Читать книгу Der Mensch – Ein Spiegelbild seiner Zeit - Rolf W. Meyer - Страница 7
Оглавление„Nur wer seine Wurzeln kennt, kann wachsen.“
Anselm Grün (deutscher
Benediktinerpater und Betriebswirt)
1. Zurück zu den familiären Wurzeln
Die Vorfahren meines Großvaters väterlicher Linie kamen aus dem Niederland des Kurfürstentums Sachsen. Sie waren Bauern, Handwerker und Schäfer in den Dörfern um Leipzig und im 17. Jahrhundert im Mansfeldischen Kreis. Das Land ist flach und weitsichtig. Der Blick findet keinen Anhalt im Raum, den die Horizontale beherrscht. Im Dunst und Schatten der Ferne scheint die Erde in den Raum überzugehen. Der Blick hängt an den wenigen Pappeln und Kirchtürmen und unendlich fern an den Wolkenbänken über der Ebene.
Wasser fließt hier. Braun, trüb, langsam und schwer fließt es unter den hängenden Weiden hinweg zwischen fetten Wiesen von einem Dorf zum anderen. So sind auch die Menschen, die in das dunkle Wasser sehen und in die ziellose Ferne. Sie sehen dem trägen Wasser zu und lassen die ferne Welt dahinter vergehen. Ein langsamer Menschenschlag, konservativ und an der Scholle hängend.
Der älteste Vorfahre und Namensträger Meyer, der ermittelt werden konnte, ist „Meister Andreas Meyer, der Schäfer“, auch „Kesslerischer Schäfer“ genannt. Er ist um 1700 geboren, lebte in Ritteburg bei Artern an der Unstrut und erwarb 1731 in Ritteburg [1] Landbesitz und Grundstücke. Die Vernichtung der Kirchenbücher schließt weitere Nachforschungen aus. „Meister“ ist eine allgemeine Bezeichnung und nicht im Sinne des modernen Gewerberechts zu verstehen.
Die Schäferei hatte im 17. und 18. Jahrhundert eine andere Bedeutung als heutzutage oder auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon vor dem dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) stand die Schafwirtschaft in Deutschland in hoher Blüte. Sie war bedeutungsvoller als etwa die Pferde- und Rinderzucht. Infolgedessen genoss der Schäfer, weil er zumeist einen größeren Viehbestand hatte, ein höheres Ansehen als die übrigen Hirten. Sein Wissen um verborgene Heilkräfte stärkte sein Ansehen. Dennoch war der Beruf des Schäfers nicht „ehrbar“ im Sinne des mittelalterlichen Rechts.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts war in Mitteldeutschland der Niedergang der Großschäfereien aus folgenden Gründen nicht mehr aufzuhalten: Die überkommenen Weiderechte wurden aufgehoben und durch die Einrichtung staatlicher Forsten, in denen nicht mehr geweidet werden durfte, abgelöst. Für die Feldwirtschaft wurde der künstliche Dünger eingeführt. Der Chemiker Justus von Liebig (1803 – 1873) hatte damals die Agrikulturchemie gegründet. Seine Befürwortung der Mineraldüngung ermöglichte die Verbesserung der menschlichen Ernährung. Weiterhin verfielen die Wollpreise durch den Verkauf von Baumwolle auf den Märkten.
Die Vorfahren meiner Großmutter väterlicher Linie lebten im mittleren Teil Obersachsens und im Erzgebirge. In kleinen Häuschen wohnten sie, einsam und verstreut an den Berglehnen. Sie führten ein ärmliches, kärgliches Leben in schwerer Arbeit und im steten Kampf mit der Natur. Davon wurden sie hart und fest. Sie hatten es in ihrem Leben schwer, aber sie führten ihre Arbeit gern aus. Eckige Gestalten waren darunter. Auch in dieser Gegend ist Wasser. Es sprudelt frisch ins Tal, springt von Stein zu Stein, murmelt und erzählt. Es erzählt lange Geschichten. Der Himmel da oben über den Waldbergen ist klar. Der Blick geht weit, aber er hat ein Ziel. Man schaut über Täler und Höhen und über dunkle Wälder.
Die Vorfahren waren durch viele Generationen hinweg Blech- und Eisenwarenhändler und Schmiede. Mehrere Generationen saßen in Schönheide am Kuhberg oder, wie meine Urgroßeltern sagten, „droben in der Scheeheid“. Ihre Heimarbeit trugen sie weit fort ins Niederland. Dann sehnten sie sich im dunstigen Flachland wohl zurück in die heimatlichen Höhen. Einige brachten Frauen aus dem Niederland mit: Töchter der Schmiede, bei denen sie einkehrten. Einige waren Papiermüller im Schwarzbachtal bei Lößnitz, die lange Jahre ihr Papier zu dem bekannten Musikverlag Breitkopf und Härtel [2] in Leipzig lieferten.
