doms eingeht9. Bei diesem bedeutendsten Werk der Aachener Goldschmiedekunst der hohen Gotik handelt es sich um ein Büstenreliquiar mit der Schädelkalotte des Kaisers, das Karl IV. aus dem Hause der Luxemburger in Auftrag gegeben haben soll. Auf ihm werden erstmals, jedenfalls soweit wir wissen, der schwarze Reichsadler auf goldenem Grund und die goldenen Lilien auf blauem Feld zusammengeführt, eine Kombination, die zum Phantasiewappen Karls des Großen werden sollte und seit dem frühen 15. Jahrhundert bis heute dem Aachener Marienstift als Wappen dient. Der Adler, das heraldische Zeichen des römisch-deutschen Kaisers, steht in römischer Tradition. Die Lilien, „fleurs de lys“, gelten seit der Mitte des 12. Jahrhunderts als Wappen des französischen Königs. Im 14. Jahrhundert sollte die Legende entstehen, Gott habe sie dem Frankenkönig Chlodwig verliehen. Da die Lilie der Jungfrau Maria als Symbol zugeordnet wird, konnte sich ein regelrechter Kult der „fleurs de lys“ entwickeln, der es erlaubte, über Maria zugleich die Monarchie zu verehren. Der Marienkult erfuhr seinen Höhepunkt im Jahre 1638, als Ludwig XIII. sein Königreich der Muttergottes weihte. Die Verbindung von Adler und Lilien auf dem Aachener Reliquiar zeigt, über welche Symbolkraft Karl verfügte.
Lässt sich der Beginn einer „Deutsch-Französischen Geschichte“ mit dem großen Karl rechtfertigen, so ist die Abgrenzung zum folgenden Band etwas schwieriger10. Die Schlacht von Bouvines, bei der wir enden, markiert insofern einen Einschnitt, als der französische König mit ihr erstmals einen deutschen Thronstreit entschied. Nach seinem Sieg über Otto von Braunschweig sandte Philipp II. Augustus den Reichsadler an dessen Rivalen, den Staufer Friedrich II., und ermöglichte ihm die Herrschaft im deutschen Reich. Dieses Ereignis kontrastiert deutlich mit den Zuständen im 10. Jahrhundert, als Otto der Große in hegemonialer Stellung die Auseinandersetzungen zwischen Robertinern und Karolingern im westlichen Nachbarreich schlichtete. Bouvines führte klar vor Augen, dass nun Frankreich die stärkste Macht in Europa war. Dies galt nicht nur auf der politischen Ebene. Seit der Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit dem Papsttum war Frankreich zur treibenden Kraft in der Kirchenreform geworden. Strittige Papstwahlen wurden hier, nicht mehr am Kaiserhof, entschieden. Und die neuen Orden, wie die Zisterzienser, traten ihren Siegeszug ebenfalls von Frankreich aus an. Waren im politischen und kirchlichen Bereich (sofern man diese Ebenen im Mittelalter überhaupt trennen kann) entscheidende Ansätze durchaus auch vom ostfränkisch-deutschen Reich ausgegangen, so trifft dies auf das geistige Leben kaum zu. Hier herrschte stets ein deutliches West-Ost-Gefälle, das dann im 12. Jahrhundert bei der Entstehung der höfischen Kultur deutlich zum Ausdruck kommen sollte.
Damit haben wir bereits wesentliche Aspekte angesprochen, die wir in unserem Buch behandeln werden. Es schlägt einen großen Bogen vom 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert. Wir setzen mit dem geographischen Rahmen ein, der Beschreibung des regnum Francorum, dessen Entstehung kurz mit Rückgriffen in die Spätantike behandelt wird. Breiten Raum gewähren wir dem 9. und 10. Jahrhundert, als das Reich seine Einheit verliert und zur Geburtsstätte des westfränkisch-französischen und des ostfränkisch-deutschen Reichs wird. Das 3. Kapitel ist dem 11., 12. und frühen 13. Jahrhundert gewidmet, da das Gefühl einer Zusammengehörigkeit in fränkischer Tradition kaum noch eine Rolle spielte und Frankreich zur politischen Vormacht in Europa wurde. Direkte Konfrontationen zwischen Regnum und Imperium sind selten. Gradmesser des Kräftespiels ist vielmehr das jeweilige Verhältnis zum Papsttum, und hier kann Frankreich, dessen König aus dem sogenannten Investiturstreit gestärkt hervorgeht, all seine Trümpfe als fille aînée de l’Église ausspielen. Gleichzeitig schlägt es den Weg zum modernen Nationalstaat ein und schafft sich, anders als das deutsche Reich, mit Paris eine Hauptstadt, deren Umland seit dem 14. Jahrhundert als Île-de-France bezeichnet wird.
