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III.

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Inhaltsverzeichnis

Rolland ist kein Schönfärber. Er schminkt das Porträt seines Helden nicht an, um ihn liebenswerter oder heldischer wirken zu lassen. Er zeichnet und malt ihn mit all seinen Flecken, Runzeln, Häßlichkeiten, mit seinen Schwächen, Irrtümern und Lastern. Er macht keinen Popanz von Tugenden aus ihm. Sondern: er gibt diesen immer von Leidenschaften geschüttelten Menschen mit seinen erstaunlichen Gaben, Fähigkeiten, Vorzügen, mit seinem Reichtum an Ideen, Mut, Willenskraft, mit seiner Intensität zu denken, zu fühlen, zu arbeiten, und er gibt den Schwächling, den Schwankenden, den Verzweifelnden, der sich selbst verachtet, den leichtfertig Urteilenden, der irrt und übertreibt, den Ungerechten, der sich einbildet, immer gerecht zu sein. Kurz: den Menschen Tolstoi in seinen Höhen und seinen Niederungen.

Was Tolstoi für die junge Generation Frankreichs und Deutschlands um 1890 geworden war, das wurde nicht wenigen unter uns Romain Rolland während der Jahre 1914-1918: der erste Bekenner, der Aufrüttler, der Feind dieser wahnwitzigen „Ordnung”, die Stimme des Gewissens in Europa. Und wie er zu Tolstoi in seiner Not pilgerte, so wallfahrteten zu ihm Hunderte und Tausende, die sich in dieser Welt nicht mehr zurechtfanden. Er enttäuschte sie nicht. Er antwortete ihnen, wie einst Tolstoi ihm geantwortet hatte. Unbeirrbar blieb sein Kampf.

Tolstoi und Rolland. Zwei Verwandte im Geiste, und zwei durch Rasse, Generationen und Welten Getrennte. Der 1828 im Gouvernement Tula geborene Graf und der 1866 als Sohn eines Notars im burgundischen Departement Nièvre auf diese Welt gekommene Rolland sind als Künstler, Moralisten, Geistesmenschen so verschieden voneinander wie die russische Steppe vom Acker Frankreichs. Und dennoch durchströmt beide ein und derselbe menschliche Geist, die Liebe zur Vernunft und der Wille zur Güte. Es ist der Geist der Befreiung des Menschen aus jahrtausendelanger Knechtschaft unter der Tyrannei der Lüge und der Heuchelei, der Geist der Welterneuerung. Sie gehören zu seinen edelsten und mächtigsten Kündern.

Und dennoch... Rolland hat recht, wenn er am Ende seines „Tolstoi” die melancholische Frage aufwirft, woran es lag, daß der unerbittliche Apostel der Menschenliebe sein eigenes Leben nicht vollständig mit seinen Grundsätzen in Einklang bringen konnte. Hier berühren wir die empfindlichste Stelle seiner letzten Jahre, stellt Rolland fest. Wir dürfen heute um so weniger daran vorübergehen: nach dem Ungeheuerlichen der letzten Jahre. Worin wurzelte dieser Dualismus dieses unerbittlichen Geistes, der wie kein zweiter die Identität von Geist und Tat forderte?

Er hat es selbst einmal angedeutet. Erst als Vierundfünfzigjähriger — im Jahre 1882 — bei einer Volkszählung, an der er mitwirkte, sah er das soziale Elend, in dem die Massen der großen Städte leben müssen, in nächster Nähe. Rolland schreibt: „Der Eindruck, den es auf ihn machte, war erschreckend. Am Abend des Tages, an dem er zum erstenmal mit dieser verborgenen Wunde der Zivilisation in Berührung gekommen war und einem Freunde erzählte, was er gesehen hatte, hub er an, zu klagen, zu weinen und die Faust zu ballen.”

Er blieb zwar bei diesen Gefühlsausbrüchen gegen das Unrecht nicht stehen. Im Gegenteil: er erkannte bereits, daß die Elenden die Opfer jener Zivilisation waren, an deren Vorrechten er teilhatte, „jenes Molochs, dem eine auserwählte Kaste Millionen von Menschen opferte”. „Und Glied um Glied entrollt sich ihm” — schreibt Rolland — „die fürchterliche Kette der Verantwortlichkeit. Zunächst die Reichen und das Gift ihres verfluchten Luxus, der lockt und verdirbt”. Das fürchterlichste und unaufschiebbare Problem unserer Tage hat Tolstoi also gesehen, aber nicht zu Ende durchgedacht, sondern nur schmerzhaft gefühlt. Mit der Leidenschaft seines Herzens sah er die Verbrechen und Lügen der Zivilisation. Er suchte ihnen durch Anklage und schonungslose Kritik beizukommen. Ja, in einem von Rolland zitierten Briefe aus dem Jahre 1887 glaubt er urplötzlich den Kern des Problems mit der genialen Intuition, die ihm eigen war, zu entdecken: „Das ganze Übel von heute kommt daher, daß die sogenannten zivilisierten Leute, denen die Gelehrten und Künstler zur Seite stehen, eine privilegierte Klasse sind, wie die Priester. Und diese Kaste hat alle Fehler einer jeden Kaste.”

Tolstoi hat aus dieser Erkenntnis keine Folgerungen gezogen. Er blieb ein anarchistischer Individualist (mit stark kommunistischen Zügen). Einer, der gegen die cyklopischen Mauern dieser wahnwitzigen Gesellschaft immer wieder anrennend sich verschwendete und der sich schließlich aufrieb... Ein furchtloser Unterminierer der verlogenen und verbrecherischen „Kultur”.

Er aber, der Seher einer neuen Kunst für eine Menschheitsgemeinschaft, einer Kunst also, die nicht mehr Eigentum einer einzelnen Klasse sein wird, blieb mit sich allem, verlassen von seinen Nächsten, unzufrieden mit sich selbst... Er ging in die Wüste...

WILHELM HERZOG

Das Leben Tolstois

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