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2. Überlebensstrategien der Neanderthaler
ОглавлениеDieses Kapitel befasst sich mit dem Alltagsleben des Frühzeitmenschen Neanderthaler (Homo sapiens neanderthalensis), der das Ergebnis einer langen Evolution war und dessen Gene sich im Genom (Gesamtheit der Gene) heutiger Europäer und Ostasiaten befinden. Viele Verhaltensweisen der Neanderthaler sind ohne weiteres vergleichbar mit denen der heutigen Menschen. Als Mensch der Eiszeit und Zwischeneiszeit musste der Neanderthaler enorme Leistungen für sein Überleben vollbringen. Um den vielseitigen Anforderungen ihrer Umwelt gegenüber gewachsen zu sein, war für die Neanderthaler ein größerer Sozialverband zwingend erforderlich. Dies setzte jedoch eine soziale Rangordnung und damit in Verbindung eine Arbeitsteilung voraus. Die Neanderthaler waren in der Lage verbal miteinander zu kommunizieren. Schon die Jagd auf Großwild erforderte eine gemeinsame Abstimmung zwischen den Jägern, die nur durch Sprache denkbar ist.
Wie können wir uns das Erscheinungsbild der Neanderthaler vorstellen? Sie besaßen ein Gehirn, dessen Volumen mit etwa 1700 ccm deutlich über dem Durchschnitt der modernen Menschen lag. Der große Gehirnschädel mit seinen starken Überaugenwülsten war lang und abgeflacht, das Hinterhauptsbein nach hinten ausgezogen, die Nase nach vorne verlängert. Sowohl die Augenhöhlen als auch die Nase waren relativ groß. Auffällig war das fliehende Kinn. Im Gegensatz zu den großen Schneidezähnen waren die Backenzähne relativ klein. Die Neanderthaler, die im eiszeitlichen Europa etwa 1,65 m groß waren, wiesen einen starken und kompakten Körperbau auf. Zudem besaßen sie besonders dickwandige Knochen. Mit ihren Muskelpaketen waren sie um die Hälfte stärker als moderne Menschen. Die geringe Körpergröße der Neanderthaler deutet darauf hin, dass sie in kalten Klimabereichen gelebt haben. Begründung: Durch die Verkleinerung der Körperoberfläche im Verhältnis zum Körpervolumen geht weniger Körperwärme verloren.
Das Leben der Neanderthaler war hart. Die Lebenserwartung lag bei höchstens 40 Jahren. Es herrschte eine sehr hohe Kindersterblichkeit. Dass die Neanderthaler sprechen konnten, belegt (neben dem genetischen Nachweis des Sprachgens FOXP2) der Fund eines fossilen Zungenbeins eines Neanderthalers in der Höhle von Kebara in Israel im Jahre 1983. Der altdeutsche Ausdruck „Bein“ ist gleichbedeutend mit Knochen. Dieser hufeisenförmige Knochen, der sich zwischen Unterkiefer und Kehlkopf befindet, gibt Aufschluss über den Bau des Stimmtraktes. Das Zungenbein stellt den Ansatzpunkt für die Zungenmuskulatur dar.
In Shanidar (Irak) fand man das Skelett eines Neanderthaler-Mannes, der besonders unter Krankheiten und Verletzungen schwer zu leiden hatte. Dass er trotz schwerer Behinderungen lange Zeit überleben konnte, lässt sich nur mit der Fürsorge durch Mitglieder seines Sozialverbandes erklären. Rituale spielten bei den Neanderthalern nicht nur bei der Jagd eine Rolle. Sie entwickelten auch so etwas wie religiöse Vorstellungen: Sie bestatteten ihre Toten und gaben ihnen Grabbeigaben mit.
Die Größe eines Sozialverbandes bei den Neanderthalern wird sicherlich von einer Reihe von Faktoren abhängig gewesen sein. Die Sozialgruppe musste überschaubar sein und eine gut organisierte innere Struktur besitzen. An den Ranghöchsten werden Anforderungen gestellt worden sein, die auch in der heutigen Zeit noch immer ihre Bedeutung haben: Informieren, Instruieren, Ziele vereinbaren, Planen, Koordinieren und Motivieren. Mitentscheidend für die Überlebensfähigkeit der Gruppe wird auch der Anteil von Frauen als wertvolle biologische Ressourcen und damit Trägerinnen des Lebens gewesen sein. Außerdem hing es von den Jagd- und Sammelerträgen ab, ob alle Mitglieder des Clans ausreichend ernährt werden konnten. Man kann davon ausgehen, dass sich bei bestimmten Umweltbedingungen Familien zusammenschlossen, um bessere Überlebenschancen zu haben.