Während der erste Teil unseres Buches chronologisch strukturiert ist, greift der zweite einzelne Aspekte heraus, die im deutsch-französischen Kontext von Bedeutung sind. Er beginnt mit dem Problem, wo Deutsche und Franzosen im Laufe der Geschichte ihre eigenen Ursprünge sahen, behandelt Politik, Wirtschaft wie auch Kultur und führt schließlich zur Entstehung der Pariser Universität an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert. Wesentliche Impulse verdankt sie, so seltsam dies klingen mag, einer Schlägerei zwischen deutschen Studenten und Pariser Bürgern.
Zur Sprache kommen also nicht nur die deutsch-französischen Beziehungen im engeren Sinn. Vielmehr sollen auch unterschiedliche Entwicklungen aufgezeigt werden, um die Charakteristika der beiden Länder im direkten Vergleich umso deutlicher herauszustellen. Mit gutem Recht sprach sich Marc Bloch bereits 1928 „pour une histoire comparée des sociétés européennes“ aus11. Der lange Zeitraum von mehr als vier Jahrhunderten, den wir auf begrenztem Raum behandeln, machte es unmöglich, alle Bereiche gleichermaßen ins Auge zu fassen. Wir wollten kein Handbuch schreiben, sondern beschränken uns auf Themen, die die Geschichte zu beiden Seiten des Rheins wesentlich geprägt haben. Die Bibliographie folgt in ihrem Aufbau der Gliederung des Textes. Da in ihr Titel jeweils nur einmal zitiert werden, sind die einzelnen Abschnitte keineswegs erschöpfend. Wichtige Werke können also auch bei einem anderen Kapitel, für das sie ebenfalls einschlägig sind, zu finden sein.
Zahlreiche Hinweise bei der Abfassung des Buches gaben die beiden Herausgeber der „Deutsch-Französischen Geschichte“, Werner Paravicini und Michael Werner. Auch Joachim Ehlers und Jean-Claude Schmitt, die dem „Comité de lecture“ der Reihe angehören, gewährten ihren Rat. Martin Kintzinger übersandte mir die Druckfahnen seiner thematisch verwandten Arbeit über „Die Erben Karls des Großen“. Bei der Erstellung der Bibliographie, der Zeittafel und des Registers waren mir Frau Daniela Blessing, Frau Verena Türck und Herr Niels May, Praktikanten unseres Instituts, behilflich. Ihnen allen sei ebenso herzlich gedankt wie dem Lektor der WBG, Herrn Daniel Zimmermann.
1 Nemo enim inter historicos nationis Teutonicae inveniri potuit, qui sicut E. R. Curtius litteras franco-gallicas, ita historiam regni et imperii insimul illustrasset. Der Text dieser Rede, die in lateinischer Sprache gehalten wurde, wird demnächst von Ulrich Pfeil im Rahmen einer Dokumentation zur Vorgeschichte und Gründung des Pariser Instituts veröffentlicht. Das Buch von Curtius liegt inzwischen in 11. Auflage, Tübingen, Basel 1993, vor.
2 KIENAST 1974–75 [43].
3 EHLERS 2004 [14], KINTZINGER 2005 [44].
4 SCHIEDER 1976–87 [54]. Besonders der magistrale Bd. 1, für den Theodor Schieffer verantwortlich zeichnet, ist zur Thematik unseres Bandes stets heranzuziehen. Gleiches gilt für die Werke von FRIED 1994 [27], SCHULZE 1987 [60] und SCHIEFFER 2005 [108]. Unentbehrlich waren auch die Artikel im Lexikon des Mittelalters.
5 BRÜHL 21995 [7]. Es war vor allem für den Abschnitt II/1: Germanen, Gallier, Franken, Deutsche und Franzosen (unten, S. 115–125) einschlägig.
6 Dies gilt insbesondere für WERNER 1989 [70] und PARISSE 2002 [51].
7 SCHMITT, OEXLE 2002 [56]. Eine eingehende Besprechung dieser Kolloquiumsakten legte Heribert MÜLLER 2004 [48] vor.
8 SCHMITT, OEXLE 2002 [56], S. 7.
9 KERNER 2000 [42], S. 140–142; das Büstenreliquiar ist nach S. 230 abgebildet (Abb. 4). Vgl. auch Ernst Günter GRIMME, in: BRAUNFELS 21967 [6], Bd. 4, S. 257.
10 Zum Projekt einer „Deutsch-Französischen Geschichte“ und den einzelnen Bänden vgl. die Hinweise in Francia 25/1 (1998), S. 419f., zuletzt ebenda 32/1 (2005), S. 324f.
11 Unter diesem Titel veröffentlichte er einen Aufsatz in der Revue de Synthèse historique 46 (1928), S. 15–50.