Читать книгу Der Hebräerbrief - Ein heilsgeschichtlicher Kommentar - Roman Nies - Страница 6

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Einführung

Wenn man den Hebräerbrief auf sich einwirken lässt, gewinnt man den Eindruck, dass der Verfasser die Glaubensfelle der christlichen Gemeinschaft, die er anschreibt, wegschwimmen sieht. Im Blick auf das Ziel des Glaubens hätte der Verfasser viel vorzutragen, aber „es lässt sich schwer darlegen, weil ihr im Hören träge geworden seid.“ (Heb 5,11). Anstatt nun selber Meister der Lehre geworden zu sein, „habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre, was die Anfangsgründe der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben und nicht feste Speise.“ (Heb 5,12)

Das ist eigentlich ein vernichtendes Urteil, denn es bedeutet, dass die angeschriebenen „Hebräer“ im Glauben Kleinkinder geblieben sind. Sie haben nur wenig oder nichts dazugelernt, seitdem sie das Licht der neuen Glaubenswelt erblickt haben. Was ist schiefgelaufen, fragt man sich? Wie konnte es so weit überhaupt kommen, dass es irgendwann einmal notwendig war, einer Gemeinde - und hier ist es nicht „eine“ Gemeinde, sondern allem Anschein nach die ganze Gemeinde Jesu Christi - nicht die Leviten, sondern die Evangelien zu lesen?

Das erinnert stark an das, was Johannes in seiner letzten Enthüllung apokalyptisch über und an die Gemeinden der Sendschreiben, real existierende Gemeinden im kleinasiatischen Raum zu seiner Zeit, zu schreiben hatte. Es ist der gleiche historische Ort und die gleiche historische Zeit, an die auch der Hebräerbrief anknüpft. Es sind Gemeinden, die noch einen starken messianisch-jüdischen Charakter haben, wie die zahlreichen Hinweise im Enthüllungsbuch des Johannes unzweifelhaft darlegen. *1

Diese Gemeinden sind wie die Hebräer, denn es sind jüdische Gemeinden. Auch sie werden gewarnt: Sie haben die erste Liebe verlassen (Of 2,4); sie haben Irrlehrer, die mit der Unwahrheit Kompromisse eingehen, unter sich (Of 2,14.15); sie dulden Götzendiener bei sich (Of 2,20); sie sind schläfrig geworden (Of 3,2.3); sie sind lau und blind geworden und bilden sich dennoch viel ein (Of 2,16.17). Ja, man denkt unwillkürlich dabei auch an heutige Kirchenvorkommnisse. Gibt es überhaupt in der Bibel auch nur einen Satz, der nicht in einer passenden Analogie jedem Menschen noch etwas zu sagen hätte? In der Bibelauslegung muss es aber zunächst einmal darum gehen, zu erfahren, was der Absender einer Nachricht einem ganz bestimmten Empfänger sagen wollte. In der Bibel gibt es jedoch immer mindestens zwei Absender. Der eine ist der Bote selbst, der Verfasser der Nachricht, der andere ist Gott.

Der Hebräerbrief wendet sich hauptsächlich an die messianischen Juden, die die Überlieferung hier richtigerweise „Hebräer“ genannt hat. *2 Zu den Hebräern gehören aber auch die nichtmessianischen Juden und ganz sicher lädt der Briefverfasser alle Juden ein, den Inhalt seines Briefes zur Kenntnis zu nehmen, denn der Brief ist ein Lehrwerk für alle Juden. Aber nicht nur das. Er ist für Nichtjuden ebenso wichtig. Ihre Adresse steht unsichtbar unter derjenigen der Hebräer. Der Brief ist von einem Juden an Juden geschrieben worden. Der Verfasser und jeder, der den Brief oder eine Abschrift davon zur damaligen Zeit weitergibt, weiß natürlich, dass ihn die nichtjüdischen Christen genauso im Umfeld der messianischen Juden zur Kenntnis bekommen werden.

Alle wichtigen Personen, die bei der Verbreitung des Evangeliums mitwirkten, waren zu jener Zeit Hebräer. Die Nichtjuden spielten in der Anfangszeit des Christentums, jedenfalls bis etwa zur Zeit der Zerstörung des Tempels, eine untergeordnete Rolle. Der Untergang Jerusalems ereignete sich unmittelbar nach der Zeit der Apostel Jesu, denn diese waren, bis auf Johannes, alle schon umgekommen und die Jerusalemer Gemeinde war auch mit dem Tempel untergegangen. Das ist kein Zufall, weil der Tempel und die Jerusalemer Gemeinde in einem engen Kontext standen.

Als sich die christliche Gemeinde weiterentwickelte, übernahmen die Nichtjuden mehr und mehr das Mehrheitszepter. Es waren dabei maßgeblich gebildete Griechen beteiligt, die schon immer in einer Art geistigen Konkurrenz zum Judentum und dessen gelehrtesten Vertreter gestanden hatten. Diese Konkurrenz, die man als hellenistisch-judäisch bezeichnen kann, wirkte auch im entstehenden Christentum weiter fort und kulminierte in der Entstehung einer nichtjüdischen Staatskirche, die von hellenistischen Denkvoraussetzungen und Glaubensvorstelllungen durchdrungen war. Die reine Lehre von Jesus oder Paulus war schnell verloren gegangen.

Von da an war das Schicksal der messianischen Juden besiegelt. Damit verschwanden auch weitgehend die biblischen Lehren des Petrus, Johannes, Jakobus und Paulus. Übrig blieb eine sonderbare Mischung von heidnischen, jüdischen und christlichen Elementen, die von allem etwas genommen hatte und es synkretistisch miteinander zum sogenannten Christentum verband. Aus diesem war das messianische Judentum ausgeschlossen und wurde zunehmend mit Feindlichkeit und Härte abgewiesen.

Zunächst beförderte der staatliche Ordnungssinn Kaiser Konstantins, der zunächst noch durch und durch ein Heide war, die christliche Kirche auf einen Rang über den anderen Religionen. Daraus erhob sich bald die Kirche Roms bei Konstantins Nachfolgern auf dem Kaiserthron als dominierend und richtete sich nur zu gerne nach den kaiserlich angeordneten Verboten zur Ausübung des neutestamentlichen Glaubens, den noch Jakobus oder Petrus oder Johannes ausgeübt hatten, über welchen die staatlich geförderte Kirche nun aber den Bann verhängte. Das betraf nur wenige Menschen, denn die Mehrheit im Römischen Reich waren Nichtjuden. Die Apostel Jesu und ihre Schüler hatten noch die biblischen Feiertage und den Sabbat gehalten. Dies alles war mit Ende des vierten Jahrhunderts im Römischen Reich Christen nicht mehr gestattet und Juden wurde es immer schwerer ihre Religion auszuüben.*3

Der Hebräerbrief richtet sich nicht an Vertreter des Christentums des vierten Jahrhunderts, sondern an Christen, insbesondere messianische Juden des ersten Jahrhunderts. Das war eine Zeit, als die Verfolgung durch die Staatskirche noch nicht begonnen hatte. Dafür gab es eine Verfolgung durch Juden und das Heidentum, denen diese jüdische Sekte, als welche diese neue Glaubensgemeinschaft wahrgenommen wurde, ein Ärgernis war. Dieser Druck hatte ausgereicht, um viele, die sich der Bewegung angeschlossen hatten, aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Und auch hier gilt das Gleiche wie bei den Mahnungen in den Briefen von Petrus, Johannes und Paulus: es gab auch viele Mitläufer und Glaubensnovizen, die nicht über die innere Stärke verfügten, allen Herausforderungen gewachsen zu sein. Sie befanden sich in einem eher feindlichen Umfeld und die nächsten Angehörigen, die oft aus der eigenen Familie kamen, waren nicht selten die schärfsten Gegner.

Wer sich heute als Angehöriger einer anderen Religion zum Christentum wendet, kann vielleicht seine Familie verlassen, das Dorf, die Stadt, vielleicht sogar das Land. Europa und Nordamerika haben die Fähigkeit und den politischen Willen Flüchtlinge aufzunehmen, wenn sie in ihren Herkunftsländern verfolgt werden. Damals stand die ohnehin fragile Existenz in den Provinzen des Römischen Reichs erst recht auf der Kippe, wenn man sich aus der Sippe entfernte. Das Leben war härter und kürzer im Vergleich zum Leben in den heutigen Wohlfahrtsstaaten, in denen der Staat viele Aufgaben der Familie übernommen hat. Man braucht keine Familie zum Überleben. Und doch ist es auch heutzutage noch für Muslime nicht gefahrlos möglich, die Religion zu wechseln, ganz gleich in welchem Staat sie leben. Auch Juden akzeptieren es in der Regel nicht, wenn einer der ihren Christ wird. *4

Wenn die „Hebräer“, die der Verfasser kritisch in seinem Brief anschreibt, noch wie „Milchbubis“ sind (Heb 5,12), dann verwundert es nicht, dass ihnen die Verzögerung der Ankunft des Messias zu einem Glaubenshindernis wurde. Das eigentliche Problem war ja nicht, dass der Messias noch nicht kam, denn wer sich einmal für den Messias entschieden hat, der lebt und stirbt für Ihn, wie es Paulus einmal gesagt hatte (Gal 2,19-20). Das Problem war eher, dass es immer geheißen hatte, Jesus komme bald zurück in Herrlichkeit. Er kam aber doch nicht so bald, wie man es selber erwartet hatte. Wer glaubensschwach ist, wird noch glaubensschwächer, wenn etwas nicht den Erwartungen entspricht. „Was stimmt jetzt noch?“ fragten sich manche. Dabei sinkt die Bereitschaft, überhaupt noch etwas zu glauben. Man begnügt sich mit der Milch der Glaubensgrundlagen, weil sie leichter verdaulich und bekömmlicher ist, als feste Speise. Und sie hat auch eine Unverbindlichkeit, die vermeintliche, aber gewollte Freiräume schafft. So ist auch heute im 21. Jahrhundert weitgehend die Verfassung der Christenheit, wenn der Glaube überhaupt noch darüber hinausgeht, lediglich einem Kulturkreis anzugehören, der bestimmte Werte zu verteidigen hat.

Der Verfasser des Hebräerbriefes schreibt gegen diese Glaubens-Suppenesser und Zweifler an der Verheißung an. *5 Sie sind glaubensmüde und schwerhörig, schlaff und wankend geworden. *6 Sie sind nur noch Hoffende, nicht mehr Erwartende (Heb b10,35-39). Der Hebräerbrief wird so zu einem Mahnbrief. Wie konnte es zu dieser Situation kommen?

Christus war nicht der einzige Heiland. Im ersten Jahrhundert gab es viele Konkurrenten. Jesus war im ersten Jahrhundert nicht einmal der bekannteste Heilsgott. Asklepios war damals die Nummer eins der Wundergötter. Ihn gab es schon seit 500 Jahren als Gott, der angebetet worden ist. Und er würde noch drei Jahrhunderte weiter „regieren“, bevor er tatsächlich von Jesus – religionsgeschichtlich gesehen – abgelöst wurde.