Die Familien gingen nach Eibenstock bzw. nach Elterlein im mittleren Erzgebirge, aber auch in das Hammerwerk Thannenbergsthal im oberen Vogtland. Tapfer und ehrlich erkämpften sie ihr einfaches Leben, arbeitsam und anspruchslos in einer kargen Umwelt. Einfache Menschen … so war auch meine Großmutter.
Zwei Eigenschaften aus den verwandtschaftlichen Linien wurden meinem Vater mitgegeben: Die Liebe zur heimatlichen Scholle und die Bindung an Grund und Boden. Erst die Wurzellosigkeit des selbst gewählten Berufs eines Juristen mit dem Leben in der erdrückenden Enge der Stadt haben meinem Vater gezeigt, wie sehr sein eigentliches Wesen und Fühlen an seiner vogtländischen Heimat hing. Das Schicksal zwang ihn aber auf einen anderen Weg.
Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
Das Leben in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lief für die Menschen in Deutschland in ruhigen Bahnen. Es war, so wie es mein Vater aus seiner Sicht sah, ein Leben ohne große Probleme. Sein Elternhaus und die Umgebung hatten den Lebenszuschnitt des mittelständischen Bürgers. Man lebte einfach, ohne Luxus und großen Aufwand, aber in der Sicherheit einer festen Lebensgrundlage. Mein Großvater wurde in seiner Umgebung für wohlhabend gehalten, was aus Sicht von Außenstehenden sicherlich auf seinen Grundbesitz zurückzuführen war. Und doch bestand nie das Gefühl, dass nicht immer gespart werden müsste. Der Zwang zur „Bescheidenheit“ in der Lebensführung wurde meinem Vater und seinen Geschwistern von den Eltern ständig vorgehalten, zum einen unter dem Hinweis auf die eigene erfahrene Erziehung zur Bescheidenheit, zum anderen war es die Belehrung, dass es anderen Mitmenschen nicht so gut ginge. Es war aber für die Kinder nicht immer einzusehen. Mancher Mitschüler meines Vaters fuhr mit der Straßenbahn zur Schule, mein Vater hingegen musste laufen. Von allen Geschwistern hatte nur seine Schwester Annemarie Mathilde einmal für einige Zeit eine Monatskarte für die Straßenbahn. Ein Fahrrad, der sehnliche Wunsch meines Vaters, wurde ihm oft versprochen. Bekommen hat er es nie. Als im Gymnasium mancher Mitschüler als Sohn eines vermögenden Fabrikanten oder eines höheren Beamten einen besseren Lebensstil erkennen ließ, wuchs in meinem Vater das Gefühl, einen besseren Lebensstandard nur durch eigene Leistung erreichen zu können. Dabei hatte sein Vater 1913 bei der Erhebung des Wehrbeitrages ein Vermögen von 250 000 Mark versteuert.
Sonntags gab es einen Braten, in der Woche ein- bis zweimal Fleisch. Das Abendbrot war einfach. Reste vom Mittagessen wurden „aufgewärmt“ oder Wurst und Brot gegessen. Mein Vater hat nie erlebt, dass auf das Brot außer der Butter auch noch etwas Marmelade aufgestrichen wurde. Kuchen für den Sonntag wurde zu Hause gebacken. Meistens gab es den überlieferten „Hefenkloß“, je nach Jahreszeit wurden aber auch andere, flache Kuchen gebacken. In den Zeiten der Entbehrlichkeit steckten übrigens die hölzernen Kuchendeckel zum Schutz gegen das nächtliche Herausfallen in den Kinderbetten zwischen Bettgestell und Matratze.
Wein für die Eltern hat mein Vater auf dem Mittagstisch nur einige Male zum Weihnachtsbraten erlebt. Bier wurde zuweilen im Krug aus einer der Wirtschaften in der näheren Umgebung geholt. Wenn mein Vater losgeschickt wurde, um Zigarren zu holen, dann waren es immer sechs Stück zu acht Pfennigen. Wurde auf einem Spaziergang eingekehrt, z.B. in die Pfaffenmühle, dann gab es höchstens ein Würstchen und eine Brauselimonade, die, je nach Auswahl, grellgrün, rot oder gelb war. Im Herbst wurden Äpfel und Birnen eingelagert und Preiselbeeren sowie Heidelbeeren eingekocht. Die Beerenhändler zogen mit kleinen Wagen durch die Straßen und man hörte von weitem ihr Rufen „Heedelbeer, Heedelbeer!“ Kirschen und Pflaumen wurden von vorbeifahrenden Händlern im Korb erstanden. Sauerkraut und Gurken legte die Hausfrau selbst ein. Südfrüchte wurden selten gekauft. Die erste Banane hat mein Vater um 1912 gegessen. Apfelsinen, die sehr sauer waren, wurden vor dem Genuss in Zucker gelegt. Anschließend wurde eine Apfelsine für die ganze Familie aufgeteilt. Spargel hat mein Vater erst als Student in Leipzig um 1920 das erste Mal mit Bewusstsein gegessen. Tomaten, die sein Onkel Ernst Philipp Kießig (1868 – 1929) in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts selbst angebaut hatte, wurden als etwas Besonderes betrachtet und „Paradiesäpfel“ genannt. Sein Onkel hatte die Tomate während seines Aufenthaltes in USA kennen gelernt. Mein Großvater hat nach Beginn des Ersten Weltkrieges begonnen, Tomaten in seinem Garten anzubauen. Pfirsiche waren meinem Vater in seiner Jugend ganz unbekannt. Der Grund: Der Pfirsichbaum gedieh nicht in dem rauen Klima des Vogtlandes. Den Nussbaum hat er erst als Student kennen gelernt. Die Massenanfuhr von Erdbeeren, Spargel und Pfirsich aus den Obstanbaugebieten der Elbe in das Vogtland und Erzgebirge wurde erst möglich, als das Lastauto den Verkehr beherrschte. Kartoffeln wurden für das ganze Wirtschaftsjahr eingekellert. Die Wäsche wurde im Garten hinter dem Haus auf dem Rasen gebleicht. In der Waschküche im Kellerbereich befanden sich der beheizbare Waschkessel, das Waschbrett und ein Wäschewringer. 1911 legten sich meine Großeltern eine elektrische Waschmaschine zu. Sie wurde, gegen Entgelt, nicht nur von den Hausbewohnern, sondern sogar von Nachbarn benutzt.
