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Kapitel 3
ОглавлениеSie rasten mit mehr als 450km/h durch die Finsternis. Der Bordcomputer des Gleiters gelangte an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Ständig wurde sein Kraftfeld von irgendwelchen durch die Luft sausenden Gegenständen oder Trümmerteilen getroffen, welche ihn vom errechneten Kurs abbrachten. Zwar korrigierte die Maschine im Bruchteil einer millionstel Sekunde die Abweichung und flog weiter sicher zwischen den großen Hindernissen hindurch, doch kam sie immer weniger mit den ständig sich verändernden Umgebungsdaten zurecht. Als das Computer-Display zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten "Error" anzeigte, drosselte der Vater die Geschwindigkeit auf 200km/h. Ein verhängnisvoller Fehler.
Denn nun gerieten sie in die Reichweite der bereits überall auftauchenden Bestien, die ihrerseits auf Air-Bikes Jagd auf die Überlebenden machten. Diese kleinen, ein- oder zweisitzigen Fluggeräte waren zwar bei weitem nicht so schnell wie der Gleiter von Lisas Vater, aber dafür umso wendiger und vor allem sehr leicht zu tarnen. In der Finsternis waren die Air-Bikes überhaupt nicht zu erkennen. Sie flogen mit Nachtsichtgeräten, die ein für das menschliche Auge unsichtbares Licht ausstrahlten. Nur im grellen Licht der Explosionen oder im flackernden Schein der unzähligen Brände waren sie mit bloßem Auge auszumachen. Wenn sie in den Lichtkegeln der Gleiter auftauchten, war eine Flucht meist gar nicht mehr möglich.
Das wusste aber weder der Vater noch die Mutter, weswegen sie die Geschwindigkeit des Gleiters so drastisch reduzierten und glaubten, dadurch die Gefahr für sich und die Kinder zu reduzieren. Sie dachten nur an die Möglichkeit eines drohenden Crashs, falls der Bordcomputer ausfallen sollte und vergaßen darüber, mit wem sie es zu tun hatten. Die Bestien waren schließlich keine keulenschwingenden Halbaffen und auch keine tollwütigen Raubtiere. Sie waren technisch bestens ausgerüstete Jäger, die über modernste Waffen und Fluggeräte verfügten. Eines davon stieß wie ein Raubvogel auf den Gleiter herab, blieb etwa in fünfzig oder sechzig Metern Höhe über ihm stehen und bannte ihn in das grelle, schneeweiße Licht seiner Lichterphalanx.
Geblendet von dem plötzlich auftauchenden Licht, nahm der Vater instinktiv die Hände vom Display der Steuereinheit und schützte seine schmerzenden Augen. Sofort stoppte der Gleiter und kam zum Stillstand. Ein Gravitationsstrahl presste ihn gegen den Boden. Lisa spürte die Energie des Strahls trotz des nach wie vor intakten Kraftfeldes, welches den Gleiter umgab. Es fühlte sich an, als ob ihr jemand mit der Faust in den Magen geboxt hätte. Sie erschrak und hielt einen Augenblick lang die Luft an. Neben ihr fing der kleine Martin an zu schreien. "Mama!", kreischte er. "Mein Bauch tut weh!"
Die Mutter wollte sich gerade umdrehen und Martin beruhigen, als ein roter Blitz direkt vor der Frontscheibe des Gleiters in das Kraftfeld einschlug. "Die schießen auf uns!", rief der Vater erschrocken. "Sie wollen das Kraftfeld lahmlegen!" Alle erstarrten vor Furcht und starrten einen Augenblick aus weit aufgerissenen Augen durch die Scheiben nach draußen.
Das sonst unsichtbare Kraftfeld des Gleiters wogte in neongrünen Wellen auf und ab, angestrahlt von den Scheinwerfern des Kampfschiffes, das reglos über ihnen am finsteren Himmel stand. Es war unmöglich, irgendetwas jenseits dieser Lichtpyramide zu erkennen. Lisa hatte das Gefühl, als wären sie in einem Gefängnis aus Licht eingeschlossen. Da traf ein erneuter Laserstrahl das Kraftfeld. Wieder wurden sie alle von einem roten Blitz geblendet. Für einige Sekunden hatte Lisa das Gefühl blind zu sein. Sie rieb sich die Augen, drückte sie ganz fest zu und riss sie dann voller Verzweiflung wieder auf. Sie war nicht blind. Sie sah das Licht. Und im Licht die Gestalt. Lisa stieß einen markerschütternden, schrillen Schrei aus.