Im östlichen Mittelmeer hatte man außerdem die Lokalgottheiten, die bei einem drohenden Unheil oder bei Krankheit um Hilfe angerufen werden konnten. Wer sich von diesen nichtjüdischen Menschen für das Christentum interessierte, tat das also nicht unbedingt deshalb, weil er dem Evangelium glaubte oder weil ihn die Geschichte des Jesus Christus oder die Bibel der Juden irgendwie beeindruckte. Vielleicht wollte er nur noch auf eine weitere Quelle des Heils zurückgreifen. Wenn Asklepios nicht half, oder gerade nicht verfügbar war, weil man ihm nicht geopfert hatte, dann konnte man sich ja diesem jüdischen Jesus zuwenden. Auch solche „lauen“ Leute befanden sich im Umfeld der ersten Gemeinde. *7

Das besondere bei Asklepios war, dass er ursprünglich ein Schlangengott war, seine Heilkraft aber von Apollon, seinem Vater, geerbt hatte. Sein Stern ging auf, seitdem es in Epidauros auffällig viele Wunder bei seiner Anbetung gegeben hatte. Das Interessante an der Geschichte ist aus biblischer Sicht, dass Gott JHWH das Schlangensymbol bei den Israeliten in der Wüstenwanderung benutzt hat. Gott hatte Mose geboten, dass er eine eherne Schlange herstelle und auf eine Stange hefte (4 Mos 21,8). Wer von einer Schlange gebissen würde, sollte sie anschauen und dadurch geheilt werden. Das Symbol der Ärzte zeigt genau dieses Schaustück, wo es jedoch als Äskulapstab bezeichnet wird. Das ist sonderbar, aber nicht außergewöhnlich, denn biblische Symbole, Inhalte und Ereignisse tauchen in der Geschichte des Heidentums meist im Zusammenhang mit Legenden und Kulten auf, die zumindest zum Teil ihre Unglaubwürdigkeit bewiesen haben. Das trifft nicht auf die biblischen Sachverhalte zu. *8 JHWH tritt also in der Ärzteschaft in eine gewisse Konkurrenz zu diesem Asklepios. Aber eher ist es umgekehrt, denn JHWH war vor Asklepios. Irgendwie scheinen Israeliten oder jedenfalls das, was sie zu ihrer Heilskunst zählten, auf die griechischen Inseln gelangt zu sein, wo sich dieser Schlangen-Stabglaube erhalten hat, denn es ist unwahrscheinlich, dass sich neben der biblischen Geschichte noch etwas Ähnliches unabhängig davon entwickelt hat.

Die Konkurrenzen zur Bibel werden in der Bibel selbst genannt und beginnen bereits bei 1 Mos 3, wo sie als Manipulation des Widersachers Gottes gekennzeichnet werden. Dort ist es die satanische Schlange, die Zweifel an Gott sät. Die Schlange fragt „Sollte Gott gesagt haben…?“, wobei sie beides hervorrufen möchte, Zweifel an der Rationalität und Berechtigung von Gottes Ordnung und an Gottes Autorität. Es fällt auf, dass auch das gegenwärtige Weltbild der atheistischen Rationalisten, etwa mit der Evolutionstheorie, voll und ganz dieser Frage der Schlange entspricht. Die Folge davon ist, dass die Natur („Mutter Erde“) an sich als ein von Gott, dem Schöpfer, unabhängiger Wert betrachtet wird und (ihre Bewahrung) über überlieferte Werte gestellt wird bzw. werden muss. Die Bedrohung der menschlichen Gesellschaft ist nicht Folge einer sich Gott unterordnenden Menschheit, sondern Folge der beständigen Missachtung der Autorität und der Ordnungen Gottes. Das lehrt die Bibel schon auf ihren ersten Seiten, wo sie auf den engen Zusammenhang zwischen Gott, der Schöpfung und dem Menschen hinweist.

Dann aber ist klar, dass auch schon im ersten Jahrhundert im Zuge der Ausbreitung des Christentums, diese Konkurrenzen benutzt wurden, um Verwirrung zu stiften. Die Frage ist also: Welcher Schlange wendet man sich zu. Der Schlange von Mose oder der Schlange von Asklepios-Apollon?

Apollon ist im alten Griechenland der Gott des Lichts und des Heils. Er wurde von den Griechen auch mit dem Sonnengott Helios gleichgesetzt. Dieser entspricht aber dem Baal des antiken Orients. Baal ist der Widersachergott JHWHs im Alten Testament. So schließt sich der Kreis. Da sich das Christentum zuerst im östlichen Mittelmeer, insbesondere an der Levante, in Griechenland und in Kleinasien verbreitete, war zu erwarten, dass der Widersacher gerade dort mit den dort zur Verfügung stehenden Mitteln mobil machen würde. Er tat das unter anderem auf zwei Wegen. Der eine ist der Weg des kulturellen Brauchtums. Dazu gehört auch die Religion. Der andere Weg ist der Weg der Philosophie. Je lehrhafter eine Religion oder Weltanschauung nämlich wird, desto mehr muss sie Antworten auf theoretische und abstrakte Fragen geben können. Religion ohne Philosophie ist schwach und wenig tragfähig. Aus den Briefen der Apostel geht hervor, dass für die neue, christliche Glaubensrichtung eine große Gefahr von den „Elementen“ der Welt ausging. Diese Elemente versklaven die Menschen (Gal 4,3), wenn sie sich darauf einlassen. Sklaven sind aber Unmündige. Sie sind zu ihrer Unfreiheit verführt worden. Anstatt zum Heil, begeben sie sich in Abhängigkeit und bemerken das noch nicht einmal.

Manch einer mag sich fragen, warum die Völker der antiken Welt so leichtgläubig waren, dass sie ein solches Pantheon von Göttern füllten. Man denkt, das Volk sei unwissend und abergläubisch gewesen und die Naturwissenschaften gab es ja noch nicht. Doch so gut wie nichts stimmt an dieser Vorstellung. Der antike Mensch war nicht abergläubischer als der Mensch von heute. Es ist ein großer Irrtum, wenn man denkt, dass in Epidauros oder Delphi oder Ephesos große Heiligtümer entstanden wären, nur um ein religiöses Bedürfnis der Menschen zu befriedigen. Auch hier gibt die Bibel ein ganz anderes Bild. Zwar sagt die Bibel, dass die Götzen der Heiden Nichtse seien. *9 Jedoch ist damit nicht gesagt, dass sie nicht existent sind. Das zeigt sich im Fall der Zauberer des ägyptischen Pharaos. Hier wird das Verhältnis der Götter der Heiden zum Gott Israels gezeigt, als die Schlangen der ägyptischen Priester von der Schlange des Moses verschlungen wurden (2 Mos 7,12). Die Schlangen waren jeweils aus Holzstäben hervorgekommen. Die Bibel zeigt damit, auch Satan kann in die kreativ bildenden Naturkräfte eingreifen oder zumindest Phänomene hervorrufen, die als Trugbild in Erscheinung treten. Die Bibel stellt den Satan als großen Verführer und Irreführer und Täuscher heraus. *10

Wenn also gegen Gott gerichtete Kräfte solche „Wunder“ vollbringen können, dann ist es nicht verwunderlich, wenn es auf der ganzen Welt Orte religiöser Verehrung gibt, in denen Kräfte zum vermeintlichen Heil oder zum tatsächlichen Unheil wirksam werden. Der Volksmund ist sich dessen unzweifelhaft bewusst, sonst würde er nicht zahlreiche Geschichten erzählen, wonach jemand dem Satan seine Seele verkauft hat, um einen irdischen Erfolg zu erringen, der ihn aber immer am Ende das Seelenheil kostet. Ob diese Orte der Heilserfolgsversprechung dann Delphi oder Lourdes, Fatima oder Ephesos heißen, ist von nebensächlichem Interesse. Sie versprechen viel, halten aber nicht nichts, was am besten für die Menschen wäre, sondern bewirken etwas beim Menschen, was er zumindest teilweise als heilsam empfindet.

Doch Gott geht es beim Menschen nicht vordergründig um gute Empfindungen. Bei Gott sollten die Israeliten lernen. Der Gott Israels ist der höchste Gott, dem sich alle anderen „Götter“ beugen müssen. *11 Und so beobachtet man in der Geschichte der Menschheit, dass die Menschen jenseits von Israel viele Götter mit Potenzen haben, denen sie sich unterwerfen können, um Gunst zu erfahren. Doch nur der Gott Israels ist der höchste Gott. Er ist der Eine, der Himmel und Erde erschaffen hat und der allein die Menschen zu ihrem Heilsziel bringt. Diesem Gott geht es nicht nur darum, das Leben der Menschen zu erleichtern, sondern Er hat die Macht und das Vermögen, den Menschen das göttliche Leben zu geben, das von einer ganz anderen Art ist, als das endliche Leben, über das die anderen Götter beschränkte Macht haben (Mt 10,28). Als Jesus sagt: „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen; fürchtet aber vielmehr den, der sowohl Seele als auch Leib zu verderben vermag in der Hölle!“ (Mt 10,28) spricht er genau diesen Sachverhalt mit an. Ehrfurcht soll man nicht vor den „Heilanden“ und Göttern der Heiden haben, sondern allein vor dem Gott Israels. Er allein hat die souveräne, alles umfassende Macht über das Leben und Weiterleben jedes einzelnen Menschen. Die anderen Götter bleiben Nichtse, wenn man sie auch so behandelt. Man soll sie ignorieren und nicht auf ihre Werbeversuche eingehen, denn man muss immer teuer bezahlen.

Die Schwierigkeit für den Menschen besteht darin, dass Gott Seine Macht nicht jederzeit zeigt. Er baut die neue Welt und das Heil des Menschen über das Vertrauen in Ihn auf. Kadavergehorsam oder berechnende Anbetung sind Ihm wertlos. Er bringt den Menschen zu seinem Verherrlichungsziel. Dazu muss der Mensch den einzigen Weg gehen, den es zu diesem Ziel geben kann. Im Zentrum, am Anfang und am Vollendungsziel dieses Weges steht Jesus Christus. Von Ihm muss man sich ziehen lassen und das kann man nur, wenn man sich Ihm anvertraut. Nicht ein bisschen, nicht versuchsweise oder halbherzig, sondern voll und ganzherzig.

Zu diesem Vertrauen oder „Glauben“ gehört aber das Verstehen und das Lieben der innersten Beweggründe des Wesens Gottes und der Heiligkeitsverhältnisse zwischen Ihm und der Schöpfung. Was ist damit gemeint? Da ist die unauslotbare Zuneigung Gottes zu Seiner Schöpfung, die darin zum Ausdruck kommt, dass Gott selber in Seinem Sohn die Rechtfertigung und Heiligung der Menschen erwirkt, indem Er Seinen Sohn die Sünden der Menschen sühnen und die Menschen immer näher zu sich ziehen lässt. Wer die Notwendigkeit dazu nicht nur erkannt, sondern auch aus vollem Herzen, d.h. mit Seinem ganzen Wollen erfasst hat, wird dem Wesen Gottes so nachhaltig nahegebracht, dass er es ganz lieben und anstreben lernt. Es gibt keine Vollendung der Erlösung für den Menschen, wenn er sich nicht dem Wesen Gottes angleichen lässt. Der erste Schritt dazu geht über die vertrauensvolle Hingabe an Christus, weil in Ihm Gott dem Menschen gerade am Kreuz von Golgatha so nahegekommen ist, dass Er anstelle des sündigen, unerlösten Menschen getreten ist. Und nun darf im Vertrauen aber auch der Mensch Gott nahekommen.

Diese Heilsvorstellung ist eine ganz andere als die Heilsvorstellungen der Antike oder der Religionen, wo der sündige Mensch allenfalls zu einem besseren Menschen wird, dessen Entwicklung immer mit dem Tod endet und nicht darüber hinausgehen kann, denn der Herr des Totenreiches ist Christus. Andere „Herren“ regieren die Welt nur vorübergehend, denn es ist eine sterbende Welt.

