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1. Der 4. Juli 1954
Оглавление„Aus! – Aus! – Aus! – Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“
Es war Max Morlock, der die deutsche Mannschaft durch sein Tor zum 1:2 auf den Weg zur Weltmeisterschaft gebracht hatte – mit der Stiefelspitze, im Spagat und „mit allerletzter Kraft“, wie Herbert Zimmermann das „Anschlusstor“ in der Rundfunk- und Fernsehübertragung aus Bern kommentierte.
Das vierfache „Aus“ nach dem Schlusspfiff übertraf in seiner legendär gewordenen Leidenschaft sogar den vierfachen Torschrei nach dem 3:2 durch Helmut Rahn („Tooor! – Tooor! – Tooor! – Tooor!“). Freudentänze in ganz Fußballdeutschland waren die Folge und knallende Sektkorken keine Seltenheit.
Auch in der Pillenreuther Straße in Nürnberg wurde an diesem denkwürdigen Sonntag des 4. Juli 1954 gefeiert und eine Flasche „Rüttgers Club“ aus dem Kühlschrank geholt. Georg Meier und seine Frau Elisabeth nannten es einen „feinen Durst“, um sich zu besonderen Gelegenheiten ein Glas Sekt gönnen zu dürfen. „A Mordsfußballer isser scho, der Max. Lou mer also den Korgn gnalln!“
„Georg, du weißt, wie unschön ich diesen Nürnberger Dialekt finde. Du fällst immer dann in ihn zurück, wenn dich etwas aufregt oder begeistert. Das schreckliche „lou“ statt „lassen“ habe ich zum Glück schon lang nicht mehr gehört.“ Elisabeth stammte aus Hannover und behauptete, dort werde das reinste Hochdeutsch gesprochen. Georg war geborener und bekennender Nürnberger und als solcher „fei wergli“ stolz darauf, mit Max Morlock befreundet zu sein.
Was sein Nürnbergerisch betraf, hatte er seiner Frau versprochen, sich um Besserung zu bemühen – was ihm im Alltag durchaus gelang.
„Dann lou ich jetzt das Nürnbergern, lasse nicht den ‚Korgn“, sondern den ‚Korken‘ knallen und stoße nicht mit der fränkischen ‚Betti‘ an, sondern mit der hochdeutschen ‚Elisabeth‘ – auf unseren Nürnberger Meisterspieler, ohne den wir das Endspiel nicht gewonnen hätten.“ Während sie nur nippte, leerte er das Glas mit vier kräftigen Schlucken. Dann rief er „Alles Walzer“, nahm sie in Tanzhaltung in den Arm und legte in seinem Lieblingstakt einen für ihn weltmeisterlichen Tanz durch das Wohnzimmer hin.
„Rechts herum bist du wirklich ein guter Walzertänzer. Wir sollten für die nächste Stunde die Linksdrehung üben.“ Sie hatten einen Tanzkurs für Ehepaare gebucht, weil Georg – wie Elisabeth als talentierte Tänzerin festgestellt hatte – zwar über ein gutes Rhythmusgefühl verfügte, an seiner Tanzhaltung jedoch arbeiten musste. Er schenkte sich ein zweites Glas aus dem Hause Henkell ein. „Bitte keinen Sturztrunk“, mahnte sie, nahm selbst aber immerhin einen ganzen Schluck.
Sie spürte die Zuneigung, die im Blick ihres Mannes lag und erwiderte sie mit einem Lächeln, auf dessen Wirkung sie sich verlassen konnte. Die Gelegenheit war günstig, ein Anliegen vorzubringen, das ihrer Sensibilität für Sprache entsprang: „Weil du in Feststimmung bist, erlaube ich mir eine Bitte: Sag deinem Freund Max, er solle dich doch bitte nicht mehr „Gerch“ nennen. Das klingt für mich zu provinziell. Und ein Weltmeister sollte als Weltmann nicht die Namen der Provinz verwenden.“
Obwohl er sich darüber ärgerte, widerstand Georg der Versuchung, mit der „Provinz Hannover“ zu kontern. Stattdessen ging er auf die vorgeschlagene Tanzstundenübung ein: „Also alles Walzer links herum. Vorher darf ich aber erst einmal um die Ecke.“ Sie nickte und war erleichtert, nicht wie am Anfang ihrer Beziehung vor zwei Jahren hören zu müssen „lou mi amol um die Eggn“.
