Читать книгу Es gibt immer genug! - Rolland Baker - Страница 11
Die Berufung
ОглавлениеIch – Heidi – wollte schon immer wissen, wie es im Innern der Menschen aussieht. Wie waren sie wirklich unter ihrem vornehmen Getue und sorgfältig Zurechtgemachtsein oder unter ihren Lumpen und Falten?
Wie konnte ich sie aufrichtig und ohne Heuchelei lieben, wie konnte ich hinter die Fassade der Teenager und deren gesellschaftliches Getue kommen, das ich in dem privilegierten Wohnort am Strand von Südkalifornien sah, wo ich aufwuchs?
Ich fühlte mich zu den weniger Beliebten hingezogen, den weniger Schönen, die übergegangen und ignoriert wurden. Gerne saß ich bei den Einsamen und Vergessenen und hörte ihren Geschichten zu. Ich war rastlos, immer an anderen Kulturen und Sprachen interessiert und vor allem an den Armen. Ich konnte einfach nicht nur zu Hause herumsitzen, mit mir selbst und meiner eigenen Welt beschäftigt.
Meine Eltern fuhren mit mir oft zum Zelten nach Mexiko, sie besaßen eine außergewöhnliche Sensibilität den Armen gegenüber. Unsere Familie hielt in Tijuana und anderen Plätzen an, wo wir die Müllhalden und Barackenstädte besuchten und Kleidung verteilten. Ich wurde auch von meiner Lehrerin aus der sechsten Klasse geprägt, die Missionarin in China gewesen war. Sie war gerade aus Asien zurückgekehrt und zeigte unserer Klasse einprägsame Bilder aus den Slums von Hongkong. Ich weinte vor Verzweiflung für die Menschen, die dort lebten, und schon damals sagte ich Gott, dass ich gehen und ihnen helfen wolle.
Die ganze Zeit über habe ich mich nach Gott gesehnt. „Wo bist du, Gott?“, fragte ich nachts auf meinem Bett. Ich betete jedes Gebet, das mir in der Episkopalkirche meiner Mutter beigebracht wurde. Fortwährend betete ich. Der Heilige Geist berührte mich kraftvoll, als ich das Abendmahl nahm. Ich wurde vorbereitet und berufen.
Mit dreizehn flog ich als Austauschschülerin für ein Jahr in die Schweiz. Ich lernte Deutsch, fuhr Ski, ging zum Tanzunterricht und hatte eine wunderbare Zeit, aber Entbehrungen musste ich keine hinnehmen. Mit sechzehn kam ich als Schüler des „American Field Service“ in ein Choctaw-Indianer-Reservat in Mississippi, bereit, ein weiteres kulturelles Abenteuer zu bestehen, nur diesmal in einem Umfeld der Armut, die ich in diesem Ausmaß in Amerika noch nicht gesehen hatte.
Während der Ferien im Frühling war ich in meinem Choctaw-Internat fast ganz allein, und es wurde mir die Aufgabe zugeteilt, den Kakerlaken in unseren Schlafräumen den Garaus zu machen. Täglich versprühte ich nun Insektizide. Die Kakerlaken hüpften auf, starben und plumpsten auf mich und überall um mich herum. Es war furchtbar. Eines Samstagabends schlug ein anderer Schüler vor, zu einem Erweckungsgottesdienst im Reservat zu gehen. Ich war bereit und hätte alles getan, um den Kakerlaken zu entgehen. Damals begann ich mich zu fragen, was ich überhaupt in Mississippi zu suchen hatte. Eigentlich hatte ich immer von mir geglaubt, dass ich beliebt wäre, aber auf dieser Schule stellte ich die Minderheit dar, die anderen ärgerten sich über mich und ich wurde gemieden, ich war einsam und unglücklich.
Es war stürmisch in dieser Nacht, aber das machte mir nichts aus. Ich lief durch den Regen und durch die Pfützen zum Gemeindehaus und versuchte unbemerkt hineinzuschlüpfen. Doch ich fiel auf, das einzige weiße Mädchen, mit triefnassen, blonden Haaren. Der Prediger, der einen bunt leuchtenden Indianermantel trug, war ein Navajo. Er predigte über seine Tage in der Indianerbewegung und wie sehr er die Weißen gehasst hatte. Ich wurde nervös. Aber dann horchte ich auf. Er erzählte, dass er einen Mann getroffen hatte, der ihn lehrte, wie man die Menschen in ihrem Innern betrachtet – und wie man liebt. Das war es, was ich mein Leben lang gewollt hatte. Er sprach über unsere Sünde und die Notwendigkeit der Vergebung und des Glaubens an Jesus. Dann machte er einen Altarruf. Niemand reagierte darauf.
Plötzlich fühlte ich mich, als ob mich eine Hand am Hemd fasste und nach vorne zog. Mein Herz brach und ich musste weinen. Alleine rannte ich vor fünfhundert Indianern schluchzend zum Altar. Die Frau des Pastors kam, um mich zu beruhigen und um mir zu versichern, dass alles gut wäre. „Es ist nicht gut!“, rief ich. „Ich bin ein Sünder!“ Das war am 13. März 1976.
Glenda, die Pianistin, kam zu mir herüber und umarmte mich herzlich. „Ich bin so froh, dass du errettet bist, aber du brauchst jetzt den Heiligen Geist!“ Ich konnte mich an manches über den Heiligen Geist aus den episkopalen Gebeten erinnern, und ich wollte alles haben.
Glenda lud mich für den nächsten Abend in ihre Pfingstgemeinde ein, die der Heiligungsbewegung nahestand. Eigentlich hatte ich an diesem Abend ins Kino gehen wollen, aber jetzt nicht mehr. Am nächsten Tag fühlte ich mich leicht und frei wie ein Schmetterling. Die Blumen und der Himmel waren wunderschön. Meine Stimmung veränderte sich völlig. Ich erzählte jedem, den ich finden konnte, was mir passiert war, und ich wollte, dass sie dasselbe erfahren. Die ganze Zeit sang ich Lieder für Jesus, ich war so verliebt in ihn, dass ich den Gottesdienst am Abend kaum erwarten konnte.