Die Götter der Heiden können diese persönliche Beziehung zwischen Gott und Mensch, die zur Erlösung erforderlich ist, nicht herstellen. Sie können den Menschen eine Gunst erweisen, die sie nicht vor dem Tod und vor der Sünde bewahrt. Für das Jenseits, für das Leben nach dem Tod, für das eigentliche Leben, für das endgültige Leben, sind sie inkompetent. Allein Christus hat hier die umfassende, ja die alles, auch das Totenreich umfassende Hoheit. Dies ist die Lehre der Bibel. Christus ist also nicht wirklich in Konkurrenz zu den anderen Göttern. Er ist konkurrenzlos. Das Christentum wie es in der Bibel dargestellt wird, *12 ist nicht eine von vielen Religionen. Die Bibel selbst widerlegt diese Ansicht, der ein Missverständnis zugrunde liegt, das für Außenstehende unvermeidlich scheint. Das Kirchenchristentum mag einer Religion vielleicht sehr nahekommen. Die biblische Lehre über den Christus gehört zu einer eigenen Kategorie. Sie „spielt“ gewissermaßen „in einer eigenen Liga“. Die Bibel, bzw. die biblischen Autoren, nehmen für sich die Bezeugung einer einmaligen, nämlich direkt von Gott stammenden Wahrheit in Anspruch: Unterstützt wird dieses Selbstverständnis dadurch, dass die Bibel ein in sich geschlossenes und vollständiges Weltbild erklärt.

Die christlichen Gemeinden, die der Hebräerbrief anschreibt, befanden sich in einem Umfeld, wo es eben nicht die glorreiche, philosophisch unanfechtbare neue Lehre über den Zimmermannssohn aus Galiläa gab und sonst nur primitiven Aberglauben. Man muss sich vergegenwärtigen, wenn man dazu in der Lage ist, dass die Unvergleichlichkeit und Größe des Evangeliums nur dann erkannt werden kann, wenn man es bereits kennt und verstanden hat. In dem Maße, wie es die Menschen nicht verstanden haben, selbst wenn sie sich mit dem christlichen Glauben verbunden fühlten, im gleichen Maße ging dieser Glaube auch unter und hatte die Charakteristiken nicht mehr aufzuweisen, die das Evangelium so einzigartig machten. Für einen Heiden war das Evangelium ein Kuriosum, das man wahlweise verspotten oder belächeln konnte. Das ist geradezu die logische Folge davon, wenn man es nicht richtig verstanden hat. Es ist also genau umgekehrt. Nicht der christliche Glaube erstrahlt über andere als Wahrheit von unüberbietbarer Kraft und Logik, sondern er wird zur Kenntnis genommen als ein sonderbarer Emporkömmling im Reigen der Religionen, den man kaum ernst nehmen konnte, wenn man nach den herkömmlichen Maßstäben urteilte.

Der spätere Kaiser Konstantin wird oft als herausragende Persönlichkeit beschrieben, weil er die Weitsicht gehabt haben soll, das Christentum als das Völkervereinende der Zukunft zu erkennen und es sich so zu Nutze zu machen. Tatsächlich kann man sich den Aufstieg des Christentums nicht ohne Konstantins politische Weichenstellungen zugunsten der Kirche, die sich als „katholische“ bezeichnete, vorstellen. *13 Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass das Christentum, das Konstantin, der von Haus aus ein Verehrer Apollons war, kennen lernte, sich in vielem bereits grundlegend unterschied von dem Christentum des ersten Jahrhunderts. Aus den christlichen Gemeinden war eine Kirche geworden, die sich bereits auf einen gefährlichen Irrweg begeben hatte.

Wie gesagt, die Götter der Völker der Antike waren mächtig und einflussreich. Und das nicht nur auf dem Papier. Und ob der Gott, der Konstantin bei der Schlacht an der Milvischen Brücke ein Zeichen setzte, der Gott Israels war, nur weil er für Konstantin eine Art Kreuz erscheinen ließ, *14 ist noch lange nicht ausgemacht. Im Zeichen dieses speziellen Kreuzes wurden nach Konstantin bis in die Gegenwart noch unzählige Gräuel verübt, die man unmöglich dem Walten des Geistes Christi zuschreiben kann. Gott irrt sich nicht, auch nicht darin, wem Er Seinen Geist gibt. Auch die anderen Völker der Antike, einschließlich der Griechen und Römer, bauten ihre Tempel und Altäre. Auch sie brachten, wie die Juden, ihren Göttern Brand- und Blutopfer dar, um ihre Gunst zu erwerben. Da hat es nicht einer dem anderen nachgemacht. Ihr gemeinsamer Vorvater Noah und dessen Söhne hatten dieses Brauchtum weitergegeben (1 Mos 8,20). Vom Grundsatz her, besteht bei allen Völkern ein Verständnis dafür, dass man der höheren Macht etwas geben muss, wenn man etwas von ihr haben will. Vertrauen, Zuneigung wenn möglich, wenigstens Gehorsam. Wobei aus biblischer Sicht die Opferungen nur ein vorläufiger Hinweis dafür waren, dass die Sünden zu sühnen waren. Die Opferungen waren aber nie ausreichende Sühnungen. Diese Sühnung wurde durch ein einziges Opfer, nämlich jenes auf Golgatha geleistet.

Man kennt schon von den irdischen Herrschern, oder vorher schon innerhalb jeder beliebigen menschlichen Gemeinschaft, dass das Zusammenleben mit wechselseitigem Geben und Nehmen funktioniert. Dem, der über einem ist, sollte man sich unterordnen. Und Gott ist der Höchste, dem man sich unterordnen muss. Das fällt umso leichter und hat noch größere Aussicht auf Erfolg, wenn man Ihn aufrichtig und nicht nur aus Berechnung verehrt und tatsächlich zu einer persönlichen Beziehung zur Gottheit kommt. Bei vielen Kulturkreisen gab es dazu einen Initiationsritus. Bei den Nachfahren Jakobs war das die Beschneidung, die einen Angehörigen Israels zu einem Volkszugehörigen machte. Auch dabei floss Blut.

Andere Völker kannten ähnliche Riten. Sie hatten ebenso wie Israel ihre Feiertage mit bestimmten Symbolen und Funktionen. Das war alles noch nicht außergewöhnlich. Der katholischen Kirche gelang es Opfer, Blut und Gott in eine Verbindung zu bringen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Während die Anbetung JHWHs im Tempel zu Jerusalem bis zum Jahr 70 noch bekannten und üblichen Gebräuchen folgte, die mit den Riten anderer Völker vergleichbar war, führte das kirchliche Christentum eine völlig neue Form der Feier des mystischen Einsseins mit Gott ein. In der katholischen Messe wird nach dem Glauben der Katholiken ein Stück Brot in den Leib Gottes und Wein in das Blut Jesu Christi verwandelt und dann gegessen und getrunken. Ein ritueller Gottesverzehr. *15 Die katholische Kirche, die über Jahrhunderte das Außenbild der Christenheit prägte, machte aus einer Symbolik einen tatsächlichen Vollzug, der ihr dazu verhalf, Macht über die Kirchgänger zu erhalten, denn nur wer an der Messe teilnahm, war ein anerkanntes Mitglied der christlichen Gemeinschaft. Könige und Herrschaften erflehten die Zulassung an der sogenannten heiligen Messe, wenn sie sich mit dem Papsttum verfehdet hatten. *16 Ein unlösbares Geheimnis, wie Gott Seine Seinsform in die Hände des Menschen geben kann, oder die Alternative: eine frevlerische Anmaßung, wie sie größer nicht sein kann? Das soll jeder selber für sich entscheiden. Dass es jahrhundertelang strengstens verboten war, unter Androhung der Todesstrafe, diesen Ritus anzuzweifeln, spricht nicht für dessen Richtigkeit.

Man muss erkennen, dass die „heilige Messe“ des Kirchenchristentums in der Entstehungszeit, also noch lange bevor sie dogmatisiert wurde, dem Christentum auch ein zweifelhaftes Ansehen verschaffte, obwohl es doch in jener Zeit viele Konkurrenzkulte, gab, die nicht viel weniger bizarr anmuten mussten.

Neben Asklepios gab es im Umfeld des entstehenden Christentums zahlreiche andere Heilsgötter. Die ersten, die dagegen anzupredigen hatten, waren die Jesusjünger. Man kann die damalige Zeit mit dem 21. Jahrhundert vergleichen, wo es ebenso viele Heilsanbieter und Scharlatane, Halbweise und Medizinpraktikanten gibt. Dazu werden die alten Götter wiederbelebt, zum Teil mit neuen Namen, anderen Masken und gefälligerem Outfit, upgedated und upgeshaped.

Zur Zeit der Entstehung des Christentums nannte Paulus diese Erscheinungsformen der Lösungsangebote für die Probleme des Lebens „stoicheion“. Das ist das Elementare, was eine Sache ausmacht. *17 Zu den „Elementen“ einer Sache gehören alle Aspekte, auch die geistigen und seelischen Implikationen. Deshalb hat auch der christliche Glauben seine „Elemente“, die ihn ausmachen. Dem stehen aber die Elemente der Welt, bemerkt und beurteilt von denen, die von Gott nichts oder nicht viel wissen oder auch nichts wissen wollen, entgegen.

Weitere prominente Heilsversprecher stammten aus Ägypten. Dazu gehörte die ägyptische Göttin Isis, die schon seit über eintausend Jahren auch als Astarte oder Aschera *18 elementar durch die religiöse Welt zog. Davon berichtet auch die Bibel. Sie wird im Alten Testament auch „Himmelskönigin“ genannt. *19 Sie steht biblisch gesehen gewissermaßen in Konkurrenz zu Israel, denn Israel ist die wahre Himmelskönigin: „Und ein großes Zeichen erschien im Himmel: Eine Frau, bekleidet mit der Sonne, und der Mond war unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen.“ (Of 12,1), die im Buch der Offenbarung ihrem Feind entgegengesetzt wird. Das ist der Drache, der schon immer ein Israelhasser war und auch Christus und die, die Ihm angehören, versucht hat, zu verschlingen (Of 12,3-5). *20 Die antike Welt, in der das Christentum entstand, kannte also nicht nur männliche Heilande, deren bekannteste die Namen Baal, Helios, Apollo, Serapis oder Asklepios waren und für die man eine Verkörperung oder zumindest Versinnbildlichung in den Himmelskörpern Sonne, Mond, Planeten und Sterne sah. *21 Diesen männlichen Vertretern der Heilkunst wurden weibliche Ergänzungen zugesellt, die dann Isis, Astarte, Artemis, Eleusis oder Salus genannt wurden. Asklepios hatte auch eine Tochter. Hygieia hatte das Talent zu heilen, von ihm geerbt. *22

Ganz im Widerspruch zu Paulus, der vor diesen „Elementen“ des heidnischen Glaubens warnte, nahm die spätere Kirche alle diese Elemente des heidnischen Pantheons in Ehren auf und gab ihnen nur andere Namen. Das waren die Namen der „Heiligen“. Das war praktisch, denn so wurde für die Heiden das Christentum annehmbarer und sie selber mussten wenig an ihren religiösen Gepflogenheiten ändern. Irgendwann gab es für jede Gebetsbitte und jeden Wunsch in der Kirche einen zuständigen Heiligen.

Die Kirche ist bei dieser einfachen Methode des „Christenmachens“ geblieben wie man an den Missionsmethoden der Spanier und Portugiesen in Südamerika sehen kann. Es genügte, sich vor dem Kreuz der Kirche niederzubeugen, dann galt man als Christ. Dass man seinen alten Glauben an Lokal-, Schutz- und Wettergötter beibehielt war nicht zu beanstanden, sofern man sie Sankt Irgendwie nannte. Nicht selten machte man sich nicht einmal so viel Mühe. Man erklärte die Götzen einfach als Engel. Und so waren sie Schutzgeister geblieben und so mussten sie nicht einmal aus den Hütten, auf die man ein Kreuz aufgepflanzt hatte, vertrieben werden! Ebenso übernahm man einen Teil der kultischen Handlungen und Symbole. *23

Man brauchte immer anstelle des unsichtbaren Gottes etwas Vermittelndes und Stellvertretendes. Man wusste, dass man „unrein“ war und nicht direkt mit Gott in Verbindung treten konnte. Gott musste darum gebeten werden, doch ein Ding, das er selber reinigen mochte, mit einer heilsamen Wirkung zu versehen, dessen sich der Mensch wieder bemächtigen konnte. Man stellte heiligende Statuen und Statuetten auf, wie man das später in der christlichen Kirche fortführte. Der Handel mit Reliquien und der Wettbewerb, wer die wirkungsvollsten Heiligtümer besaß, wurde nahtlos von den Katholiken übernommen, mit der gleichen Wirksamkeit. *24 Diese bestand jedoch hauptsächlich darin, dass anstelle der Verehrung des Gottes die Verehrung und der Gebrauch von Fetischen und Mächten der Finsternis, die das auszunützen wissen, trat. *25 Das war ein schlechter Handel. Anstatt die unmittelbare Nähe zu Gott, die ein Mensch über den Geist Christi mit Gott haben kann, zu erbitten, wirft man die Beziehung weg und ersetzt sie durch tote Gegenstände und zweifelhafte Geistführung.