Die Arbeiter in allen Betrieben arbeiteten von 6 Uhr bis 18 Uhr mit 3 Pausen täglich 10 Stunden. Am Sonnabend wurde bis 17 Uhr gearbeitet. Die Schule begann vom dritten Schuljahr an regelmäßig um 7 Uhr während des Sommers und um 8 Uhr im Winter. In den Oberklassen hatten die Schüler zweimal wöchentlich nachmittags Unterricht.
In Haselbrunn gab es auch einen Kramladen, der „Colonialwarenladen“ genannt wurde. Er führte alles in seinem Angebot, vom Petroleum über Holzpantoffel, Pferdepeitschen und Schnupftabak bis zum Bückling, der Leberwurst, Brot, Mehl und Bleichsoda. Wenn die Kutscher Frühstückspause machten und ihr Bier tranken, war der Kramladen auch gleichzeitig Frühstücksstube. Das Duftgemisch in einem solchen Kramladen war bemerkenswert. Oft genug schmeckte der Harzer Käse nach Petroleum. Viele Händler kamen aber auch noch ins Haus. Haushaltsgeräte aus Blech und Holz wurden in Wagen umhergefahren oder in die Häuser getragen. Der „Lettermann“ mit Leitern, Wannen und Besen war ein Ereignis auf der stillen Straße. Seine Ankunft verriet „ander Wetter“. Kroaten mit Blech und Mausefallen, Italiener mit Gipsfiguren, andere Händler mit Stoffen oder englischem Heftpflaster waren ständige Gäste. Das Schild an der Haustür „Betteln und Hausieren verboten“ hatte eine echte Bedeutung. Auch arbeitsscheue Bettler, ja sogar Zigeuner [3], zogen durch das Land. Scherenschleifer und Kesselflicker verrichteten ihre Arbeit im Hof oder auf der Straße. Man konnte darauf warten. Manches gesprungene Tongeschirr wurde von einem Kesselflicker mit einem Drahtnetz versehen. Mancher Bettler bekam ein Essen. Andere Bettler ließen das Brot vor der Tür liegen.
Im Herbst wurden Schafherden und Gänseherden aus Pommern und Schlesien durch Haselbrunn getrieben. Die Tiere wurden unterwegs zum Mästen für den Winter abgesetzt. Gemächlich zogen sie mit Lärm und viel Staub ihres Weges. Der Fußweg vor dem Haus auf der Haselbrunner Straße musste zweimal wöchentlich gekehrt werden. Im Winter musste bis 8 Uhr vor dem Haus „Bahn gemacht“ werden, das heißt, bis dahin musste der Gehweg schneefrei sein. Das war schon bald die Aufgabe für meinen Vater.
Wie stand es um die Preise in jener fernen Zeit? Zwei Semmeln kosteten 5 Pfennige, das Dreierbrot einen Dreier (Drei-Pfennig-Stück). Zwölf Stahlfedern kosteten einen Groschen [4], ein Schulheft 5 Pfennige. Das Schulgeld für das Gymnasium machte mit 150 Mark schon eine Menge Geld aus. Ein Glas Bier kostete 12 Pfennige, die billigste Zigarre 4 Pfennige und 12 der billigsten Zigaretten 10 Pfennige. Eine damals gängige Zigarettenmarke war „Luccas“, die ein langes Papphohlmundstück trug. Der Straßenbahnfahrpreis lag bei 10 oder 15 Pfennigen. Der Schneiderlohn für einen Anzug betrug 70 Mark. Die Arbeiter in der Ziegelei gingen mit einem Wochenlohn von 15 Mark nach Hause. Die direkten Steuern waren minimal.