Es waren nur etwa dreißig Leute da. Scheinbar war ich der erste Fremde seit Jahren. Alle Augen richteten sich auf mich, das kalifornische Mädchen in Jeans und einem knappen Oberteil. Sie luden mich ein, zum Altar zu kommen. Wieder fühlte ich mich von einer Hand gezogen. Mein Herz schlug heftig. Alle dreißig legten ihre Hände auf mich und beteten für meine Taufe im Heiligen Geist. Augenblicklich wurde es um mich herum dunkel, noch nie hatte ich solch eine Dunkelheit erlebt. Doch dann, innerhalb weniger Minuten, sah ich alles leuchtend weiß, sogar mit geschlossenen Augen, einfach leuchtendes, strahlendes Licht. Ich konnte kein englisches Wort hervorbringen, alles, was ich konnte, war in Zungen zu reden. „Nun musst du im Wasser getauft werden!“, sagten sie. Ich nickte einfach nur, unfähig, verständlich zu kommunizieren. Eine Badewanne mit Wasser – und ich wurde umgehend getauft.
Ich bekam ein unstillbares Verlangen nach Jesus. Alles Geistliche, das ich finden konnte, saugte ich in mich auf. Jeden Abend ging ich zur Gemeinde. Ich verschlang die Bibel. Als Legasthenikerin konnte ich nicht gut lesen, also besorgte mir die Gemeinde die King James-Bibel auf Kassetten, die zu meinem wertvollsten Besitz wurden. (Später heilte Gott mich auf dramatische Weise und ich brauchte selbst meine dicken Brillengläser nicht mehr. Ich wurde eine der besten Schülerinnen und sogar Siegerin im Schnelllese-Wettbewerb auf dem Southern California College.) Immer wieder hörte ich mir die Kassetten an, bis sie anfingen zu leiern. Pastor Roark und seine Frau nahmen mich unter ihre Fittiche und öffneten mir ihr Heim. Sie unterwiesen mich, lehrten mich Fasten und Beten und legten mir die Schrift aus. Ich wurde für sie wie eine Tochter – ich war begeistert. Dass etwas so Wunderbares gerade mir passiert war, konnte ich kaum glauben. Es machte mir überhaupt nichts aus, dass sie eine lange Liste von Regeln hatten, was man anziehen durfte und was nicht. Sie sagten mir, dass ich nun nicht mehr tanzen könne, doch alles, woran ich denken konnte, war, wie wunderbar Jesus doch ist. Meinen Traum, Tänzerin zu werden, legte ich zu seinen durchbohrten Füßen nieder.
Ich ging weiterhin zur Schule, lernte Choctaw sprechen und indianische Handwerkskünste – und führte meine Zimmergenossinnen zu Jesus. Der Gedanke, ein Leben im geistlichen Dienst zu führen, kam mir nie, da ich noch nie eine Frau hatte predigen sehen. Im Mai, gegen Ende des Semesters, begann ich ein fünftägiges Fasten, um herauszufinden, was Gott mit meinen Leben tun wollte. Am Abend des fünften Tages ging ich wie geplant zu Roarks kleiner Pfingstgemeinde auf dem Lande. Ich fühlte mich zum Altar hingezogen, kniete nieder und erhob meine Arme zum Herrn. Plötzlich fühlte ich mich an einen himmlischen Ort erhoben. Pastor Roark predigte, doch ich konnte seine laute, kräftige Stimme überhaupt nicht hören. Gottes Herrlichkeit kam wieder auf mich und hüllte mich in ein reines, leuchtendes Licht. Ich war überwältigt davon, wer er ist. Noch nie hatte ich mich so geliebt gefühlt, ich begann zu weinen. Diesmal sprach er hörbar zu mir: „Ich berufe dich zu einer geistlichen Dienerin und zur Missionarin“, sagte er. „Du wirst nach Afrika, Asien und England gehen.“ Wieder raste mein Herz. Ich meinte, sterben zu müssen.
Dann sprach der Herr Jesus zu mir und sagte, dass ich mit ihm verheiratet sein würde. Er küsste meine Hand, und es fühlte sich an, als ob warmes Öl meinen Arm hinunterlaufen würde. Ich war vor lauter Liebe zu ihm überwältigt. In diesem Moment war mir klar, dass ich für ihn jederzeit alles tun und sagen würde. Als er mich rief, sein zu werden, war ich durch seine große Liebe und Barmherzigkeit für diese Welt verdorben worden. Ich war wie betäubt dadurch, dass ich auf mein Rufen eine so mächtige Antwort bekommen hatte. Als seine Gegenwart zu schwinden begann, öffnete ich meine Augen und bemerkte, dass nur noch Glenda und Pastor Roark in der Gemeinde waren. Sie sagten mir, dass ich völlig still und mit erhobenen Händen stundenlang auf meinen Knien gewesen war. Dennoch war ich in keiner Weise müde oder verkrampft. Ich konnte nicht klar sprechen, aber ich lachte mit unbeschreiblicher Freude, als ich daran dachte, dass Gott mich berufen hatte, ihm im geistlichen Dienst und als Missionarin zu dienen.
Gottes Wort an mich war so stark, dass ich am nächsten Tag zu predigen anfing. Jedem erzählte ich von meinem wunderbaren Jesus und seiner großen Liebe zu uns. Er hatte mich seine unbeschreibliche Herrlichkeit sehen lassen, und ich habe niemals zurückgeschaut. Ich gab ihm alles, was ich bin, für alles, was er ist. Das ist der große Tausch. Was ich tue, tue ich um der Liebe willen. Nichts ist zu schwierig oder zu einfach für ihn. Er hat mich in sein unendlich großes Herz gezogen.