Die Idee der späteren Kirche, dass von den Bildnissen die Kraft Gottes, oder die Segensmacht von Verstorbenen oder auch noch lebendigen Heiligen und Heroen wirken könnte, speiste sich aus zwei Quellen. Da war die heidnische, die jeder kannte. *26 Auch den Juden blieben solche im Alten Testament verbotene Zuwendungen an fremde Götter nicht unbekannt. Ihre Aufklärung darüber war ja gerade mit ein Grund, weshalb die Juden oft auch auf die Heiden herabschauten. Aber nicht, weil man eine Stellvertretung oder immaterielle Übertragungswege der Heiloder Segenskraft Gottes für unmöglich hielt, sonst hätte man den Vorschriften der Torah über die Wirksamkeit der Opferungen und der Reinigungen keinen Glauben schenken können. Die Übergänge zwischen symbolischer Bedeutung mit geistigem Verständnis und der entsprechenden Wirkung im materiellen und immateriellen Bereich sind für den Erkenntnissuchenden fließend.

Dass bei diesem Synkretismus sehr fraglich ist, ob man überhaupt noch von einem authentischen christlichen Glauben reden kann, zeigt sich auch, weil dieses synkretistische Religionskonglomerat, das sich im Symbolismus erkennbar machte, als nicht haltbar erwies. Das erklärt warum die meisten sogenannten Christen dort, wo die Länder von den Arabern erobert wurden, Muslime wurden. Religionen sind austauschbar, von begrenztem Nutzen und endlich.

Die andere Quelle des Kirchenchristentums ist dennoch nicht ganz überraschend die Bibel selbst. Mt 14,36 zeigt, dass es unter der jüdischen Bevölkerung die Erwartungshaltung gab, dass ein Berühren des Gewandes eines Propheten Gottes eine heilsame Wirkung haben könnte. Die Bibel bestreitet das nicht. Gott kann jederzeit Wunder vollbringen, wie Er es gerade will, um damit in speziellen Fällen beispielhaft zu handeln. Man denke an die Plagen Ägyptens. Die Bibel sagt zur Erwartungshandlung der Menschen gegenüber Jesus: „und alle, die ihn anrührten, wurden völlig geheilt.“ *27 Jesus gibt sogar eine Erklärung dafür, dass eine Kraft von Ihm ausfließt, die diese Heilung bewirkt (Lk 8,46) und dass das infolge des Glaubens geschieht (Lk 8, 48). Diese wundersamen Wirkungen sind den Juden aus dem Alten Testament und vielleicht auch aus persönlichen Erfahrungen bekannt.

Es gibt also tatsächlich einen Zusammenhang zwischen physischen Dingen und Glaubenshaltungen, die geistlich nutzbar sind und dann auch wieder zu physischen Veränderungen führen. Die materielle Welt ist zur immateriellen Welt hin offen und umgekehrt gilt offenbar das Gleiche. Das lehrt die Bibel schon lange. Das lehrt aber auch die persönliche Erfahrung, die viele Menschen haben. So gesehen scheint die Hinwendung der Kirchenchristen zu Zauberglauben, Fetischen und jeglicher Form von Spiritismus unvermeidlich und sogar konsequent gewesen zu sein, und leider auch in ihrem Ungehorsam gegenüber Gott, weil ja Gott die Beschäftigung mit Dingen, die sich aufdrängen, untersagt und als Alternative lediglich das Vertrauen in Ihn anbietet. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: wahrhaftes und tragfähiges Heil erfordert das Vertrauen in den Gott, der die Himmel und die Erde erschaffen hat. Fehlt einem aber dieses Vertrauen sucht man nach Ersatzbefriedigungen, Ersatzgöttern und Ersatzheil. Und gerade darin gerät man in die Schieflage. So wie es nicht gut ist, irgendeinen Gott anzubeten – Hauptsache er hilft, so ist es auch nicht gut, irgendeinem Ritus oder einer Glaubenspraxis zu folgen – Hauptsache er hilft.

Gottes Anliegen ist es nicht, diese Formen der Religiosität für unwirksam zu erklären, oder sie gar unwirksam zu machen, denn ein Ersatz ist ja tatsächlich ein Ersatz, wenn auch nur ein ungenügender. Ihm geht es darum, dass man sich nur Ihm zuwendet, im Denken, Fühlen und Tun. Es ist seine immerwährende heilsame Eifersucht, die einerseits zunächst einmal die Wahlmöglichkeiten gewährt, dann aber auch deutlich macht, dass Er die bessere, ja einzig vernünftige und heilsamste Wahl ist. Viele Wahlen sind heilsam, aber nur vordergründig und stark eingeschränkt. Es gibt Pilzarten, die sehr schmackhaft sind und den Hunger stillen, aber doch ein tödliches Gift in sich haben. Dann ist man früh tot, hat aber ein sattes und schmackhaftes Leben gehabt.

Man sollte sich auch nicht über die reale Existenz von Wunderwirkern zu sehr wundern. Sie waren ebenso zahlreich in der Antike wie der Wunderglaube. Die Nachfrage regelt das Angebot. Zu ihnen gehörten auch die Seher, Zauberer und Propheten. Manchen Herrschern schrieb man göttliche Eigenschaften zu. Und auch hier widerspricht die Bibel keineswegs. Deshalb sollte man auch im 21. Jahrhundert vorsichtig sein, wenn man den Irrlehrenden, Verführern und Machthabern keine Verführungsmächte und Machttaten zutrauen möchte. Die Zauberer des Pharaos kamen schon zur Ansprache. Das neutestamentliche Beispiel gibt ein Mann, der ausgerechnet Simon heißt. Der andere Simon mit dem Beinamen Petrus war auch ein „Wundermann“ nach antiker Vorstellung. Die Wunder, die Simon Petrus wirkte, hatten die Vollmacht Gottes. Bei Simon, dem Zauberer, war das nicht der Fall.

Solchen Zauberern nachzufolgen und ihnen Glauben zu schenken, war für einen Juden eine schwere Verfehlung, die ihn für das Volk Gottes disqualifizierte (5 Mos 18,14). Im Neuen Testament werden Zauberer in einem Atemzug mit Ungläubigen, Frevlern, Mördern, Hurern und Götzendiener genannt, die im Feuer einen zweiten Tod durchleiden werden (Of 21,8). Das sind allesamt Menschen, die Gott kein Vertrauen schenken. Und daher sollte man ihnen auch kein Vertrauen schenken.

Für das Verständnis der Heilsgeschichte Gottes ist es bedeutsam, dass dieser Simon die Leute mit seinen Künsten verzauberte, doch dann gläubig wurde und seine Neigung, aus dem Übernatürlichen für sich etwas Großes zu gewinnen, beibehielt. Was war das für ein Glauben bei Simon? Er glaubte, dass Jesus der Messias Israels war und dass Er auferstanden war. Viel mehr kann es nicht gewesen sein. In Ap 8,13 heißt es: „Auch Simon selbst glaubte, und als er getauft war, hielt er sich zu Philippus; und als er die Zeichen und großen Wunder sah, die geschahen, geriet er außer sich.“ Simon wollte den Jüngern Jesu sogar Geld geben, wenn er dafür die Gabe des heiligen Geistes bekam (Ap 8,18). Das Problem des Simon war, dass er nicht aufrichtig vor Gott war. Er hatte also allenfalls eine Teilbekehrung seines Herzens (Ap 8,21).

Es gibt also gläubige Christen, die nicht vollständig bekehrt sind und daher noch ihren Lastern nachgehen. Nun erinnere man sich aber and die dreitausend, die unmittelbar nach Pfingsten in Ap 2 „gläubig“ wurden (Ap 2,41). Bei diesem Glauben kann es sich auch nur um einen Anfangsglauben gehandelt haben, der bei den meisten damals wohl nicht viel mehr beinhaltete als den Glauben daran, dass dieser Jesus Christus, den man vor wenigen Tagen in Jerusalem gekreuzigt hatte, tatsächlich der Messias Israels war und, nachdem Er ja bereits von den Toten auferstanden war, bald wieder zurückkehren würde, um das lang ersehnte messianische Reich zu errichten. Da wollte dann jeder dabei sein. Wenn es etwas zu „erben“ gibt, sind sie alle da. Diese „Bekehrungswelle“ wurde begleitet von „vielen Wunder und Zeichen durch die Apostel.“ (Ap 2,43) Kein großes Wunder war also die Bekehrungswelle.

Man findet in der theologischen Literatur kaum den Gedanken, dass es sich dabei um eine ähnliche Erscheinung handelt wie bei unzähligen ähnlichen Bekehrungsereignissen, bei denen den Zuhörern viel versprochen wird und wo eine Euphorie erzeugt wird, die auf viele ansteckend wirkt. Die Frage ist dann, ob die Versprechungen gehalten werden. Wenn man dem Petrus damals als Jude zuhörte, hätte man glauben können, dass der Messias bald zurückkehren würde. Doch zu den Lebzeiten der Zuhörer geschah das nicht und es kam, was kommen musste, viele „Gläubige“ verloren ihren Enthusiasmus. Wie viele dieser Dreitausend sind im Glauben geblieben?

Interessanterweise ist auch bei diesem „verzauberten“ Simon der Glaube vorhanden, dass die Jünger Jesu, die über die Gabe des heiligen Geistes verfügten, in der Lage wären, für ihn zu bitten, damit seine von den Aposteln diagnostizierten Versäumnisse behoben würden (Ap 8,24). Genauso machten es ganze Generationen von Kirchenchristen. Man bekehrt sein Herz nicht unmittelbar vor Gott und nimmt dafür die Sühne von Jesus Christus als Abdeckung, sondern wendet sich an andere, doch hoffentlich irgendwie Beauftragte Gottes oder Menschen, bei denen man Grund zur Annahme hat, dass sie Beauftragte wären: Priester, Heilige, Verstorbene, Hinz und Kunz, Hauptsache man lässt die unangenehme Sache einen anderen erledigen. Und man ist auch bereit, dafür zu zahlen. Man spendet Geld, man kauft einen Ablassbrief, man pilgert und fügt sich Schmerzen zu, usw. Das sind „simonische“ Handlungen, die bei Gott nicht gut ankommen. *28 Im Grunde macht man damit Gott käuflich, weil man denkt, von Gott Geistlichkeit erwerben zu können. Eine Hure verkauft gegen Geld ihren Körper. Bei Gott dachte man - und viele denken es noch immer -, man könnte Seine Heiligkeit, Seine Gnade oder Seine Zuneigung erkaufen. Das legt ein beredtes Zeugnis dafür ab, dass man nicht viel über Gott weiß.

Das hatten die Reformatoren durchschaut, dass da eher der Gott des Geldes angebetet wurde als Jesus Christus. Luther begann mit dieser Erkenntnis, dass der päpstliche Ablasshandel gegen den Geist Christi sei, die Reformation, die bis zum heutigen Tage von der Kirche Roms abgelehnt wird. *29 Die katholische Kirche ist eine simonische Kirche. Nicht wenige Päpste sind durch ihr Geld Papst geworden. Geld regiert nicht nur die Welt, sie regiert auch die Weltkirche.