Jenseits des Kraftfeldes stand einer dieser Untoten. Er starrte Lisa mit seinen leblosen Augen bösartig an und fletschte seine spitzen, fauligen Zähne zu einem teuflischen Grinsen. Wie hypnotisiert blickte sie auf diese Bestie. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie etwas so grauenvolles gesehen wie dieses Monster. Die Kreatur war von übermenschlicher Größe, gut und gerne zweieinhalb Meter groß, und schien nur aus Muskeln zu bestehen. Unter den in Fetzen an ihr herabhängenden Kleidungsstücken erkannte Lisa ganz deutlich die gewaltigen Oberarme und Brustmuskeln. Die Pranken dieses Ungeheuers waren so groß wie Lisas Kopf. In einer davon hielt er ein Lasergewehr mit dem er direkt auf sie zielte.
Der rote Blitz schoss auf sie zu, Lisa schrie auf und riss die Arme hoch. Das Kraftfeld wogte und flatterte unter dem Aufprall des Schusses und nahm eine eigenartige blassrosa Farbe an. "Das Kraftfeld!", schrie der Vater. "Es bricht zusammen!" Der zweite Schuss durchdrang das Kraftfeld und traf den Gleiter direkt in der Steuereinheit. Sofort füllte sich der Innenraum mit dicken, übelriechenden Rauchschwaden. Die Mutter drückte auf den Knopf für die beiden Flügeltüren. Sie schnellten hoch und gaben den Weg frei nach draußen. Der Rauch stieg in zähen, schweren Wolken hinauf ins gleißende Licht des Kampfschiffes, das noch immer direkt über ihnen am Himmel stand. Lisa sprang aus dem Gleiter. Direkt in die Arme der Bestie.
Mit stählernem Griff packte der Riese Lisas Arm und hielt sie fest, während er das Gewehr, das er in der anderen Hand hielt, dem Vater auf den Kopf schlug. Lisas Vater brach bewusstlos zusammen. Auf der anderen Seite des Gleiters drückte die Mutter den wimmernden Martin an sich und flehte mit ängstlicher Stimme die beiden Monster um Gnade an, die langsam auf sie zukamen. Lisa war wie gelähmt vor Angst.
Der Untote stank entsetzlich nach fauligem Fleisch und etwas anderem, das sie nicht einordnen konnte. Ihr wurde so übel, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Lisa konnte kaum noch stehen. Ihre Knie zitterten und all ihre Kraft schien mit einem Mal verschwunden. Sie konnte nichts anderes tun, als dieses Ding anzustarren, in dessen Gewalt sie sich befand. So musste es dem anderen Mädchen auch ergangen sein. Anne.
Es war komisch, aber in diesem Moment musste Lisa ausgerechnet an dieses Mädchen denken, das sie nie persönlich kennengelernt hatte. Auch sie war von solchen Monstern gefangen worden. Ob sie wohl geheult und geschrien hatte? Hatte sie gewusst, was mit ihr geschehen würde? Lisa wusste es. Irgendwie kam ihr alles so unwirklich vor. Es war wie ein böser Traum. Diese teuflische Kreatur neben ihr würde sie fressen. Und sie war ihr schutzlos ausgeliefert. Der Vater lag bewusstlos neben ihr am Boden, irgendwo im Hintergrund hörte sie die hysterischen Schreie der Mutter, die immer wieder den Namen von Lisas Bruder rief. Offensichtlich hatte man ihr den kleinen Martin aus den Armen gerissen.
Lisa sah an dem Monster hinauf in dessen riesiges, fast quadratisches Gesicht. Der Kopf ruhte auf einem breiten Hals, an dem dicke Adern zu erkennen waren, die mit etwas grünem gefüllt waren, das keine Ähnlichkeit mit menschlichem Blut hatte, obwohl dieses Monster eindeutig einmal so etwas wie ein Mensch gewesen sein musste. Das Kinn war eckig und breit, seine Nase groß und platt und seine tief eingefallenen Augen lagen unter mächtigen Augenwülsten. Stirn und Wangen waren von tiefen Narben zerfurcht. Das Haar hing in fettigen Strähnen am Schädel herab. Der Körper des Untoten steckte in einer zerrissenen Tarnuniform, die über und über mit getrocknetem Blut und Exkrementen verschmiert war. Die schwarzen Kampfstiefel waren voller Risse und an der linken Stiefelspitze klaffte ein großes Loch, unter dem die Stummel von zwei zum Teil zerschossenen Zehen zu sehen waren. Um die Hüften und auf dem Rücken trug das Monster Unmengen von Waffen mit sich. Messer, Beile, zwei Laserpistolen, einen Raketenwerfer und mehrere Seile. Als Lisa das alles sah, wurde ihr klar, dass der Untote einmal ein Soldat gewesen sein musste. Sie wurden von einer Armee getöteter Soldaten angegriffen, deren zerschossene, seelenlose Körper wieder zum Leben erweckt worden waren.