Ich fing an, wem ich nur konnte von Jesus zu erzählen – im Reservat, in den Schlafräumen, auf dem Gelände der Schule, daheim in Laguna. Ich begann zu prophezeien, wenn ich den Herrn hörte, und verteilte Traktate. Da mich kein Pastor bat, in einer Gemeinde zu predigen, fing ich an, auf der Straße zu predigen. Mein Hunger nach Gott wuchs beständig.
Ich wollte die Leute für sein Reich gewinnen, also ging ich zum Priester unserer Episkopalkirche und fragte, ob er mir Räumlichkeiten überlassen würde, um eine christliche Kaffeestube zu eröffnen. Er war sehr großmütig und zuvorkommend und öffnete mir die kirchlichen Räume. Mehrere Jahre lang diente ich jeden Freitagabend den Drogenabhängigen, Alkoholikern, Obdachlosen und Besessenen. Ich lernte, wie man Dämonen austreibt und für die Kranken betet. Der Heilige Geist war mein Lehrer.
In dieser Zeit begann ich, auf das Southern California College zu gehen, die heutige Vanguard-Universität. Als ich hinging, um mich einzuschreiben, war die erste Person, die ich sah, Babe Evans, eine christliche Frau, die Hosen anhatte, Make-up und große Ohrringe trug. Ich war mir sicher, dass ich hier am falschen Platz war! Babe sagte: „Hallo, Liebes, wann ist dein Geburtstag?“ Ich nannte ihr mein Geburtsdatum, doch sie entgegnete: „Nein, ich meine deinen geistlichen Geburtstag.“ Das war am 13. März 1977 – genau ein Jahr war seit meiner Bekehrung vergangen. Babe meinte: „Herzlichen Glückwunsch, Kleines! Jesus hat mir gesagt, dass heute dein Geburtstag ist!“
Umgehend begann Gott, mich von der Gesetzlichkeit freizumachen. Ich lernte, dass das zählt, was im Herzen ist, der innere Mensch, nicht Äußerlichkeiten. Gott sagte mir, dass er mich geführt hatte, alles Äußerliche abzulegen, sodass ich mich nur nach ihm sehnen würde. Es war mein Herz, das für ihn wichtig war.
Ich begann, mit einem Mann auszugehen und verliebte mich in ihn. Wir hatten geplant zu heiraten, doch sechs Wochen vor der Hochzeit wurde ich nervös und unruhig. Ich stand in einem tiefen, heftigen Konflikt. Eigentlich hatte ich ein Team nach Europa auf einen Missionseinsatz begleiten wollen, um mit Tanz und Schauspiel zu evangelisieren, doch stattdessen hatte ich mich entschlossen zu heiraten. Ich bewunderte diesen Mann von ganzem Herzen und hielt ihn für wunderbar. Er liebte Jesus, war großartig, stand hinter dem Ruf Gottes an mein Leben. Und er sagte, dass er gewillt sei, überall hinzugehen.
Als die Hochzeit näher rückte, wurde ich nur noch nervöser. Zum ersten Mal empfand ich das Bedürfnis nach einem prophetischen Wort. Aber wenn ich betete, war alles, was ich hören konnte: ja, nein, ja, nein, ja, nein. Ich schrie zu Gott: „Ich muss etwas hören!“
Zu dieser Zeit waren mir gewisse Dienste an meinem College anvertraut. Teil meiner Aufgabe war es, Redner nach dem Gottesdienst zum Essen zu begleiten. In dieser schwierigen Zeit war das zum ersten Mal eine Frau. Obwohl mir die Freiheit gewährt wurde, zur versammelten Schülerschaft zu sprechen, hatten wir noch nie zuvor eine weibliche Rednerin gehabt. Wie ich mich darauf freute, sie zu begleiten! Ich sagte ihr, dass ich in sechs Wochen heiraten, aber eigentlich auf einen Missionseinsatz gehen wolle. Sie warf mir einen Blick zu, den ich nie vergessen habe, und meinte: „Das ist nicht die Art Gottes!“
Ich wusste, dass das ein Wort vom Herrn war. Gott wollte mich nicht verheiraten, wenn mein Herz dafür brannte, das Evangelium in England und Europa zu verkünden. Der Herr gewann die Oberhand in meinem Herzen und sprach zu mir: „Du wirst mir diesen Mann auf den Altar legen, um meiner Herrlichkeit willen und wegen der Berufung auf deinem Leben“.
Es war, als wäre mir der Arm abgetrennt worden. Ich rannte in die Kapelle und weinte. Über drei Stunden lang schluchzte ich und gab diesen Mann, den ich liebte, an Jesus ab.
Der Herr sagte: „Wirst du ihn abgeben und diesem Wunsch entsagen?“ Ich antwortete: „Ja, ich will dir folgen, ich will gehen, wohin du gehst, und tun, was du tust. Ich verstehe das nicht, doch ich vertraue dir.“
Der Herr sucht immer nach Gehorsam. Er fragt: „Wer wird sich niederlegen und sich selbst sterben? Wer wird gehorsam sein?“ Und er hat immer sehr gute Gründe für seine Anweisungen. Mein Verlobter war nicht zu einem Leben des Dienstes unter den Armen im Ausland berufen. Jesus würde mir jemanden geben, der diesen Ruf hatte.