Die Jünger Jesu vertrieben Simon, nachdem sie ihn zur ehrlichen Umkehr aufgerufen hatten. Er wurde keiner von ihnen. Er blieb ohne den Geist Christi, weil es ihm nicht ernst genug gewesen war mit der Umkehr und der vertrauensvollen Zuwendung zu Christus. Man muss also auch heute noch Ausschau halten nach simonischem Gebaren unter den Kirchen und ihren Vertretern, um die Spreu vom Weizen trennen zu können. Wer Teil haben möchte am Reich Gottes, muss sein Herz aufrichtig Gott zugewandt haben (Ap 8,21). Man suche danach, ob die Gläubigen darauf aus sind, Gott die Ehre zu geben, oder ob nach Geld und Ruhm und Macht gestrebt wird.

Zauberer hatte es sowohl im Orient als auch im klassischen Griechenland gegeben. *30 Die Verschmelzung von Orient und Okzident an der Nahtstelle Griechenland erfolgte in der Auseinandersetzung des Griechentums mit dem persischen Kulturkreis und dann seit Alexander dem Großen, der beide Kulturen miteinander verschmelzen wollte, durch den Hellenismus. Dass sich das Christentum ausgerechnet in diesem Raum ausbreitete, hatte nicht nur die frühe Auseinandersetzung zur Folge, sondern auch die gegenseitige Durchdringung. Das Christentum wie es in der Kirche im vierten Jahrhundert entwickelt ist, hat kulturgeschichtlich zwei Haupt-Urstämme im Judentum und im griechisch-orientalen Hellenismus. *31

Eigentlich sollte die christliche Kirche die Lehren der Bibel überliefern. Das hat sie jedoch nur zum Teil, weil sie sich zu sehr auf andere Lehren eingelassen hat. Die Aussagen der Bibel und von Philosophen sind von der Kirche zusammengefügt worden zu eigenen kirchlichen Aussagen, die im Laufe der Tradition ergänzt wurden. Die Tradition ist aber nicht identisch mit der Heilsgeschichte Gottes.

Die Kirche des vierten Jahrhunderts war das Ergebnis synkretistischer Strömungen und Entwicklungen. Eine Übernahme „reiner“ apostolischer Lehren durch nachfolgende Generationen ist eine Legende. Nicht einmal die Jünger Jesu oder Paulus selbst gelang es, alle in einem Glauben zu halten, wie die neutestamentlichen Briefe und die Apostelgeschichte des Lukas eindeutig belegen. Eine Sukzession apostolischer Einheit ist eine Erfindung eben jener Kirche, die zu verbergen hat, dass sie eine simonische Ader hat, eine babylonische Wurzel und eine hellenistische Prägung.

Die Entstehung der christlichen Kirche fällt außerdem in eine Zeit, in welcher der Dämonenglaube eine Hochblüte erlebte. Die Dämonen waren für den Mensch der Antike nicht einfach Abgesandte des Teufels, sondern Geister, die im Auftrag ihrer Götter eine Verbindung mit den Menschen eingehen konnten, die sowohl Fluch als auch Segen für die Menschen bedeuten konnte. Diese Einschätzung deckt sich mit der biblischen Lehre, wenn man dem „Segen“ eine Vorläufigkeit oder Vermeintlichkeit voranstellt. Da verhält es sich ganz ähnlich wie mit dem Gift in Pilzen, die zunächst sehr schmackhaft sind oder, um ein biblisches Beispiel zu nennen, das Linsengericht, welchem Esau nicht widerstehen konnte. Zunächst schmeckt es vorzüglich, auf was man sich eingelassen hat. Der Duft und der Geschmack haben einem die Sinne vernebelt und der Genuss des Dargereichten bringt eine vorläufige Sättigung, jedoch nur das Brot, das Christus darreicht, ist die reine Speise, die nicht mehr hungern lässt.

Bei Platon, einem der einflussreichsten Denker für die alte christliche Kirche, haben die Dämonen eine vermittelnde Funktion zwischen Gott und den Menschen. * 32 Bei seinem Schüler Xenokrates gab es schon einen deutlicheren Dualismus zwischen guten und bösen Dämonen. Das wurde von den philosophischen Schulen der Stoa und dann des Neuplatonismus übernommen und fand schließlich bei den sogenannten „Kirchenvätern“ freundliche Aufnahme. *33 Auch in der Bibel findet sich ein strenger Dualismus zwischen Gut und Böse. Doch lässt er sich auf die Engelwelt nicht immer so eindeutig abbilden. Saul wurde von einem bösen Geist von Gott geängstigt (1 Sam 16,14). Bei Hiob gibt Gott einem der „Söhne Gottes“, nämlich Satan (Hiob 1,6), die ausdrückliche Genehmigung, den armen, nichtsahnenden Hiob mit allen erdenklichen Bösartigkeiten zu überschütten (Hiob 1,12). Die Engel sind in der Bibel Diener Gottes. Das gilt offenbar auch für den Teil der Engel, der mit Satan das Böse protegiert und repräsentiert.

Zauberei trug der Dualität von Gut und Böse, wozu die Dämonen und Schutzgeister angerufen wurden, schon immer Rechnung und sei es nur, dass böse Geister vertrieben oder in Schach gehalten und ihre Wirkungen eingedämmt werden sollte. Man unterscheidet daher auch zwischen schwarzer und weißer Magie. Aus der Sicht der Bibel ist beides zu ächten. Mit dem Bösen gemeinsame Sache zu machen, um noch etwas Gutes dabei zu bewirken, ist von Gott nicht gestattet worden, gerade weil Er eine Vermischung von Gut und Böse nicht dulden kann. Gott versucht ja die Menschen zu heiligen. Dazu ist absolute Reinheit gefordert, keine „nützliche“ Vermischung.

Da man nie genau wusste, wes Geistes Kind jemand oder etwas war, war es nur folgerichtig, dass man versuchte, sich gegen alles abzusichern. Wer mit Christus nicht zufrieden ist, braucht noch andere Helfer. Und so übernahm die Kirche auch bald andere Vorstellungen des Heidentums über das Jenseits und die Kontaktmöglichkeiten mit dem Jenseits. So haben auch die Schutzheiligen der katholischen Kirche ihre Herkunft im orientalen und griechischen Totenkult. Gerade die verstorbenen Mitglieder der Herrscherfamilien wurden zu Heroen stilisiert, die man bei Bedarf anrufen konnte. *34 Hatte man nicht zu Lebzeiten versucht, sich mit ihnen gut zu stellen, dann vielleicht danach, um nichts von ihnen befürchten zu müssen. Dazu schmückt man auch die Gräber und bringt Opfergaben und bezieht sie in die Verehrung und die Gebete an die Gottheit mit ein. Das Heidentum hatte die Menschen im Griff und ließ auch dann nicht locker, wenn sich jemand für den neuen Gott Jesus Christus entschied. Die Kirche musste irgendwie darauf eingehen. Doch wie ist die entscheidende Frage!

Es ging dabei weniger um Toleranz als um Einbezugnahme und Wachstum. Um die Menschen unter ihrer Obhut zu halten, kam es zu einem kühnen wie genialen Schachzug, der wohl eher nicht einem einzelnen unbekannten Verschwörer zuzuschreiben ist. Auch die katholische Messe bezieht nämlich ihre Inspiration aus dem hellenistisch - orientalen Kulturkreis, der Mysterien-Kulte zum Zwecke der religiösen Erbauung kannte. Die Symbolik der Jesusworte beim Abendmahl reichte der Kirche nicht. Sie war für sie schon deshalb ungenügend, weil sie das Wesentliche gar nicht verstanden hatte. Es ist wie bei einem Landarbeiter, der beim Graben auf dem Feld einen farbigen Stein herauszieht und bemerkt, dass das matt schummernde Objekt so hart ist, dass er es zum Schärfen seiner Sense gebrauchen kann, dabei aber verkennt, dass er einen unschätzbar wertvollen Edelstein besitzt.

Die Kirche verband christlich überliefertes Gedankengut mit den „Elementen“ der Heiden. Die Mysterien-Kulte waren zur Zeit Jesu ausgereift, so dass sie weiten Teilen der Gesellschaft als ein Konsumentenbedürfnis dienen konnten. Was den Menschen über den Tod hinaus bewahren und zu einem besseren Schicksal verhelfen konnte, erhoffte man in einem geheimen Verfahren zu erhalten, denn die Volksreligionen hatten nichts vollends Überzeugendes zu bieten. Das Leben blieb ja beschwerlich und das Leben nach dem Tod war schmerzlich ungewiss. Natürlich konnte man auch die Kommunion mit Jesus Christus, die er in seinem letzten Mahl mit den Jüngern als Zielsetzung zur Erlösung und zur Teilhabe am himmlischen Erbe angab, als solches Mysterium bezeichnen. Denn Jesus hatte das Abendmahl nur mit seinen zwölf Jüngern in einem eigens dafür bestellten Raum abgehalten. Er sagte ihnen das Einssein mit Gott zu! Das ist das Zentrale jedes Mysterienkultes, das Verschmelzen, die Hochzeit mit der Gottheit. Doch waren es nicht die heidnischen Kulte, die dem christlichen Kult nachäfften, sondern es war der Kult der katholischen Kirche, der mit den heidnischen Kulten in Konkurrenz trat, um das Volk zu sich zu ziehen und zu befriedigen. Die biblische Lehre ist davon nicht betroffen. Sie wurde zu allen Zeiten nur von denen verstanden, die Gott dafür vorgesehen hat. Ihnen hat Er die Einsicht gegeben, so dass sie auch das Andere durchschauen, denn das ist die natürliche Folge, wer das Eine dem Wesen nach erkannt hat, vermag auch das Weitere richtig einzuordnen.

Jesus knüpfte an einer über tausendjährigen Passahmahlpraxis im Judentum an. Das hatte ein historisches Ereignis als Grundlage und kein wirklich mystisches Ereignis! Jesus hielt auch nur ein Passahmahl ab, wie es seit Mose bei den Juden Brauch war. Beim ersten Passahabend hatte das Blut von Lämmern an den Türpfosten den Engeln Gottes gezeigt, wer den Worten Gottes vertraut hatte, um sich retten zu lassen. Der Unterschied zu allen anderen Passahmahlen war, dass das endgültige und letzte Opferlamm mit Jesus am Tisch saß und ankündigte, dass Er sich selber hingeben würde. Er verwies also auf das bevorstehende Heilswirken, ebenso ein historisches Ereignis, das man im Nachgang befeiern konnte. Aber nicht die Feier würde die Erlösung bringen, denn die war historisch bereits geschehen. Das hat die katholische Kirche nie verstanden, weil sie in ihrem heidnischen Aberglauben zu tief verstrickt war und ist. Luther hat diesen Aberglauben leider übernommen.

Die einzige Änderung, die Jesus beim Abendmahl vornahm, war keine echte Änderung, sondern nur eine Ergänzung, denn während die Juden beim Passahmahl das ungesäuerte Brot gebrochen hatten, um ihren Dank anlässlich des rettenden Auszugs aus Ägypten zu sagen und mit dem Wein an das vor dem Tod rettende vergossene Blut des Passahlamms gedachten, erklärte nun Jesus, dass die Symbolik endgültig Verwirklichung finden würde in Ihm selbst, denn Er gab Seinen menschlichen Leib dahin zur Rettung Israels und Sein Blut war das Blut des endgültigen Passahlammes, das Blut des neuen, endgültigen Bundes. Jesus hat Seinen Jüngern gesagt, dass sie dieses Passah feiern sollten. Das gleiche Passah wie die Juden, nur ist nun das Gedenken an das Opferlamm ersetzt durch das viel bessere Gedenken an Jesus. Ebenso feiern messianische Juden das Passahfest heute, wie sie es vor zweitausend Jahren gemacht haben.