Sozialpartner und Sozialpartnerinnen, die verletzungsbedingt nicht mehr an Jagd- und Sammelaktivitäten teilnehmen konnten, waren im Hinblick auf die Arbeitsteilung für die Sozialgruppe trotzdem unentbehrlich. So zerschlugen sie Knochen, um an das wertvolle Knochenmark zu gelangen. Es war als Nährstoff besonders begehrt. Sie konnten auch Fleisch und Sehnen von Tierkörpern entfernen, wobei sie ihre Zähne zum Festhalten des Materials einsetzten. Die Zähne ersetzten dabei eine Hand. Die Sehnen wurden bevorzugt dazu verwendet, um etwas zu umwickeln oder zusammenzuhalten.
Wie Verhaltensstudien bei Naturvölkern gezeigt haben, werden Säuglinge und Kleinkinder bis zu einem Alter von etwa 3 Jahren überwiegend gestillt. Sie sind ständig in einem engeren körperlichen Kontakt zu ihrer Mutter oder zu anderen betreuenden Personen. Die erwachsenen Gruppenmitglieder beteiligen sich auf ihre Art und Weise an der Betreuung von Kleinkindern. Durch den Umgang mit Erwachsenen erlernen die Kinder die Verhaltensweisen, die für das Zusammenleben in einem Sozialverband wichtig sind. Das soziale Netz, in dem sie eingebunden sind, stellt für sie einen guten Schutz dar. Dieses Szenario lässt sich durchaus auch auf einen Sozialverband von Neanderthalern übertragen.
Wie in jedem größeren Sozialverband werden sich auch bei Neanderthalern unterschiedliche Persönlichkeiten gezeigt haben. So wird es Individuen gegeben haben, die sehr ausgeglichen wirkten, im Gegensatz zu leicht erregbaren Sozialpartnern. Wenn es zu aggressiven Handlungen und Spannungen innerhalb des Sozialverbandes kam, werden sicherlich Individuen aufgetreten sein, die es verstanden haben, zu beruhigen und zu vermitteln. Mitglieder des Sozialverbandes, die bei der Jagd sehr umsichtig handelten und sich kooperativ verhielten, waren für diese Nahrungserwerbstrategie besonders wichtig. Jähzornige und aufbrausende Jagdteilnehmer waren für die Jagdgruppe ein Risiko. Dies traf auch auf ungeduldige Jagdmitglieder zu, die immer wieder ihre Fähigkeiten und körperlichen Kräfte überschätzten. Andererseits war es wichtig, dass ängstliche Individuen durch Sozialpartner aufgemuntert wurden.
Gut vorstellbar ist folgendes Szenario: Während des Tages waren die Mitglieder eines Familienverbandes zwar sehr aktiv, sie wendeten aber nur einige Stunden tagsüber zur Nahrungsbeschaffung auf. Den größten Teil ihrer Zeit verbrachten sie damit, am Lagerfeuer zu sitzen. Denn für die Neanderthaler hatte die Feuerstelle große Bedeutung gehabt. Sie war ein wichtiger Versammlungsplatz für die Gruppenmitglieder. Diese Zusammentreffen nutzten die Neanderthaler, um Werkzeuge oder Kleidung zu reparieren oder neue herzustellen. Im Feuer wurde nicht nur Nahrung aufbereitet und das Holzmaterial der Speere und Lanzen gehärtet, sondern in der Nähe des Feuers wurden auch Rituale gefeiert. Selbst wenn die Dunkelheit kam, gab den Familienmitgliedern das Feuer ein Gefühl der Sicherheit. Wenn sie alle zusammensaßen, tauschten sie Informationen aus und die älteren Sozialmitglieder gaben ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiter. Die Männer sprachen bei dieser Gelegenheit sicherlich auch über eine bevorstehende Jagd. Viele Absprachen mussten dafür getroffen werden. Es kam auf den Ranghöchsten an, vorausschauend zu planen und jedem, seien es die Männer oder die Frauen als Jagdteilnehmer, eine Aufgabe zu übertragen.