Nachdem ich meine Verlobung gelöst hatte, warf ich mich in jeden nur möglichen Dienst. Während der Ferien führte ich Teams auf Missionseinsätze in der ganzen Welt. Einer dieser Einsätze ging nach Mexiko-Stadt. Dort teilte ich einen kleinen Raum mit zwei anderen Mädchen. Auf dem einzigen Bett des kahlen Raums waren keine Bettbezüge, nur eine zerlumpte Decke. In diesem winzigen Raum lebten sechzehn Leute, er war so klein, dass sie in Schichten schlafen mussten. Trotzdem überließen sie uns den Raum für die Zeit, in der wir in den umliegenden Slums dienten.
Einen Tag bevor wir nach Hause zurückfuhren, ging ich in eine kleine mexikanische Kirche. Ich war in der Anbetung des Herrn versunken, als er plötzlich sehr klar zu mir über seine Pläne für mein Leben sprach. Unter anderem sagte er mir, dass ich nach Indonesien gehen und mit Mel Tari predigen sollte, einem bekannten indonesischen Evangelisten, der dazu gebraucht worden war, Tote aufzuwecken. Wir waren uns noch nie begegnet.
Er sagte mir auch, dass ich in diesem Jahr das College beenden würde, ein Jahr eher als üblich. Und dann teilte er mir mit, dass ich Rolland Baker heiraten würde. Ich hatte Rolland erst einmal getroffen, auf einem Skiausflug der Gemeinde! Wir hatten miteinander geredet, aber ich hatte mir keine weiteren Gedanken darüber gemacht, unter anderem, weil er zwölf Jahre älter war als ich. Was mich wirklich schockte, war, dass Gott sogar Rollands Nachnamen nannte, so dass es kein Missverständnis geben könnte.
Am nächsten Tag brachte ich mein Team zum Flughafen. Als wir durch die Abfertigung gingen, wurde ich angehalten, weil sich mein Visum nicht in meinem Pass befand. Sie ließen mich nicht ins Flugzeug. Ich hatte ein paar Kinder mit meinem Pass spielen lassen, und nun fehlte das Visum. Nachdem ich zu meinen Gastgebern zurückgekehrt war, fand ich dort sechs liebevolle, romantische Briefe von Rolland Baker! Wäre ich nicht zurückgeblieben, hätte ich sie niemals erhalten. Ich freute mich darauf, Rolland wiederzusehen, und schrieb ihm zurück.
Da war noch mehr in meiner Beziehung zu Rolland. Als wir uns in den Staaten bei einem chinesischen Essen wiedersahen, begann ich mit ihm über meine Lehrerin der sechsten Klasse zu sprechen, die mir die Leidenschaft für Mission ins Herz gepflanzt hatte, noch ehe ich überhaupt wusste, was Buße und Errettung waren. Ich teilte Rolland meinen Wunsch mit, diese Frau eines Tages wiederzusehen und ihr dafür zu danken, dass sie diesen Samen gesät hatte. Ich wusste sogar noch immer, wie man auf chinesisch zählte. Mir war klar, dass sie ein Risiko eingegangen war, als sie ihre Missionsgeschichten in einer weltlichen Schule erzählte. Sie hatte großen Einfluss auf mein Leben. Rolland wollte ihren Namen wissen. „Marjorie Baker“, sagte ich. „Das ist meine Mutter!“, meinte er. „Sie kam aus China auf Heimaturlaub zurück, und du warst in ihrer ersten Klasse!“
Einige Zeit danach, während ich in meinem Büro Gott lobte, sprach der Herr wieder sehr klar zu mir und sagte: „Heute Abend wird Rolland dich bitten, ihn zu heiraten.“
Um etwa zehn Uhr an jenem Abend musste ich ins Wohnheim gehen, weil man später nicht mehr eingelassen wurde, und betete still: „Herr, ich habe dich gehört, und nun muss ich in das Wohnheim gehen, ohne dass er mich gefragt hat.“ Genau in dem Moment fragte mich Rolland: „Willst du den Rest deines Lebens mit mir verbringen?“
Ich belegte in dem Semester dreißig Kurse – das Doppelte des normalen Pensums –, weil der Herr mir gesagt hatte, dass ich die Schule in diesem Jahr beenden sollte. Das Arbeitspensum war so hoch, dass ich Rolland nur einmal wöchentlich, mittwochs zwischen 15 und 17 Uhr, zu sehen bekam. Gelegentlich konnten wir an einem Sonntag zusammen sein.
Meine Mutter plante die ganze Hochzeit. Ich ging einfach nur hin. Wir sagten allen: „Wir wollen keine Hochzeitsgeschenke, es gibt keine Listen für Tafelsilber oder Porzellan. Was wir wirklich brauchen, sind zwei Flugtickets nach Indonesien.“ Es war geplant, dass wir zwei Wochen nach unserer Hochzeit nach Indonesien fliegen würden. Wir hatten kein Geld und auch nicht die Unterstützung einer Gemeinde. Aber wir hatten ein Wort von Gott.
Es stellte sich heraus, dass Mel Tari ein enger Freund Rollands war, und er wurde unser Trauzeuge. Er fragte Rolland und mich, ob wir kommen und auf seiner Evangelisation in Indonesien predigen würden. Unsere Freunde waren sehr großzügig und wir hatten fast das gesamte Geld, das wir brauchten, zusammenbekommen – aber nur fast. Es waren fünfhundert Dollar zu wenig. Eines Abends saßen wir mit wohlhabenden Freunden, Millionären, beim Essen und sprachen dabei über unsere Pläne. Plötzlich boten sie uns an: „Wir würden euch gerne eure Stereoanlage für fünfhundert Dollar abkaufen.“ Rolland hatte eine gute Stereoanlage. Sie gehörte zu den wenigen Dingen von Wert, die wir besaßen. Der Herr sprach zu mir: „Ich möchte, dass ihr sie verschenkt. Ihr sollt sie nicht verkaufen.“ Ich war entsetzt. Sie konnten es sich leisten, so viele Stereoanlagen zu kaufen, wie sie nur wollten. Außerdem hatten sie uns genau die Summe angeboten, die wir brauchten. Ich schaute zu Rolland und schrieb ihm eine kleine Notiz. Er nickte. Wir verschenkten die Stereoanlage und gingen in dieser Nacht mit viel Freude nach Hause, weil wir unsere Gelegenheit zu geben nicht verpasst hatten. Das restliche Geld fürs Ticket brauchten wir am nächsten Morgen, aber wir wussten, dass genug da sein würde.