Ähnliche „Rettungsmahle“, bei denen geweihte Speise konsumiert und Blut von Opfertieren vergossen wurde, gab es auch bei anderen Völkern. Und ebenso wie im Judentum gab es bei den Heidenvölkern auch rituelle Reinigungen. Als Jesus zusätzlich den Jüngern beim letzten Abendmahl die Füße wusch, gab er ihnen ein Beispiel für Demut, die zugleich den brüderlichen Zusammenhalt stärken sollte. Ohne Demut kann der Mensch Gott nicht gefallen, was damit auch wichtiger ist als die rituelle Reinigung, die ebenso voller Symbolik auf geistliche Wirklichkeiten ist, aber im Judentum bereits gegeben war. Durch die Waschungen bei den Mysterien sollte die Seele gereinigt werden, oder zumindest die Bereitschaft signalisieren, für eine Reinigung bereit zu sein. Bei vielen Mysterienkulten stand dies am Anfang der Aufnahme in die Gemeinschaft der Auserwählten. Auch im Judentum und später im Christentum stand am Anfang des neuen Weges, der ein Umkehrweg war, oder auch bei der Erneuerung eines als richtig erkannten Weges, das Wasserbad. Noch heute findet man in ganz Israel solche Mikwe genannten Wasserbäder aus der Zeit des zweiten Tempels. Ziel der Mysterienkulte ist es, eine Einheit mit der Gottheit einzugehen. Die Abschiedsrede von Jesus im Johannesevangelium beim letzten Passahmahl hat dies zentral zum Thema. Jesus bittet den Vatergott, dass die Jünger untereinander und sie mit Jesus und dem Vatergott eine Einheit bilden (Joh 17). *35

Die Mitteilung untereinander zwischen den Eingeweihten und der Gottheit erfolgt in den Mysterienkulten durch Kultformeln. Solcherart kultischer Handlungen hat auch die katholische Kirche übernommen, während Jesus noch in freier Rede den Jüngern etwas mitzuteilen hatte. In der Kirche wurden Ansprachen und Gebete in einer Kultsprache eingeführt, die bald niemand mehr verstand, außer den Eingeweihten. Doch diese waren Ordensbrüder, Priester und Kirchenführer. Latein war über 1.700 Jahre die Kultsprache der katholischen Kirche. Weniger als 1 Prozent der Katholiken verstand sie, so konnte man sicher sein, dass man das Volk widerspruchsloser führen konnte, wenn nicht jeder alles wusste, denn die katholischen Lehren an sich waren und sind widersprüchlich. Vor allem widersprachen und widersprechen sie häufig dem Wort Gottes.

Was der Priester bei der heiligen Messe sprach, waren heilige Worte, die etwas unglaublich Wunderliches vollbrachten. Sie veranlassten Christus, der bei Seinem Vater im Himmel ist, sich in Brot und Wein zu verwandeln und sich vom Priester der Kirche konsumieren zu lassen, während das Volk wenigstens noch am Leib Christi teilhaben konnte.

Solche Mysterienkulte, bei denen man mit der Gottheit eine enge Beziehung eingehen konnte, waren in der Antike nichts Ungewöhnliches. Im Kult des Eleusis erhoffte man sich eine Wiedergeburt. Im Kult des Dionysos ging es um das uneingeschränkte, befreite Werden und Wachsen. *36 Dionysos war der umtriebige, Festen, Wein, Weib und Gesang zugeneigte Sohn des Zeus. Er sollte eine ungezügelte Lebensentfaltung gewähren. Bei den Dionysosfesten gab es feierliche Umzüge und Festgelage. Er war aber doch ein sterblicher Gott, der einem Komplott zum Opfer fiel und erst durch die Wiederbelebung durch seinen Göttervater Zeus unsterblich wurde. Zwischenzeitlich war dieser Gott also von der Bildfläche menschlicher Zugänglichkeit verschwunden und tauchte dann doch wieder auf. Das dürfte den Christen von den Dionysos-Jüngern vorgeworfen worden sein, dass ihr Christus doch nur eine Nacherzählung der Dionysos-Legende wäre. Ob solche Ähnlichkeiten der Erzählungen eine Missionierung begünstigten oder erschwerten, wird vom Einzelfall abhängen, jedoch verhilft einem Menschen eine Bekehrung, die nicht von Gott, sondern von Menschen vorgenommen wird, nicht zu einer Beziehung zu Gott, sondern zu den Menschen. Dadurch gerät er in falsche Abhängigkeiten.

Aus dem Iran stammte ein Kult, der sich zur Zeit der Entstehung des Christentums über das ganze Römische Reich ausbreitete. Unter Diokletian war Mithras sogar Staatsgott. Man findet an den Standorten römischer Legionen häufig noch die Überreste eines Mithrasaltars. Da man ihn zum Teil auch mit dem Sol invictus, dem Sonnengott, gleichsetzte, feierte man auch seinen Geburtstag am 25. Dezember. Die katholische Kirche übernahm beides, die Vorstellung, dass doch Jesus Christus der Sol invictus sei und deshalb auch sein Geburtstag am 25. Dezember zu feiern sei. Es gab noch Weiteres, was eine Nähe zur christlichen Tradition anzeigte. Mithras wurde aus einem Felsen geboren. Hirten beteten das neugeborene Kind an. Er wurde von einem Stier getötet, aber nach einer weiteren Legende vom Sonnengott zu neuem Leben erweckt. Der Tod wird auch hier als Voraussetzung für neues Leben gesehen.

Beim heiligen Mahl verzehren Helios-Sol und Mithras das Fleisch und Blut des Stieres. Helios-Sol ist der Himmelsgott, aber Mithras ist der Kosmokrator und Held, der die Lücke, die der Sonnengott belassen hat, schließt. Bei ihrem gemeinsamen Mahl verschmelzen die beiden zum unbesiegbaren Sonnengott Mithras. Die in den Mithräum genannten Kulträumen versammelten Mithras-Jünger aßen im Gedächtnis und zur Erneuerung der Heilskräfte aber nicht Fleisch und Blut eines Stieres, sondern Brot und Wein. Mithras wurde zum Beschützer und Heiland der Menschen, denn er wurde zugleich zum Sieger über Ahriman, eine Art Satan, ausgerufen. Wenn dieser endgültig beseitigt ist, wird es zu Totenauferstehungen und dem Untergang der alten Welt kommen. Man versteht so, wie es zur Ausprägung des katholischen Kultes als Konkurrenzkult kommen konnte, weil es bei den Katholiken heißen sollte, nicht nur die Götter verschmelzen zu einer Macht, sondern auch die Gläubigen verschmelzen mit Gott. Die Basilica San Clemente wird nicht die einzige Kirche sein, die über einer Mithraskultstätte erbaut worden ist und nicht unbedingt auf dem Felsen Christus. *37

In die hellenistische Welt wurde der ägyptische Gott Serapis von dem Diadochenherrscher Ptolemaios I. eingeführt. *38 Serapis ist eine Zusammenführung von Osiris-Apis, dem Gatte der Isis. Das Götterpaar Osiris-Isis entsprach dem kanaanitischen Baal-Astarte-Duo. Nach der Legende soll Osiris ermordet und von der Gattin wiederbelebt worden sein, nachdem sie dazu das Auge ihres Sohnes Horus opferte. Osiris blieb zuständig für das Totenreich, wo er als Richter fungierte. Wenn es einem dort gut gehen sollte, musste man sich also mit ihm gut stellen. Jesus hätte also nach Meinung der Osiris-Anhänger, als er drei Tage im Hades war, Osiris um Erlaubnis fragen müssen, ob Er im Totenreich predigen und es dann wieder verlassen durfte (1 Pet 3,18-20).

Für beide Gottheiten gab es eigene Mysterienkulte. Isis wurde als Fruchtbarkeitsgöttin verehrt. Die katholische Maria wurde später auch wegen ihrer jungfräulichen Fruchtbarkeit angerufen. Isis wurde wie Maria häufig mit ihrem Knaben zusammen dargestellt. *39 Isis wurde geradezu zu einer Weltgottheit, denn im Lauf der Zeit wurden Isis und Serapis mit vielen orientalen oder griechischen Gottheiten gleichgesetzt. Wenn nun ein gewisser Kult eines jüdischen Gottessohnes auftauchte, bei dem man bestimmte, bereits bekannte Bestandteile des eigenen Kultes wiederentdeckte, wurde das nicht gleich als ungewöhnliche Neuheit aufgenommen. Das war auf den ersten Schluck nur kalter Kaffee. Tiefer in die Tasse blickte man nicht. Wenn doch, konnte man das, was man sah, immer noch als Torheit oder Ärgernis abtun. Diese Jesus war unheroisch und genügte nicht dem hellenistischen oder orientalen Anspruch einer Gottheit, die zwar nicht immer souverän, aber wegen ihrem Heroismus immer verehrungswürdig handelt. Außerdem kam dieser Jesus den Menschen viel zu nahe.

Man fand eine Isis-Inschrift mit einer auffälligen Ähnlichkeit in der Ansprache verglichen mit der späteren Mutter Gottes der Katholiken: „Göttin, Isis, die eine, die du alles bist“. *40 Es war üblich, jeden Morgen das Gottesbild der Isis einzukleiden, zu besprengen, einzuräuchern und Speisen vorzulegen. Besonders in Italien haben sich viele Inschriften und Artefakte aus jener Zeit erhalten. So manche Namensinschrift der Isis dürfte durch den Namen der Gottesmutter ersetzt worden sein. Den Rest konnte man stehen lassen. Gerade in südeuropäischen Ländern, wo die Maria besonders stark verehrt und in eigenen Festen und Umzügen gefeiert wird, haben sich viele Gebräuche erhalten, die bis in die vorchristliche Zeit zurückgeführt werden können, die aber inzwischen auf die katholische Maria übergesprungen sind. *41

Zu den kulturell-gesellschaftlichen Verhältnissen der damaligen Zeit gehörte auch das Selbstverständnis, dass man die Herrscher als Abbild von Gottheiten verstand. Alexander der Große war nicht lange tot, da begann man ihn schon als Gott zu verehren. Dass sich auch die römischen Kaiser über die Zuweisung göttlicher Weihen seitens ihrer Untertanen erfreuten und dies zum Teil auch einforderten, ist allgemein bekannt. Schließlich war das auch mit ein Anklagepunkt bei der Verurteilung von Jesus und dann der ersten Christen, als sie den Kaiser nicht als Herrscher von göttlichen Gnaden die Verehrung zukommen ließen, die der Staat erwartete. Viele Christen wurden daraufhin getestet, inwieweit sie loyale Mitbewohner des Römischen Reiches waren. Eigentlich hatten sie dabei nichts zu befürchten (Röm 13,1). Wenn sie jedoch aufgefordert waren, vor dem Opferaltar des Kaisers, der in den Tempeln der verschiedenen Gottheiten auch dabeistand, zu opfern und sich weigerten, erlitten sie Repressalien, die zeitweise soweit gehen konnten, dass man auch vor Hinrichtungen nicht zurückschreckte.