Und nun machte diese Armee Jagd auf Menschen. Die einen töteten sie, die anderen nahmen sie gefangen. Als Fleisch-Vorrat für später. Diese Bestien brauchten Menschenfleisch, um ihre halb verwesten Körper mit frischer Energie zu versorgen. Soviel war Lisa inzwischen klar. Aber was sollte sie tun? Ihr Oberarm schmerzte unerträglich. Der Untote hielt sie so fest, dass sie glaubte, er wolle ihr den Arm brechen. In den Arm beißen wollte sie ihn nicht. Schon beim Gedanken daran, ihre Zähne in diese verfaulte, stinkende Haut zu schlagen, überkam sie ein heftiger Brechreiz. Da erlosch plötzlich das Licht und das Kampfschiff verschwand unhörbar in der Finsternis.
Der Untote neben Lisa reckte seinen Arm in die Höhe und schwankte sein Gewehr durch die Luft. Dabei stieß er fürchterliche, kehlige Schreie aus. Es klang wie das Brüllen eines Löwen. Er schien den Piloten des Kampfschiffes zuzujubeln oder ihnen eine gute Jagd wünschen zu wollen, vielleicht bedankte er sich auf diese grauenvolle Weise auch nur für deren Hilfe bei der Gefangennahme von Lisas Familie.
Nun, da das grelle Licht verschwunden war, konnte Lisa wieder erkennen, was um sie herum vor sich ging. Zumindest bruchstückhaft. Sie befanden sich noch immer auf der FS-83, der Flugschneise 83, dem zentralen Gleiter-Highway zum Nationalpark. Rundum waren sie von dichtem tropischem Regenwald umgeben. An manchen Stellen brannte der Wald. Aber vielleicht waren es auch nur die Gleiter, die abgestürzt oder in Brand gesteckt worden waren. Sie sah eine ganze Schar von Air-Bikes den Highway entlang sausen. Man hätte fast meinen können, die Monster veranstalteten aus purem Übermut Wettflüge. Doch sie verfolgten fliehende Menschen und fingen sie mit ihren Gravitationsfallen wie wilde Tiere.
Offensichtlich waren Lisa und ihre Familie nicht die einzigen gewesen, die auf die Idee gekommen waren, zu den Vulkanhöhlen zu fliegen. Den Highway entlang lagen mindestens ein Dutzend brennende oder qualmende Gleiterwracks. In der Ferne konnte man die Lichter anfliegender Gleiter sehen, die versuchten, trotz des Unwetters mit voller Geschwindigkeit durchzubrechen. Sie surrten in relativ großer Höhe über Lisas Kopf hinweg und ließen die Air-Bikes zwar mühelos hinter sich, kamen aber dennoch nicht weit. Überall in der Finsternis lauerten die getarnten Kampfschiffe am Himmel.
Ein Gleiter kollidierte mit einem der feindlichen Schiffe und verwandelte sich in einen riesigen Feuerball, der die Dunkelheit weithin mit seinem orangeroten Licht erhellte. Die Karosserieteile verwandelten sich in messerscharfe Projektile, die wie Leuchtspurgeschosse weiße Linien in die Luft malten. Ein solches Wrackteil traf den Untoten neben Lisa an der Schulter.
Das Monster wurde von der Wucht des Aufpralls nach hinten geschleudert. Er ließ Lisa zwar los, doch sein riesiger Körper riss sie dennoch zu Boden. Glücklicherweise fiel er nicht auf sie. So konnte sie rasch aufspringen. Einen kurzen Moment sah sie auf den getroffenen Untoten hinab. Er lag brüllend und mit dem unversehrten Arm fuchtelnd am Boden und erwiderte ihren Blick voller Hass. Die Bestie entblößte ihre Fangzähne und drohte Lisa mit der Faust. Da hörte sie noch ein Brüllen. Lisa drehte sich um und sah den anderen Untoten, der gerade damit beschäftigt gewesen war, ihren Vater zu paralysieren. Erst jetzt begriff sie, dass der am Boden liegende Untote ihr nicht mit der Faust drohen, sondern seinen Kameraden auf sie aufmerksam machen wollte. Der ließ auch sofort vom Vater ab und machte Anstalten, sich auf sie zu stürzen.