Gleich darauf rief Mel Tari bei Rolland an. „Unser Fotograf hat gerade abgesagt. Auf der Evangelisation predigst du zwar, aber könntest du, als Fotograf, dir auch vorstellen, für uns zu fotografieren? Für diesen Job stehen fünfhundert Dollar zur Verfügung.“ Wir kauften zwei Hinflugtickets und hatten noch dreißig Dollar übrig. Das war im Sommer 1980 – und seitdem hatten wir immer genug.
Es war nie unser Bestreben herauszufinden, wie man sich Unterstützung verschafft oder von Leuten Geld bekommt. Es bereitet uns große Freude, die Reichtümer des Evangeliums wo immer wir hingehen umsonst weiterzugeben. Wir sind Botschafter und Liebhaber des Königs, die das Beste umsonst anbieten. Es gibt keine bessere Arbeit! Im Gegenzug wirkt Jesus auf wunderbare Weise durch seinen Leib, um uns mit allem, was wir brauchen, zu versorgen. In viele Herzen auf der ganzen Welt hat er seine Großzügigkeit gepflanzt und wir brauchen uns niemals Sorgen darüber machen, ob genug da sein wird. Wir sind hungrig gewesen, wir sind herumgereist, ohne zu wissen, wo wir nachts schlafen würden. Jahrelang hatten wir kein Auto. Es gab Zeiten, in denen wir uns nicht einmal eine Cola leisten konnten oder ein Telefonat. Doch wir hatten immer genug, um das zu tun, was Gott wollte.
Sieben Jahre lang reisten wir durch Asien, predigten und dienten durch christliches Tanz-Schauspiel. Wir erlebten, wie Tausende durch unsere Versammlungen den Herrn kennenlernten. Es war ein erfolgreicher Dienst, in dem wir uns frei fühlten, unsere kreativen Gaben als Ausdruck des Lobpreises zu gebrauchen. In dieser Zeit wurden unsere Kinder Elisha und Crystalyn geboren.
Dann begann der Herr, uns eine neue Richtung zu zeigen. Wir spürten, dass wir noch zu etwas anderem berufen waren. Ich wusste, dass noch mehr auf Gottes Herzen war, was er in mich hineinlegen wollte. Jesus sagte uns: „Bleibt stehen, ihr müsst die Armen ansehen.“ Wie der barmherzige Samariter, so müssen auch wir für den Einen stehen bleiben. Jeden von ihnen müssen wir ansehen. Wir gingen nach Indonesien und lebten in den Slums. Ich begann mit einem Arbeitsbeschaffungsprogramm für moslemische Frauen. Sie lebten in Häusern, die aus Kartons und kleinen Blech- und Abfallstücken gemacht waren. Gott sprach zu mir und sagte: „Nimm kein Essen oder Geld für dich mit, und trage die ganze Zeit über, die du dort arbeitest, dieselben zwei Kleider.“ Über ein Jahr lang trug ich also dieselben zwei Kleider. Meine Freunde im Slum brachten mir ihre Sprache bei, und jeden Tag aß ich in ihren Kartonhäusern und trank ihr Wasser. Davon bekam ich oft die Ruhr, aber ich gewann ihre Herzen für Jesus, indem ich sie mich lehren ließ, anstatt sie belehren zu wollen. Nachdem ich gelernt hatte, fließend indonesisch zu sprechen, sprach der Herr: „Jetzt ist es an der Zeit, ihnen den Schatz zu bringen.“ Fast alle Frauen des Ortes wurden geheilt und errettet.
Wir zogen nach Bali um, einem sehr finsteren und dämonischen Ort, und genossen ein Jahr lang einen starken, fruchtbaren Dienst, bis die Regierung unsere Visa widerrief und uns 48 Stunden gab, um das Land zu verlassen. Daraufhin zogen wir nach Hongkong und mussten noch einmal mit einer anderen Sprache ganz von vorne anfangen. Damals sprach der Herr: „Macht einfach so weiter, wie ich es euch gezeigt habe. Setzt euch in den Park und lernt von den Leuten kantonesisch.“ Der Park war ein beliebter Platz, wo sich viele der alten buddhistischen Großmütter trafen. Von Jesus wollten sie zwar nichts hören, aber sie brachten mir bereitwillig und eifrig kantonesisch bei. Während ich von ihnen lernte, begann ich sachte, ihnen von Jesus zu erzählen, und betete für sie, wenn sie krank waren. Sie wurden gleich dort im Park geheilt. Der Herr beschenkte mich mit einem großen Herzen für diese alten Frauen und wir wurden enge Freundinnen. Sie gehörten zu den unerreichten Menschen Hongkongs, die den Namen Jesus noch nie gehört hatten.
So viele Großmütter wurden geheilt, dass wir eine Gemeinde anfangen mussten, die wir liebevoll unsere „Großmutter-Gemeinde“ nannten, und sie fing an zu wachsen. Sie brachten mir ihre Buddha-Götzen und wir schlugen sie im Park in Stücke. Bald dienten wir auch den Drogenabhängigen und Obdachlosen, indem wir ihnen Essen und Liebe gaben, und sie brachten uns ihre Sprache bei. Wir kamen als Lernende und Dienende, und die Armen lehrten uns Gastfreundlichkeit und Großzügigkeit.