Man kann annehmen, dass die Christen, die in der Arena hingerichtet worden sind, vorher befragt oder verhört worden sind und mit ihren Antworten die Gerichte nicht zufriedenstellen konnten. Sie wurden wohl eher nicht dazu aufgefordert, ihre Religion aufzugeben, als Kompromisse einzugehen, wozu sie nicht in der Lage waren. *42

Wie schon das Alte Testament zeigt, war es eine weit verbreitete Sitte, dass sich die Herrscher des Orients selber in den Himmel erhöhten. So wird es über die Könige von Babylon, Assyrien und Ägypten und sogar Tyrus berichtet. *43 Die Archäologen und Historiker haben zahlreiche Belege dazu vorgelegt. Der orientale Herrscher ist Beauftragter, Schützling oder sogar Sohn des Stadt- oder Staatsgottes. Wenn die Christen den Messias als König aller Könige herausstellten, mochte das manchen Widerspruch hervorgerufen haben, zumal die Juden nicht sonderlich beliebt waren. Aber ein toter König war keine Gefahr. Man konnte die Christen ihren absonderlichen Glauben weiter ausüben lassen, es sei denn, dass sie sich in gesellschaftliche Sphären vorwagten, wo sie zu Konkurrenten wurden und die bestehende Hierarchie gefährdeten. Im Griechenland der nachklassischen Zeit war man geneigt, Göttlichkeit weniger sterblichen Herrschern zuzuschreiben. *44

Dafür verherrlichte man überragende Leistungen und Qualitäten. Ein Mensch, der Heldenhaftes vollbrachte, etwa wie Alexander der Große, war für die Menschen gottähnlich und verdiente göttliche Verehrung. Für einen Griechen war deshalb das jämmerliche Bild eines Gekreuzigten, der sogar noch darüber klagte, dass ihn sein Gott verlassen hatte, nichts weiter als eine unnütze Torheit. Ein Gekreuzigter genügt auch ästhetischen Ansprüchen nicht. Für gebildete Griechen unterlag Jesus einer Bande von missgünstigen, eifersüchtigen und um ihre Herrschaft besorgten Schwachköpfen, als was sie die Hohepriester Israels bezeichnet hätten. Das zu erkennen, war man in der Lage, wenn man nicht selber zum Täterkreis gehörte. Dieser Jesus verdiente vielleicht sogar noch Mitleid als „tragischer“ Held, aber doch nicht göttliche Verehrung. Er war bestenfalls ein Sisyphos. So musste es Christen immer wieder entgegengeschallt haben im Umfeld griechischer Lehrer und Denker.

Durch den Hellenismus verbreitete sich auch die Ansicht, dass die ganze Menschheit von einer einzigen Kultur umfasst werden sollte. Im Kosmopolitismus hellenistischer Prägung liege das Heil der Welt oder zumindest stelle er die beste aller Kulturen her, die für alle Völker gelten könne. Dieser Gedanke wurde dann auch von den Römern übernommen und wurde dem Begriff des Pax Romana zugeordnet. Zu diesem umfassenden „Römischen Frieden“, der unter Kaiser Augustus, einem Zeitgenossen Jesu, seine längste Friedenszeit erfuhr, und schon vor Christi Geburt begonnen hatte, trat der Schalom Israels mit dem Messias Jesus Christus in gewisser Weise in Konkurrenz. Es scheint kaum wie ein Zufall, dass der Kaiser Augustus mit seinem Weltreichkonzept und Jesus mit Seinem Königreichskonzept Zeitgenossen waren. Der Frieden der Welt, den Gott nicht geben will, wird im Evangelium durch einen anderen Frieden ersetzt. Das Reich Gottes ist ein anderes als das Römische Reich. Das erweckte das Misstrauen der Römer für die nur diese römische Welt an erster Stelle stehen konnte.

Jesus hatte zu Seinen Jüngern gesagt: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch.“ (Joh 14,27) Ergänzt durch die Aussage von Mt 10,34, wonach Jesus nicht gekommen war, um Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert, kann man erahnen, dass der Feindschaft, welche die Römer den Christen entgegenbrachten, zumindest ein großes Zweifeln zugrunde gelegt sein musste, ob diese Christen nützliche und harmlose Bewohner in der römisch-hellenistischen Weltordnung waren. Jesus hatte mit dem Schwert die unvermeidliche Auseinandersetzung mit den Feinden des Evangeliums gemeint. Dabei zog er großzügige Grenzen. Jeder, der das Evangelium ablehnt, macht sich selber zu einem „Feind“, einem Skeptiker, einem Missgünstling, einem Widersacher. Die Christen mussten sich gewiss viel Spott über „ihr“ Reich Gottes anhören. Die Pax Romana war Realität, wo war das Reich des Christus? Die Zahl der Anhänger blieb zunächst überschaubar. Christ zu sein, hatte ungefähr das gleiche Ansehen wie heute im 21. Jahrhundert und das schwankte zwischen der Bezeichnung der harmlosen Spinner und der gefährlichen Fundamentalisten. Ausgerechnet von diesen Juden ging dann ein für die Römer sehr ärgerlicher Krieg aus. Jüdische Aufständische hatten die römische Garnison in Jerusalem niedergemacht, obwohl diese sich ergeben hatten. Es hatte aber schon seit einigen Jahren in den sechziger Jahren des ersten Jahrhunderts starke Widerstände in der jüdischen Bevölkerung gegen die Römische Besatzungsmacht gegeben, die sich immer wieder unsensibel gezeigt hatte. Die Abneigung der Juden gegenüber den Römern, die sich oft in Verachtung äußerte, beruhte auf Gegenseitigkeit.

Die Juden, jedenfalls die Unangepassten, zeigten sich nicht beeindruckt von der römischen Großmachtsucht und ließen bei jeder Gelegenheit durchblicken, dass sie Gottes Volk waren und von römischer Kultur nicht viel hielten. Die Zeloten wollten die selbstherrlichen Römer aus dem Land werfen und wurden in ihrem Hass gegen die Römer noch durch apokalyptische Fantasien beflügelt. Sie erwartetet eine Art Messias, der sie zum Sieg führen würde. *45 Das war in den Ohren der Reichsbürger eine ähnliche Erwartung, wie sie von den Christen bekannt war. Der Messias war schon da, aber er wird bald zurückkommen, und dann? Dann wird er ein Reich errichten, das gewiss keine Rücksichten auf römische Herrschaftsansprüche haben würde. Dann kam es um das Jahr 64 zu einer Zunahme jüdischer Anschläge, die sich zu einem Krieg entwickelten, der mit der Zerstörung Jerusalems seinen traurigen Höhepunkt erreichte.

Die Römer hatten hohe Verluste. Der Zorn gegen das Judentum entlud sich im ganzen Römischen Reich. Das bekamen auch die Juden in der Diaspora zu spüren. Da die Christen der ersten Generation überwiegend Juden waren, traf sie es genauso. Die meisten Jünger Jesu und die meisten Augenzeugen der Wunder Jesu, waren zur Zeit der Aufstände schon nicht mehr unter den Lebenden. Die Überlebenden der Aufstände und des Krieges, der sich noch bis zur Mitte der siebziger Jahre hinzog, kämpften nicht nur um ihr physisches Überleben, nachdem ein Großteil der Bevölkerung ums Leben gekommen war oder als Sklaven weggeführt worden war. Es war nicht die Zeit, mit großen Gesten und ambitionierten Ansprüchen eine religiöse Botschaft zu verkünden. Die Christen werden eher kleinlaut nach sich selbst geschaut haben. Der Erste Jüdische Krieg mit der Zerstörung und Entvölkerung Jerusalems war nicht nur für das Judentum eine Zäsur, sondern auch für die Christen. Danach veränderte sich die Verkündigung und die Zusammensetzung der Gemeinden. Das war von weltgeschichtlicher Bedeutung. Das ist keine Sache, mit der sich nur Kirchengeschichtler oder Bibelausleger zu beschäftigen haben. Es ist keine Übertreibung, festzustellen, dass hier die Weichen für den Weitergang der Menschheitsgeschichte gestellt wurden, denn Judentum und Christentum gaben und geben ihren Takt an.

Nach der nationalen Katastrophe verlor die jüdisch-messianische Prägung des Christentums deutlich an Boden, die sogenannten Heidenchristen begannen die Gemeinden zu dominieren. Diese deutsche Wortschätzung lässt unfreiwillig tief blicken. Eigentlich sind damit nichtjüdische Christen, also Christen aus den Nationen gemeint. *46 Tatsächlich sind die „Heidenchristen“ in einer unbekannt großen Zahl dadurch zu kennzeichnen, dass sie Heiden aus den Nationen sind, die das Christentum angenommen, aber ihr Heidentum nicht völlig aufgegeben haben. In diese für die Entwicklung des Christentums kritische Zeit fallen die Johannesbriefe, das Johannesevangelium und die Apokalypse. Johannes war der einzige Jünger, der im dritten Drittel des ersten Jahrhunderts noch lebte. Er spricht über die Juden in seinen Schriften so wie einer, der bewusst auf Abstand zu ihnen geht, obwohl er doch selber einer war. Das passt zu den Geschehnissen um das Jahr 70 und ihren Nachwirkungen. Nachdem der Tempel nicht mehr stand, konnten auch die von der Torah vorgeschriebenen Opferungen nicht mehr vorgenommen werden. Das Judentum hatte seinen noch verbliebenen Schwerpunkt, die Torah – soweit es noch ging – zu beachten und zu studieren.

Vierzig Jahre vorher hatten sie ihren Messias, auf den die Torah wie ein Lehrmeister eigentlich zuläuft, ans Kreuz nageln lassen. Dieser Messias Jesus Christus hatte die Torahpraxis der Juden getadelt. In Seiner Bergpredigt hatte Er verdeutlicht, dass das Halten der Torah wie es eigentlich richtig wäre, gar nicht menschenmöglich ist, weil jeder Mensch dabei überfordert ist. Sie hatten Ihm keinen Glauben geschenkt. Nun war es gekommen, dass die Torah auch förmlich wegen der Zerstörung des Tempels gar nicht mehr zu halten war. Das eine ist nicht Ursache des anderen. Aber das, was mit zu den Ursachen der Zerstörung des Tempels gehört, gibt auch das Problem mit dem Unvermögen, die Torah richtig anzuwenden, an. Es ist das unbekehrte Herz, das sich weigert, sich ganz Gott zu öffnen. Wäre das geschehen, wäre es nie zur Zerstörung des Tempels gekommen und auch das Scheitern an der Torah müsste nicht bis zum zerstörerischen Selbstzweifel der Juden geführt haben.

Auch auf den endgültigen Verlust der Möglichkeit, doch wenigstens die rituellen Torahvorschriften erfüllen zu können, erfolgte keine reuige Umkehr. Das Angebot der messianischen Juden zur Umkehr kam für die übrigen Juden nicht in Frage. Eine geistliche Verstockung setzte ein, die bis auf den heutigen Tag beim Großteil des Judentums geblieben ist. Nunmehr nach dem Ende des Tempeldienstes bestimmten nur noch die Pharisäer die Geschicke des religiösen Judentums. Die Sadduzäer waren obsolet. Jesus hatte vor allem die Pharisäer, die Hüter der Torah, immer wieder kritisiert, während die Sadduzäer, die den Tempeldienst unter sich hatten, glimpflicher davonkamen. Doch Sadduzäer gab es nun nicht mehr. Schriftgelehrte brauchte man weiterhin. Manche Juden erinnerten sich auch an die Prophezeiung Jesu, dass der Tempel abgerissen werden würde. Es kann auch vorgekommen sein, dass messianische Juden den anderen Juden das aufs ungesäuerte, aber umso bitterere Brot schmierten. Allzu oft wird es aber nicht vorgekommen sein, denn zu schmerzlich war der Verlust des Tempels für alle Juden. Wie in solchen Fällen üblich, führten Sticheleien und Wortgefechte nicht zu einer Mehrliebe für die Sache des Messias aus Nazareth.