Jedes Mitglied des Sozialverbandes musste bereit sein, sich für die Gruppe einzusetzen. Nur so hatte man eine Chance, in der Umgebung, in der man lebte, sich zu behaupten und damit zu überleben. Meist hielten sich die Frauen in der Nähe des Lagerplatzes auf, während die Männer, aber auch kräftigere Frauen (soweit sie nicht schwanger oder unmittelbar mit der Betreuung der Kinder beschäftigt waren), auf die Jagd gingen. Frauen und auch ältere Kinder suchten in der näheren Umgebung nach Essbarem und nach Brennmaterial. Oft mussten sie sich aber auch weit von dem Lagerplatz entfernen, um mehr sammeln zu können. Manchmal brachten die Frauen auch spezielle Kräuter mit, die sie zur Heilung von kranken und verletzten Mitgliedern des Sozialverbandes verwenden konnten.
Nur durch eine mobile Lebensweise konnte der Familienverband seine Nahrungsgrundlagen sichern. Dabei mussten die Sozialpartner als Jäger und Sammler immer wieder an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gehen. Wenn die Männer erschöpft und verletzt von der Jagd zurückkamen, dann kümmerten sich die Frauen um sie. Hatten die Männer sehr erfolgreich gejagt, dann gaben ihnen die Frauen körperliche Zuwendungen. Die Männer liebten dies verständlicherweise, zumal die Frauen sehr einfallsreich waren. Das war sicherlich ein Ansporn für die Jäger, möglichst viel Beute in das Lager zu bringen.
Für eine bevorstehende Jagd war es immer wichtig, Jagdwaffen zusammenzustellen und diese zu überprüfen. Zwischen den Beteiligten der Jagdgemeinschaft waren Absprachen zu treffen, an die sich jeder zu halten hatte. Man musste sich gegenseitig vertrauen können. An den Ranghöchsten wurden besondere Anforderungen gestellt. Solange er das leistete, wurde er auch als Ranghöchster anerkannt. Auf ihn kam es an, seine Jagdpartner gut auf die Jagd einzustimmen und seine Erfahrungen einzubringen. Die Jagenden werden sich der gefährlichen Situation bewusst gewesen sein, der sie ausgesetzt waren, wenn sie Großwild wie zum Beispiel ein Mammut jagten. Da die Neanderthaler keine ausdauernden Dauerläufer waren, mussten sie versuchen, möglichst schnell und dicht an das Beutetier heranzukommen. Das war allerdings immer sehr risikoreich. Denn die Jägerinnen und Jäger konnten sich schwere Verletzungen im Kopf- und Nackenbereich und an den Armen und Beinen zuziehen.
Dass die Aussicht auf Jagdbeute Kräfte freisetzen kann, erfahren wir aus der nachfolgenden Beschreibung einer Jagd von Neanderthalern auf Mammute: „Ohne zu sprechen bewegen sich die Neanderthaler in der Frühe vorsichtig im Gelände. Kundschafter weisen durch Armbewegungen darauf hin, wo sich die Mammutherde aufhält. Jedem in der Jagdgruppe ist eine spezielle Aufgabe zugewiesen worden. Bei der Jagd wird man nach einem vorher vereinbarten Plan vorgehen. Dabei muss man sich auf jedes Jagdmitglied verlassen können. Eigennütziges Verhalten bringt für die Gruppe nur Nachteile. Die Erfahrung zeigt, dass der Jagderfolg umso größer ist, je mehr man überlegt und kooperativ vorgeht. Inzwischen haben die Kundschafter die Windrichtung geprüft und informieren die Gruppe darüber durch Gestik und Mimik. Schritt für Schritt und in leicht gebückter Haltung nähern sich die Neanderthaler mit ihren Waffen in den Händen der Tierherde. Sie sind immer darauf bedacht, sich gegen den Wind zu bewegen. So können sie verhindern, dass die Mammute die Körpergerüche der Jagdteilnehmer aufnehmen. Auch jedes Geräusch muss vermieden werden. Als die Neanderthaler in die Nähe der Tiere kommen, teilt sich die Gruppe auf. Da als Waffen nur Speere und Holzlanzen zur Verfügung stehen, die zum Teil mit Knochen- oder Steinspitzen ausgestattet sind, müssen sich die Jägerinnen und Jäger sehr nahe an das Beutetier heranwagen. Das bedeutet, man muss seine Angst überwinden und innerlich darauf eingestellt sein, mit aller Körperkraft anzugreifen oder notfalls zu flüchten. Denn es kommt immer wieder vor, dass die Tiere unerwartet angreifen. Ein ausgewachsenes Mammut zu jagen, erscheint im Moment zu riskant. Daher halten die Jägerinnen und Jäger Ausschau