Der Herr sandte uns meine wunderbare Freundin Lesley Leighton, um Rolland und mir beim Leiten unserer Gemeinde zu helfen und mit mir Straßenarbeit zu machen. Jesus schüttete durch sie Erbarmen, Einfühlsamkeit und Offenbarung über unserer Arbeit aus, und gemeinsam zogen wir eine kostbare Familie unter den Armen groß, die wir auf chinesisch „Das Heim der liebenden Gläubigen“ nannten.
In Hongkong hatte Jackie Pullingers Arbeit an den Armen großen Einfluss auf uns. Nachmittags brachten wir unsere Großmütter immer in ihre Gemeinde und arbeiteten eng mit ihr zusammen. Jackie predigte: „Wenn ihr mit den Armen arbeiten wollt, dann müsst ihr in den Slums wohnen!“ Rolland war unterwegs, um zu predigen, und ich rief ihn an. „Rolland, bitte lass uns in die Slums ziehen!“ Er verstand unseren Ruf und stimmte zu. Ich fand einen schmutzigen, schwarzen Raum, welcher auf ein altes Gebäude draufgesetzt worden war, ohne Aufzug und im dichtestbesiedelten Stadtteil der Welt. Sogar die verzweifeltsten unter den Armen um uns herum wollten diesen Raum nicht haben. Er war winzig, ungestrichen, ohne Abflussrohre oder Stromversorgung. Sein Blechdach rasselte im Wind. Um zur Schule zu gehen, mussten unsere Kinder jeweils neun Treppenabsätze hoch und runter steigen, in einem dunklen Treppenhaus voll Räucherstäbchenduft und Buddha-Götzen. Unsere Nachbarn waren Prostituierte und Gangster. Doch unser Zimmer auf dem Dach war unser Zuhause. Wir richteten es her und fanden es genau richtig.
Vier Jahre dienten wir in Hongkong, bis ich so krank wurde, dass ich es nicht mehr die Treppen hinauf schaffte. Es wurde bei mir eine ernste Störung des Immunsystems diagnostiziert. Mein ganzer Körper schmerzte. Ich konnte nicht gut genug sehen, um zu lesen, Licht schmerzte mir in den Augen. Monatelang plagte mich Fieber. Meine Lymphdrüsen waren entzündet und geschwollen, und mir war so schwindelig, dass ich oft umfiel. Es war ungewohnt für mich, von anderen gepflegt zu werden. Schließlich wurde ich zu meiner geistlichen Mutter und treuen Ratgeberin, Juanita Vinson, nach Fairbanks in Alaska gebracht. Sie war die erste weibliche Predigerin gewesen, die mir je begegnet war. Ihr Leben, das von Wundern und endloser Liebe geprägt war, hatte mich immer inspiriert. Sie und ein paar wunderbare Frauen aus der Gemeinde pflegten mich vier Monate lang. Ich konnte meine Gemeinde nicht mehr leiten, meine Familie nicht mehr versorgen und selbst meine Bibel nicht mehr lesen. Die ganze Zeit lag ich in einem dunklen Zimmer im Bett und betete oder hörte mir Bibelkassetten an. Ich denke gerne an diese Zeit zurück, denn ich spürte, wie mich der Herr in seinen Armen hielt und mich einfach nur dafür liebte, wer ich war, nicht dafür, was ich für ihn getan hatte oder noch tun würde.
Draußen war es bitterkalt, als der Herr zu mir in diesem dunklen Zimmer sprach, ich solle nach England gehen, um mein Theologie-Diplom zu machen und eine Gemeinde unter den Obdachlosen zu gründen. Es schien mir etwas seltsam, zu einer Zeit, in der ich so krank war, dass ich nicht einmal lesen oder gehen konnte, etwas zum Thema Studium zu hören. Gott lehrte mich mehr über Vertrauen. Es gibt immer genug von allem, was wir brauchen, wenn wir uns ihm ganz anvertrauen.
Allmählich ging es mir wieder gut genug, dass ich nach Hongkong zurückkehren und meinen Dienst wieder aufnehmen konnte. Rolland und ich bewarben uns am King’s College der Universität von London, um Theologie zu studieren. Wir wollten lernen, so viel wir konnten, und uns einem breit gefächerten Denken aussetzen. Wir wurden beide angenommen.
Im Herbst 1991 zogen wir nach London um. Tagsüber rangen wir mit den bekannten theologischen Lehrmeinungen, nachts gingen wir zu den ärmsten verlorenen Schafen, die wir finden konnten, den Obdachlosen, die in Hauseingängen und unter Brücken entlang der Themse in ihren Zelten und Pappverschlägen kauerten. Im Winter war es in London kalt, nieselig und elend. Viele auf der Straße hatten keine Decken, nur dünne, zerlumpte Jacken. Sie konnten kaum schlafen. Monatelang hatten sie sich nicht gewaschen. Manche saßen einfach nur in ihrem Dreck da, mit eiternden Wunden und einem degenerierten Geist.
Kleine Gruppen unserer wachsenden Gemeinschaft gingen zu ihnen, mit Taschen voller Backkartoffeln, die mit Käse gefüllt und in Folie eingewickelt waren. Wir eilten aber nicht einfach nur die Straße runter und gaben Essen aus, sondern blieben bei ihnen und redeten, schlossen Freundschaften und beteten. Außerdem verteilten wir auch Johannesevangelien und luden alle zu einer heißen Mahlzeit, Gemeinschaft, Lobpreis und Bibelstudium in unsere Hauskreise ein.
