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2. Blutspur vor Morlocks Lottoladen
ОглавлениеDirekt gegenüber der Wohnung des Ehepaars Meier lag Max Morlocks Lotto- und Toto-Laden. Am Sonntag war der Laden selbstverständlich geschlossen. Um sicherzugehen, dass sich niemand darin aufhielt – der den Straßenkreuzer gesehen und den Schuss gehört haben könnte – klopfte Elisabeth an die gläserne Eingangstür. Erwartungsgemäß blieb eine Reaktion aus. Sie hob das Fahrrad auf und lehnte es ans Haus.
„Da ist doch etwas nicht in Ordnung! Und du stehst nur herum und suchst nicht nach verdächtigen Spuren! Die Schüsse könnten dem Radfahrer gegolten haben …“
„… der sich vor Schreck in Luft aufgelöst hat?“ Inzwischen suchte sie den Gehsteig vor dem Laden nach irgendeinem brauchbaren Hinweis ab. Ein paar tropfenförmige Kleckse, die in der untergehenden Sonne rötlich schimmerten, schienen ihr zunächst uninteressant. Bei genauerem Hinsehen traute sie jedoch ihren Augen nicht: „Georg, schau dir das mal an!“
„Allmächd: Des siecht nach Blut aus!“ „Tatsächlich, eine Blutspur! Und offensichtlich noch ganz frisch!“ „Nicht berühren! Ich rufe die Polizei und du hältst hier Wache!“, befahl sie in energischem Ton und verschwand in Windeseile im Hauseingang. Er ärgerte sich, dass sie immer das Kommando übernahm und er sich wie ein Trottel vorkommen musste. „Doldi“, sagte er zu sich selbst. Dabei sah er sich hilflos um, ob ihn jemand in dieser Lage sah.
Seine Pillenreuther Straße, in der er seit seiner Hochzeit vor etwa einem Jahr wohnte, war ihm noch nie so unattraktiv vorgekommen wie in diesem Moment. Jetzt verstand er, warum Elisabeth partout nicht hier einziehen wollte. Nur weil sie keine andere Wohnung fanden, war sie mit dieser „Notlösung“ einverstanden. Beim Wiederaufbau der stark zerstörten Südstadt – MAN und der Rangierbahnhof waren bevorzugte Angriffsziele der amerikanischen und britischen Bomber gewesen – ging es schlicht und einfach um die Beschaffung bezahlbaren Wohnraums für die Bevölkerung im „Arbeiterbezirk“ südlich des Hauptbahnhofs und nicht um einen städtebaulichen Schönheitswettbewerb.
Als Straßenbahnschaffner hatte Georg bisher kein Problem damit gehabt, hier zu wohnen. Die Leute sprachen wie er – „Nürnbergerisch halt“ – und nannten ihn „Gerch“. Aber seiner Elisabeth zuliebe würde er wohl nicht nur den Max bitten, auf „Georg“ umzustellen, sondern alle, mit denen er sich duzte. Überhaupt war er sehr bemüht, den Herkunfts- und Bildungsunterschied zwischen seiner Frau und ihm – er stammte aus einer Arbeiterfamilie und hatte kein Abitur – so wenig wie möglich spüren zu lassen.
Aus der Seitenstraße war das Deutschlandlied zu hören. Vier Männer mit Bierflaschen in der Hand bogen grölend um die Ecke und wollten mit ihm „auf den Weltmeister“ anstoßen. Georg drehte ihnen spontan den Rücken zu und stellte sich mit gespreizten Beinen über die Blutspur. Einen Schubser musste er ertragen.
„So ein komischer Fußballmuffel! Wir sind wieder wer!“ Nach Hochrufen auf Morlock stimmten sie erneut ihre Hymne an.