nach jungen oder kranken Tieren. Plötzlich kommt Unruhe in der Herde auf. Laute Trompetentöne der Mammute sind zu hören. Aufgeregt laufen die Tiere durcheinander, wodurch die Mammutkälber den Kontakt zu ihren Müttern verlieren. Das ist die Chance für die Jäger. Während der Mammutbulle laut trompetend und mit hoher Geschwindigkeit sich einem Teil der Neanderthalergruppe nähert, gelingt es einigen Jägern ein Jungtier von der Herde zu trennen. Sie treiben es zu einer Stelle, wo bereits Jägerinnen und Jäger warten. Als das Mammutkalb heraneilt, stoßen sie ihre hölzernen Lanzen und Speere in den Körper des Tieres. Es erleidet einen qualvollen Tod. Der Angriff des Mammutbullen endet für zwei Neanderthaler tödlich. Die anderen Gruppenmitglieder haben sich nur mit Mühe retten können. Lang anhaltende Trompetengeräusche lenken die Aufmerksamkeit der Neanderthaler auf ein Mammut, das im Schnee versunken ist. Dieser hatte sich auf der dem Wind abgewandten Seite eines Hügels angehäuft. Die Hilflosigkeit des Tieres in einer solchen Situation nutzen die Jägerinnen und Jäger aus. Da sie unter hoher Anspannung stehen, laufen sie schreiend mit ihren blutigen Jagdwaffen auf das Tier zu. Wie im Rausch rammen sie die Stoßlanzen und Speere in den Körper des Tieres, ziehen die Waffen wieder heraus, um dann erneut zuzustoßen. Schon bald ist nur noch das Röcheln des Mammuts zu hören, das sein nahes Ende anzeigt.“ [1]
Sicherlich wird mancher Jäger seine Jagderfolge dafür genutzt haben, um bei den Frauen des Sozialverbandes einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er merkte aber nicht, dass die Frauen ihn nur ausnutzen, wenn sie sich scheinbar beeindruckt von seinen Jagdschilderungen zeigten. Denn den Frauen ging es vorrangig darum, bei der Beuteverteilung Vorteile zu haben.
Wenn die Mammutjagd erfolgreich verlaufen war, konnte von dem Beutetier der gesamte Körper verwendet werden: Körperfleisch und Körperfett dienten als Nahrung. Das Elfenbein verwendete man zur Herstellung von Waffen und Schmuck. Die Knochen waren vielseitig verwendbar, und zwar als Waffen, als Werkzeuge zur Herstellung von Faustkeilen und als Feuermaterial. Das Knochenmark hatte einen hohen Nährwert. Das Fell nutzte man zur Herstellung von Kleidung und als Abdeckungsmaterial für Behausungen.
Es lohnt sich darüber nachzudenken, welche Jagdstrategien bei unseren frühzeitlichen Vorfahren unter den jeweiligen ökologischen Gegebenheiten erforderlich waren. Die ökologische Abhängigkeit einer Jäger- und Sammlerwirtschaft machte eine Verteilung von Sozialgruppen über große Gebiete erforderlich. Aus ökonomischen, biologischen und sozialen Gründen ist eine isoliert lebende Gruppe auf Dauer, zumal bei einem eingeschränkten Angebot an Nahrungsressourcen, nicht lebensfähig. Daher muss sie auch Kontakte zu anderen Gruppen suchen. Um den Fortbestand der Gruppe zu sichern, ist eine Zuwanderung oder die Werbung von Frauen von Vorteil (Frauen als wertvolle biologische Ressourcen!). Der Kontakt zu anderen Gruppen macht es möglich, Tauschhandel zu betreiben, Erfahrungen, technische Fähigkeiten und rituelle Kenntnisse auszutauschen. Wenn die ökologischen Bedingungen zu bestimmten Jahreszeiten gut waren, brachte es Vorteile, wenn man sich mit anderen Gruppen zu größeren Jagd- und Sammelverbänden zusammenschloss („Fusion Strategy“, Verschmelzungs-Strategie). Dadurch konnte beim Jagen und Sammeln mehr erbeutet werden. Unter schlechten ökologischen Bedingungen war es vorteilhafter, bei einem geringeren Nahrungsangebot wieder kleinere Gruppen zu bilden und sich über größere Gebiete zu verteilen („Fission Strategy“, Aufspaltungs-Strategie).
Die ausführliche Beschreibung der Lebensweise der Neanderthaler in diesem Kapitel lässt sich damit begründen, dass viele der beschriebenen Verhaltensweisen der Frühzeitmenschen auch heute noch für den urbanen Menschen für das Überleben im Alltag erforderlich sind. Denn die schnelle kulturgeschichtliche Entwicklung stellt ihn vor gewaltige Herausforderungen. Allerdings hat er sich mittlerweile vom Jäger zum Gejagten entwickelt.