Ihre Berichte brachen einem das Herz. Eines Abends, als wir mit einer großen Zahl von Leuten zusammenstanden, nahm mich ein junger Mann namens Stephen zur Seite. Er sprach so schlicht und ruhig, dass ich nicht auf das vorbereitet war, was er mir erzählen würde. Seine Frau und seine Kinder waren vor kurzem in Irland durch eine IRA-Bombe getötet worden. Geschockt kam er nach London, wo seine Schwester lebte. Dann wurde seine Schwester vergewaltigt und derart geschlagen, dass sie starb, nachdem sie ein paar Monate gelähmt war. Doch er betete mit mir und Jesus kam, um in seinem Herzen zu wohnen. Er entschloss sich, sein Leben für den Herrn zu leben, fand eine Arbeit, und sein Herz, seine Seele und seine Gedanken fingen an, heil zu werden.
Da gab es Harry, der mit dem blutbefleckten Messer, der aus einem Rehabilitationszentrum für Alkoholiker weggelaufen war, aber dann die Freude am Herrn gefunden hatte. Christina, eine gehässige, bittere Frau auf Krücken, wurde zu einem mitfühlenden Engel der Barmherzigkeit, sie hätte alles getan, um den Menschen zu helfen. Malcolm, ein verkrüppelter Alkoholiker und Diabetiker, fand sein Zuhause in Jesus und unter unserer Londoner Familie. David, der den Freund seiner Ex-Frau ermordet hatte und der dann in die Fremdenlegion eingetreten war, damit er noch möglichst viele andere töten konnte, wurde unter der Kraft des Heiligen Geistes ein ausgeglichener Mensch. Peter hatte schon viermal versucht, sich umzubringen, aber Jesus ließ zu, dass wir ihn vor dem Tod und vor der Hölle bewahrten. Roland, Digger, Steve, Derrick, Mickey, Trevor, Henry, Joe, Evonne, Mary, Robert und so viele andere – sie waren keine Nummern oder Bestandteil von Gemeindewachstumsstatistiken. Allesamt waren sie verletzte Einzelgänger, welche die Liebe Gottes dringender als irgendetwas anderes benötigten, und wir gaben ihnen eine Gemeinde, wo sie ihn finden, anbeten und von ihm empfangen konnten.
In der ersten Zeit glichen unsere Straßenmeetings in London mehr einem Spießrutenlaufen unter Flüchen, Geschrei, Drohungen, Diebstahl und Gewalt. Bei jeder Botschaft wurden wir unterbrochen, verspottet und ausgelacht. Kriminelle zogen ihre Messer gegen uns und schworen, jedes Fenster unserer Wohnung einzeln einzuschlagen. Nachts hämmerten die geistig Verwirrten gegen unsere Tür. Das Telefon schellte alle paar Minuten wegen irgendeiner neuen Krise. Doch wir entwickelten eine Familiengemeinschaft, die uns etwas wert war. Die Armen liefen lahm, geschwächt und frierend durch London, um spätabends an unseren Hauskreisen und Gemeindeveranstaltungen teilzunehmen und dort in die Liebe Gottes einzutauchen. Gemeinsam feierten wir Geburtstage, Hochzeiten, Ostern und Weihnachten. Als ein Leib sangen, lachten und weinten wir. Anwälte aus der City und Intellektuelle von der Universität saßen gemeinsam mit den Einfachen und Armen zusammen, um sich zu unterhalten. Wir waren ein Querschnitt des Leibes Jesu, und wir liebten unseren Gott.
Im September 1992 schrieb Rolland:
Wenn wir aus der U-Bahn-Station auf die Straße heraustreten, wo wir gewöhnlich unsere Meetings abhalten, müssen wir staunen. Noch vor wenigen Monaten waren die Leute hier so, wie es die Obdachlosen überall sind: still, verbittert und gebrochen. Doch wenn wir jetzt dort ankommen, erwartet uns schon eine aufgeregte Menge. Sie grüßen und umarmen uns. Die Gespräche bestehen nicht aus dem üblichen Schimpfen und Fluchen, sondern handeln davon, welchen Hauskreis sie als Nächstes besuchen wollen, vom Gottesdienst der letzten Woche, von neuen Leuten, die sie mitbringen werden, und was sie tun können um zu helfen. „Believer’s Centre“ ist ihre Gemeinde und Familie. Sie helfen uns beim Handzettelverteilen und wollen wissen, wie’s uns so geht. Sie beten für uns! Und natürlich kommen sie eifrig her, um sich Tee und warme Mahlzeiten, die wir mitbringen, abzuholen. Wir verteilen alle Bibeln, Evangelien und Traktate, die wir haben. Wenn wir können, bringen wir auch Kleidung, Decken und Schlafsäcke zu den besonders Bedürftigen.
Mit der Zeit werden wir tief in das Leben der Leute einbezogen. Wir hören zu, reden mit ihnen und beten. Jesus schenkt ihnen Hoffnung und Annahme, und dann Ideen und Initiative. Es ist eine besondere Freude, wenn wir neue Christen haben, die uns voller Eifer bei der Seelsorge helfen und die noch vor wenigen Monaten selbst von Wut und Selbstmitleid erfüllt waren. Nun entzünden sie ein Feuer in den Neuankömmlingen, die von diesem Beweis der echten Bekehrung berührt werden.
„Believer’s Centre“ ist nicht voll von gutsituierten, unabhängigen „normalen“ Leuten, die nicht viel Aufmerksamkeit beanspruchen. Es braucht Zeit und einen langen Atem, um jede einzelne Person Schritt für Schritt aus einer für gewöhnlich schrecklichen Vergangenheit in ein inniges, vertrauensvolles, überwindendes Leben mit Jesus zu führen. Es ist ein langer Prozess. Der Herr war sehr geduldig mit uns, und wir müssen es von ihm lernen. Jeden Gottesdienst sehen wir neue Frucht. Am letzten Sonntag stieg ein ungewöhnlich starker Geist des Lobpreises und der Anbetung zu Gott auf, wie wohlriechendes Räucherwerk, und erreichte seinen Höhepunkt bei dem Chorus:
Jesus, dein Licht füll dies Land mit des Vaters Ehre,
Komm, Heil’ger Geist, setz die Herzen in Brand!