Hier noch länger ’rumzustehen, wurde ihm zunehmend peinlich. Ärger über die scheinbare Hysterie seiner Frau stieg in ihm auf. Leicht neidisch schaute er hinter den Feiernden her. Sein Blick fiel auf das Fahrrad. „So können wir es nicht stehen lassen.“ Er griff Lenker und Sattel und schob es um die Ecke in die Wendlerstraße. Der seitliche Hauseingang gehörte noch zu Morlocks Geschäft. Inzwischen war Elisabeth zurück. „Du hast gar nicht bemerkt, dass die Polizei schon in Sicht ist!“ Georg fühlte sich von der angezettelten Sache überrumpelt. Mit einem so raschen Erscheinen der Polizei hatte er nicht gerechnet.
Aus dem grünen Volkswagen-Käfer mit der weißen Aufschrift „POLIZEI“ auf der Vorderhaube und dem übergroßen Blaulicht auf dem Dach stiegen zwei Männer in der blauen Uniform der Nürnberger Polizei.
Elisabeth Meier nahm das Heft des Handelns in die Hand: „Ich habe Sie gerufen, weil ich einen Schuss gehört und eine Blutspur gefunden habe.“ Die Beamten warteten darauf, dass Georg Stellung bezog. Der aber blickte verlegen auf den Boden.
„Wo soll denn das Blut sein?“ Elisabeth deutete auf die roten Tropfen. Da es inzwischen zu dämmern begonnen hatte, holte der größere Polizist eine Taschenlampe aus dem Wagen, um die Spur zu beleuchten.
„Das sieht nicht nach dem Blut eines Menschen aus. Es dürfte Katzenblut sein –und für den Tierschutz sind wir nicht zuständig.“ Der andere, kleinere Polizist nickte nur. Doch dann sah er die Gelegenheit gekommen, den Fall loszuwerden, ohne ein lästiges Protokoll schreiben zu müssen: „Selbst wenn auf die Katze geschossen wurde, sind wir als Stadtpolizei dafür nicht zuständig, sondern unsere bayerischen Kollegen.“
„Das kann doch nicht wahr sein! Georg, das lassen wir uns nicht gefallen!“ „Was wollen wir denn unternehmen, wenn es sich so verhält, wie die Herren sagen?“ „Das Fahrrad wird nicht von einer Katze gefahren worden sein“, zischte sie ihrem Mann – ihm zugewandt – zu.
Der kleinere Polizist fühlte sich durch diese Bemerkung auf den Arm genommen: „Sie sollten sich genau überlegen, was Sie sagen. Wenn Sie uns unterstellen, Rad fahrende Katzen für möglich zu halten, erfüllt das den Tatbestand der Beamtenbeleidigung.“ „Lass es gut sein, Elisabeth“, versuchte Georg seine vorwitzige Frau zu beruhigen.
Der kleine Schutzmann trat zwei Schritte vor. „Hören Sie auf Ihren Mann und sehen Sie von einer Anzeige ab. Dann vergessen wir auch die Beleidigung.“
Das Anrücken der Polizei hatte Aufsehen erregt. Aus einigen Fenstern schauten die Nachbarn neugierig herunter. „Gerch, was ist denn los?“ rief es aus dem zweiten Stockwerk. Georg zog den Kopf ein, er fühlte sich ab jetzt verantwortlich für die zu befürchtenden Gerüchte. Und ausgerechnet in einer solchen Situation sollte er den „Gerch“ verabschieden?
Er war schon im Hausflur und wollte – wie es seine Art war – die Tür nicht lautstark ins Schloss fallen lassen, sondern leise schließen, als eine lindgrüne Limousine auf der gegenüberliegenden Straßenseite langsam an Morlocks Laden in Richtung Hauptbahnhof vorbeifuhr. „Das sieht nach Elisabeths Straßenkreuzer aus. Ich muss mir das Kennzeichen merken!“ In dieser Absicht zog er die Tür so weit zurück, dass er freien Blick auf die Rückansicht des Wagens hatte, der schon fast wieder die Höhle des Celtis-Tunnels erreicht hatte. „Das sind die typischen Schwanzflossen eines Cadillac!“ Ein Kennzeichen war in der beginnenden Dunkelheit des Abends aber nicht mehr zu lesen.