Auf der Toilette hörte er sie aufgeregt nach ihm rufen. Aus dem anschließenden Wortgewirr verstand er aber nur „Schluss“. Er nahm deshalb an, sich mit dem Händewaschen beeilen zu sollen. Zurück im Wohnzimmer, sah er sie am Fenster hantieren. Es war wegen der sommerlichen Temperatur gekippt, ließ sich deshalb nicht umstandslos öffnen, sondern musste erst geschlossen werden. „Ist dir zu warm?“
„Nein, ich habe einen Schuss gehört und will sehen, was draußen los ist.“ „Ich habe ‚Schluss‘ verstanden. Und ein Schuss entspringt deiner blühenden Phantasie, weil du in letzter Zeit zu viele Krimis gelesen hast.“ Lass uns die verabredete Linksdrehung üben. „Eins–zwei–drei, eins–zwei–drei …“
Weil sie keine Spielverderberin sein und ihrem Georg die Stimmung nicht verderben wollte, tanzte sie eine Weile mit, bis sie mit Bestimmtheit sagte: „Das reicht jetzt. Ich will wissen, was da draußen los war.“
Sie rannte zum Fenster, riss es hastig auf und streckte ihren Wuschelkopf weit nach draußen.
„Und? Gibt’s etwas zu sehen, das deine Phantasie bestätigt?“ „Nichts, nur ein Fahrrad liegt vor dem Laden von Max. Sonst ist die Straße wie leergefegt.“
„Natürlich. Alle hocken vor dem Radio, die Bonzen vor dem Fernseher. Du wirst die Fehlzündung eines Motorrads gehört haben.“
„Da ist kein Motorrad! Aber schau, dort im Celtis-Tunnel – sie deutete Richtung Bahnhof – verschwindet gerade ein amerikanischer Straßenkreuzer mit seinen langen Heckflossen.“
Georg war nicht schnell genug, um die Beobachtung bestätigen zu können. In der Tunnelröhre unter den Gleisen des Hauptbahnhofs war kein Fahrzeug zu sehen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er daran, auch Elisabeths Straßenkreuzer für ein Produkt ihrer Phantasie zu halten.
Weil sie dieses Zweifeln spürte, bekam Georg zu hören: „Du glaubst immer nur, was du selbst gehört und gesehen hast. In einer guten Ehe sollte man sich aber auch darauf verlassen, dass der Partner seine Sinne beisammenhat. Ich habe einen Schuss gehört und einen Amischlitten gesehen. Basta!“
Georg musste sich eingestehen, seiner Frau – mit der er erst ein Jahr verheiratet war – tatsächlich nicht geglaubt zu haben, jedenfalls was den Schuss betraf. Spontan wurde ihm der Grund dafür klar: ihre ausgeprägte Neugier, die sie von der Leidenschaft für Kriminalromane auf das Alltagsleben als Hausfrau übertrug.
„Ich geh jetzt rüber zu den Reibers. Vielleicht hat Gundi auch was gehört!“
Draußen waren die ersten Freudengesänge zu hören: „Morlock, Mor-lock, –Deutsch-land, Deutsch-land!“
„Mach dich bitte nicht lächerlich! Wer soll denn da geschossen haben!?“ Aber Elisabeth ließ sich nicht abhalten. Durch die offene Tür bekam Georg mit, wie sie bei den Nachbarn klingelte. Gundi öffnete mit Elan, ein halbvolles Sektglas in der Hand. Bevor sie etwas sagen konnte, platzte Elisabeth heraus: „Hast du auch einen Schuss gehört?“
„Einen Schuss? Möglich wäre es schon. Laut geknallt hat es jedenfalls.“ Mit dieser Feststellung war Elisabeth zufrieden. Sie ließ die verdutzte Gundi stehen und verschwand wieder in ihrer Wohnung.
„Georg, die Reibers haben auch einen Knall gehört. Da stimmt etwas nicht! Gehen wir doch mal runter!“
„Wozu? Wir sind in Nürnberg und nicht in Chicago. Gott sei Dank! Bei uns wird nicht jeden Tag ein Mensch auf offener Straße erschossen.“
Weil er die Neugier seiner Frau für chronisch hielt, war ihm klar, dass sein Chicago-Vergleich ohne Wirkung bleiben würde. Seine Jubellaune war jedenfalls völlig verflogen.
„Jetzt komm schon!“ Sie packte ihn resolut am Ärmel und zog ihn hinter sich her.