Fließ, Gnadenstrom, überflute dies Land mit Liebe!
Sende dein Wort, Herr, dein Licht strahle auf!
Was für ein großartiges Bild, all diese einst so verhärteten und verbitterten Sünder mit Gottes Liebe und Leben strahlen zu sehen.
Im Januar 1993 verfassten wir einen Bericht über all das, womit wir hier konfrontiert waren, und darüber, was Jesus unter uns tat:
Gestern kam Kenny zu uns. Kurz zuvor hatte er uns angerufen und wir wollten ihm helfen. Kenny stirbt an AIDS. In seinem Körper haben sich Entzündungen verbreitet. Er nimmt starke Medikamente. Jede Infektion ist lebensbedrohlich. Nachdem er letzte Woche nach einem langen Aufenthalt aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ging er in seine einsame Wohnung zurück, um dort seine letzten Tage zu verbringen. Doch fünf Hausbesetzer waren in die Wohnung eingezogen, und wegen eines seltsamen Gesetzes in England konnte sie 28 Tage lang nicht geräumt werden! Kenny blieb nichts übrig, als auf der Straße herumzuirren.
Letzten Samstag traf er unten an der Themse auf eine Gruppe unserer Gemeinde und hörte den Gesprächen über Jesus zu. Er erfuhr Geduld und Anteilnahme. Nachdem er Heidi zur Seite genommen hatte, um ihr ein paar Fragen zu stellen, war er bewegt von den Antworten, die er so nicht erwartet hatte. Kirche und Religion waren für ihn immer nur eine leere Täuschung gewesen. Seine Kindheit, die er in einer Konfessionsschule verbracht hatte, war für ihn eine Schreckensgeschichte, die aus häufigem sexuellen Missbrauch und aus extremer Züchtigung bestand. Die Erinnerung an die Geistlichen ließ ihn heute noch oft frösteln, mit ihren künstlichen Manieren und ihrer inneren Kälte. Sogar der Kaplan des Krankenhauses hatte ihm gegenüber herablassend schlimme Schimpfwörter benutzt. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm einmal jemand „Ich liebe dich“ gesagt hätte. Seine Familie war hart. Nicht einmal einen Geburtstagskuchen hatte es je für ihn gegeben. Heidi gegenüber erwärmte sich sein Herz, doch später an diesem Abend erreichte er seinen Tiefstpunkt. Als er zitternd in einem Eingang lag, urinierte ein Vorübergehender auf ihn, als ob er nichts als Dreck wäre. Daraufhin wollte er sich das Leben nehmen.
In der darauffolgenden Nacht schaffte er es, sich zum „Believer’s Centre“ zu schleppen. Die Leute gingen auf ihn zu und zeigten echtes Interesse an ihm. Er war beeindruckt vom Zeugnis von Billy White aus New York, der von einem schrecklichen Leben in Sünden und Drogen gerettet worden war. Doch schließlich verließ er uns wieder, ohne dass er einen Durchbruch hatte, und war wieder alleine. Gerade als er ein Päckchen Pillen schlucken wollte, um seinem Leben ein Ende zu setzen, kamen ihm die eindringlichen Worte ins Gedächtnis: „Denke daran, dass dein Erlöser lebt!“ Immer wieder hörte er diese Worte: „Dein Erlöser lebt!“ Er kannte die Bibel nicht und konnte sich auch nicht daran erinnern, je zuvor diesen Satz gehört zu haben. Er fühlte sich die ganze Nacht hindurch überführt, als diese Worte ihm immer wieder in den Sinn kamen. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Gegen Morgen fand er in einer Männertoilette schließlich etwas Privatsphäre und bat Gott um Vergebung. Ein tiefer Friede kam über ihn, der ihn erstaunte. Gleich darauf rief er uns an und wir erklärten ihm, dass Jesus der Erlöser ist, und dass der Heilige Geist ihn berührt hatte. Etwas später, in unserem Wohnzimmer, erklärten wir ihm genauer, was Erlösung bedeutete. Er konnte gar nicht mehr aufhören, über den außergewöhnlichen Frieden, der ihn erfüllte, zu reden. Sein Sinn für Humor kehrte zurück und er entspannte sich. Sein Zorn auf Regierungsorgane, Ärzte, Priester, Hausbesetzer und andere verflüchtigte sich. Er umarmte uns und betete mit uns wie ein kleines Kind. Wir gaben ihm ein Exemplar von „Visionen jenseits des Horizonts“ und eine Bibel, trugen ein paar Sachen für ihn zusammen und halfen ihm, nach Schottland zu kommen, wo er sich wieder mit seiner Familie versöhnte. Wir schreiben ihm und beten für ihn, dass der Heilige Geist stark auf ihm bleibt, bis er Jesus von Angesicht zu Angesicht sieht: Unser Erlöser lebt!
Rolland und ich wussten, dass wir nicht in London bleiben würden. Eine vom Herrn gegebene Rastlosigkeit trieb uns an und wir wollten sehen, wie das Evangelium auch die abgelegensten und hoffnungslosesten Situationen verändert. Nachdem unsere Aufenthaltsgenehmigung für die Zeit auf dem King’s College abgelaufen war, übergaben wir unsere Gemeinde in die Hände unseres Co-Pastors Kurt Erickson. Ich liebte unsere englische Familie, und als wir gingen, weinte ich die ganze Zeit, auch noch später im Flugzeug. Die Zeit in London war Gottes Gabe an mich und die nötige Vorbereitung auf die Erfüllung seiner Worte, dass ich als Missionarin nach Afrika gehen würde. Mosambik, ein weit entferntes, armes, fast vergessenes Land an der südöstlichen Küste dieses Kontinents würde die Herausforderung meines Lebens werden. Dies ist die nächste Geschichte.