"Lisa!", rief ihr Vater. "Hol' Harry!" Der Board-Androide! Lisa hatte ihn ganz vergessen. Mit drei großen Schritten war sie beim Gleiter, öffnete die Heckklappe und trat zur Seite. "Harry!", schrie sie voller Verzweiflung. "Hilf mir!" Da war auch schon der andere Untote neben ihr.
Gerade als er sie an den Haaren packen wollte, schoss Harry wie ein Blitz aus dem Gepäckabteil des Gleiters heraus und rammte sich in den Bauch des Riesen. Das Monster wog gut und gerne 180 oder 200 Kilo, doch Harry trug den zappelnden Körper mühelos davon und warf ihn über dem Wipfel eines Baumes ab. Dann kehrte er zu Lisa zurück. "Bist du verletzt, Lisa?", fragte Harry und führte eine erste rasche Untersuchung ihres Körpers durch. "Mir geht es gut!", erwiderte sie voller Erleichterung. Wäre Harry kein Fly-Board gewesen, sie hätte ihn vermutlich erst einmal in den Arm genommen, so glücklich war sie. "Das ist leider nicht korrekt", sagte Harry. "Was meinst du?" Lisa sah Harry erstaunt an. "Dein Zustand ist nicht akzeptabel, du stehst unter Schock!", erklärte er. "Harry, lass den Quatsch!", schimpfte Lisa. "Wir müssen Mama und Martin finden. Die Monster haben die beiden weggebracht. Aber erst einmal helfen wir Papa!" "Nein!", schrie der bewegungsunfähige Vater und sah an Lisa vorbei auf den anderen Untoten, der gerade wieder versuchte, auf die Beine zu kommen. "Verschwindet! Sofort! Harry, bring' auf der Stelle Lisa hier weg!"
Lisa schrie und schüttelte den Kopf, sie weinte herzzerreißend und weigerte sich, dem Befehl des Vaters zu gehorchen. Sie wollte ihn umarmen, sich an ihn drücken, doch er verbot es ihr mit scharfen Worten. Die Untoten hatten ihm ein infektiöses Narkotikum gespritzt, das nicht nur die Muskeln in den Armen und Beinen lähmte, sondern auch durch Körperkontakt auf andere Menschen übertragen werden konnte. Würde Lisa ihren Vater berühren, wäre sie ebenso bewegungsunfähig wie dieser. Geschüttelt von Weinkrämpfen stand sie vor ihrem Vater, sah in dessen schmerzverzerrtes Gesicht und war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Bis sie dieses dämonische Brüllen wieder hörte.
Der Untote hatte sich wieder erhoben und versuchte gerade sein Lasergewehr in Anschlag zu bringen. Harry beschleunigte in wenigen Millisekunden von Null auf Höchstgeschwindigkeit und enthauptete mit dem Vorderteil seiner Standfläche das Monster, bevor dieses auch nur erkannte, was vor sich ging. Lisa würgte und übergab sich, als sie das sah. Der Körper fiel wie ein nasser Sack zu Boden und blieb liegen. "Schaff' sie endlich hier weg!", schrie der Vater wütend und sah voller Sorge auf Lisa. "Geh, bitte, mein Schatz! Mir passiert nichts. Sobald ich Mama und Martin gefunden habe, komme ich nach. Wir treffen uns in den Höhlen." Lisa schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass er log. Er wollte sie in Sicherheit wissen, ehe die nächsten Monster kamen. Wenn sie jetzt ging, würde sie ihn nie wieder sehen. Davon war sie fest überzeugt. "Lisa!" Die Stimme des Vaters klang wütend. Sie schüttelte nur mit dem Kopf. "Harry! Befehl 2/13/B."
Lisa verstand kein Wort und wurde von dem, was Harry tat, vollkommen überrascht. Er aktivierte sein Kraftfeld, lud sich Lisa per Leitstrahl auf und flog sofort los. Befehl 2/13/B war eigentlich für den Fall programmiert worden, dass Lisa etwas zustoßen sollte und sie verletzt würde. Harry hätte in so einer Situation Lisa in eben dieser Weise zu sich nehmen und nach Hause bringen sollen. Jetzt raste er mit halsbrecherischen 80km/h durch den dichten Regenwald. In der Nähe des Highways waren sie nicht sicher. Dort wimmelte es von Untoten. Und deren Air-Bikes waren fast drei Mal so schnell wie Harry. Also blieb nur der Weg quer durch den Wald.