Es wird wohl nicht mehr lange gedauert haben, dass in eines der bekanntesten jüdischen Gebete eine Bitte aufgenommen worden ist, dass Gott die Christen, „Minnim“ genannt, verfluchen und auslöschen wolle. Es ist gut vorstellbar, dass unter dem einsetzenden Druck aus dem Judentum manche messianischen Juden „umfielen“ oder „lau“ wurden. Für den Verfasser des Hebräerbriefes gab es damit den Anlass, seinen Brief zu schreiben. Diese Phase, in der sich das messianische Judentum in dieser Situation befand, dass das Judentum darauf bedacht war, die Kräfte zum Überleben zu bündeln und sich nicht in Sektiererei und Irrlehren zusätzlich zu erschöpfen, dauerte etwa von dem Jahr 70, dem Jahr der nationalen Katastrophe, bis zur nächsten großen nationalen Katastrophe mit den Bar Kochba Aufständen ab dem Jahr 135, als die Juden wiederum versuchten, die lästige römische Oberherrschaft abzuwerfen. Das Ergebnis des Zweiten Jüdischen Kriegs war identisch mit dem Ausgang des Ersten. Die Römer töteten hunderttausende Juden und verwandelten Jerusalem nun in eine vollends heidnische Stadt. Anstelle des Zweiten Tempels war längst ein Tempel zu Ehren des Zeus-Jupiter entstanden. Es dauerte noch einmal knapp 200 Jahre unter den heidnischen Römern, bis eine neue Ära heranbrach, die für die Juden allerdings keine Verbesserung brachte.

Das Heilige Land wurde zwar weiterhin von Römern beherrscht, aber die hatten inzwischen zu einem maßgeblichen Teil ihre Religionszugehörigkeit oder zumindest ihre Haltung gegenüber den Christen geändert. Die Römer im späteren Bereich der orthodoxen Varianten waren auch solche Christen geworden. *47 Man kann sich kaum eine größere Demütigung der Juden vorstellen. Seit vierhundert Jahren war man mehr oder weniger nichts weiter als eine römische Provinz. Die Heiden hatten die Oberhoheit über die heiligen Stätten und bauten ihre heidnischen Tempel auf heiligem Boden! Rom blieb, aber war christlich geworden! Und diejenigen, die man vorher abgewiesen, verlacht und sogar verfolgt hatte, waren jetzt zu den Herren geworden! Die einst Unterdrückten, schwangen jetzt das Zepter. Sie drehten den Spieß um und ließen nun die Juden spüren, dass sie eine verlorene Nation war, an die Gott nicht mehr dachte.

Anstatt dass sich Judentum und Christentum über den Hellenismus annäherten, kam es zur vollständigen Entzweiung der Brüderreligionen. Jeder beharrte darauf, das wahre Volk Gottes zu sein und die Verwerfung des anderen behaupten zu können. Dabei waren beide bis zum vierten Jahrhundert zutiefst vom Hellenismus durchdrungen.

Was war die besondere Attraktion des Hellenismus für das Judentum? Die Bibel bedarf nicht der Ergänzung durch die griechische Philosophie. Aber die hellenisierten Juden glaubten in der griechischen Philosophie eine Ergänzung zur Torah und zur Erklärung der Funktion der Tugend, die Gott fordert, gefunden zu haben. Einige entdeckten auch, dass man die Tugend nicht bloß als heilsame Forderung Gottes verstehen müsste, sondern dass man ihre Personifizierung erkennen sollte. Eines gelang diesem hellenisierten Torah-Judentum jedoch nicht, zu erkennen, dass die Personifikation auf den Menschen überspringen müsste und dass dies durch jemand geschehen müsste, der beides war, Mensch und Gott. Die göttliche Natur des Jesus von Nazareth macht konsequent Seine Stellvertretung für alle Menschen, insbesondere auch die erforderliche umfangreiche Entsühnung und Versöhnung mit Gott vollgültig. Die menschliche Natur ist das Gegenüber Gottes, um das es der gesamten Schöpfung wegen geht. Sie soll nämlich ihrem Ziel zum Zwecke der Verherrlichung Gottes zugeführt werden.

Um dies verstehen zu können, hätten die Juden erkennen müssen, dass das Heil Israels nur eine Etappe für etwas Größeres und Allumfassenderes ist. Und tatsächlich bildete sich gerade zur hellenistischen Zeit, etwa um die Zeit des ersten Auftretens des Messias Israels, eine universalistische Schau aus, die einerseits von der jüdischen Überlieferung selbst stammt, denn das Alte Testament ist voll von Einbezugnahmen der Nationen und aller Völker in das messianische Heil. *48 Das war Standardwissen: „Alle Nationen, die du gemacht hast, werden kommen und vor dir anbeten, Herr, und deinen Namen verherrlichen.“ (Ps 86,9) Andererseits sind griechische Philosophen für das Denken über den jüdischen Tellerrand hinaus verantwortlich, denn sie trachteten schon immer danach, die Menschheit in ihre Überlegungen über das Werden des Weltganzen im Verhältnis zur Gottheit mit einzubeziehen.

Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen dem universalistischen Heilsangebot Gottes und Seinem Wesen, das nur als vollkommen tugendhaft angenommen werden kann. Gott will alles vollkommen machen. Und die Bibel sagt, dass Er Seine Absichten vollbringt und Ihm niemand wehren kann. *49 Wenn Ihm niemand wehren kann, dann vermag das der Mensch auch nicht. Anscheinend war Hiob der erste, der das erkannt hat: „Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer.“ (Hiob 42,2)

Wer gut sein und das Böse meiden will, begnügt sich nicht mit moralischen Vorschriften. Auch die jüdische Torah reicht dabei nicht aus. Man muss sich direkt und unmittelbar an Gott orientieren, der die Verkörperung des Vollkommenen, sowohl in ethischer Hinsicht als auch in Bezug auf Seine Heilsabsicht sein muss. Soweit gelangten die jüdischen Denker noch im ersten Jahrhundert, wie man ihren Schriften entnehmen kann. An Jesus Christus, der diese Verkörperung unter die Menschen gebracht hat, dachten sie vorbei. Jesus Christus ist das Ziel der Torah. Die Torah konnte nicht auf etwas Höheres und Vollkommeneres zielen als Gott selbst. Auch die griechische Philosophie konnte nichts Höheres ersinnen. Jesus Christus ist die Antwort Gottes auf alle offenen Fragen. Mit Seiner Person tut sich eine neue Welt auf, in der alle Fragen beantwortet werden. Das jedenfalls besagen die Aussagen des Neuen Testaments.

Die jüdischen Denker haben richtig erkannt, was auch die Autoren des Neuen Testaments herausgestellt haben, nämlich dass die Hinwendung zu Gott und zu Gottes Wesen zum Heil unbedingt erforderlich sind. Ebenso wie das Gegenstück dazu, die Abkehr vom Bösen. Diese erfolgt jedoch von selbst, wenn man sich Gott zuwendet. Wer sagt, dass er Gottes Werke tut, obwohl er Böses tut, lebt einen Widerspruch. Die Torah ist heilig und gut, sagte auch ein Paulus, aber nur wenn man sie recht gebraucht. Recht gebraucht man sie nur, wenn man mit ihr diesem Gott nähherkommt, der die Gebote der Torah aufgestellt hat, um eine erste Orientierung für die rechte Heilsrichtung zu geben. Wer einen Rührlöffel dem Zweck zuführt, einen Teig umzurühren, führt ihm einen rechten Zweck zu. Das wird ihn aber nicht vor dem Tod retten. Sonderbarer Weise denken viele Menschen, dass sie durch den rechten Gebrauch der Torah gerettet werden können. Die Torah hat keinen Selbstzweck, der ihr dann doch auch wieder nur von Gott gegeben sein müsste. Der Zweck der Schöpfung hängt mit der Gemeinschaft engstens zusammen, die Gott mit Seiner Schöpfung eingehen möchte. Deshalb ist die Sünde tatsächlich nicht einfach nur ein Verstoß gegen eine Gesetzessammlung zu einem besseren Leben, sondern das Anders-wollen wie Gott will und Gott geht es immer um die heilsame Gemeinschaft.

Die Juden, die den Worten ihrer Bibel glaubten, hofften Aufnahme zu finden in das messianische Reich. Sie hatten dazu eine grobe Orientierung mit eben dieser Torah und den übrigen heiligen Schriften. Aber es blieb nur eine Hoffnung, denn eine sichere Heilszusage gab es nicht, die man durch ausreichende Werke bestätigen konnte. *50 Der Grund dafür liegt in der begrenzten Kraft der Torah und des bloß Menschenmöglichen. Es fehlt dem ganzen Alten Testament mit Seinem Bund die persönliche Begegnung mit Christus. An Ihm hängt aber die ganze Schöpfung. Zuerst als JHWH, dann als Jeschua. Zuerst in der Über- und Unterordnung und dann in der vollendlichen Hinzufügung.

Ohne die Anerkennung des Messias Jesus blieben die Hüter des Erbes des Alten Bundes in der Ungewissheit. Das ist das Ureigene des christlichen Glaubens, dass er den Christus im Herzen hat. Wo nicht, ist es kein vollendlicher christlicher Glauben. Insofern ist die Bezeichnung für die Anhänger Jesu als „Christen“ zwar richtig, aber unvollständig, wenn sie den Christus nicht persönlich in sich haben. „Christus“ ist ja das latinisierte Wort für Christos, was „Gesalbter“ bedeutet. Dem entspricht das hebräische Meschiach, das ebenso latinisiert wurde zu Messias. Das „Jesus“ bleibt dabei außen vor. Das aber ist das Übergeordnete zum Messias, denn der, der König über alle Menschen ist, ist auch der Erlöser aller Menschen. Jeschua bedeutet nämlich „JHWH rettet“. Der Name ist Programm, denn derjenige, der war und ist und sein wird, weil Er das nicht zu beschränkende Leben in vollkommenster Form ist und weil dieses Leben auch nicht in der Weitergabe verhindert werden kann, erlöst vor jeglicher Art von Beschränkung.

Die Christen, die es seit den dreißiger Jahren des ersten Jahrhunderts gibt, sind also die ersten, die diese Zusammenhänge verstehen können und sie auf sich beziehen können, denn ohne Jesus, ohne den „JHWH rettet“, gibt es keine Rettung und dementsprechend auch keine Zielerreichung zum Leben göttlicher Art. Leben göttlicher Art ist Leben, das ist und sein wird und zwar nach der Art Gottes. Das ist mehr als nur ein Leben in einem messianischen Reich, in wunderbaren, aber noch nicht vollkommenen Verhältnissen.

In dem Maße wie sehr sich irgendjemand, sei es ein Jude, oder ein Nichtjude, allein für sich oder in der Gemeinde, diesem Jesus anschließen würde, hätte er auch die Nähe zu Ihm. Wenn Jesus oder eine Vorstellung über Ihn nur eine Nebenrolle spielen, oder nicht in jeder Lehre zum Tragen kommen würde, dann wäre man Angehöriger einer Kirche oder einer Denkrichtung, die den üblichen Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens und gesellschaftlicher Entwicklungen unterworfen ist. Zwischen diesen beiden Polen, der heidnischen Umwelt mit der hellenistisch-jüdischen Kultur auf der einen Seite und dem Maß der persönlichen Beziehung zu Christus auf der anderen, befinden sich diejenigen, die sich Christen nennen lassen. Das trifft auf nichtjüdische Christen ebenso zu wie auf die jüdischen Christen.

Die Letzteren waren noch einmal unterteilt. Diese Teilung entstand früher als alle weiteren Abspaltungen, die sich in der Kirchengeschichte später einstellen sollten. Da war die Gemeinde in Jerusalem und dann gab es noch die messianischen Juden in der Diaspora. So wie sich die Jerusalemer Juden von den Juden in der Diaspora unterschieden, die einem viel stärkeren Einfluss durch den Hellenismus ausgesetzt waren, so war es auch bei den messianischen Juden. War man aus Jerusalem, gehörte man zu den Eiferern für die Torah (Ap 21,20), war man aus der Diaspora hatte man vielleicht ein Faible für mehr Liberalismus. *51 Eine unterschiedliche Ausrichtung lässt auch die Apostelgeschichte vermuten. Stephanus, dem Namen nach ein hellenistischer Diasporajude, wird in Jerusalem von „orthodoxen“ Juden gelyncht bzw. im Schnellverfahren an die Wand gestellt. Man liest nichts davon, dass ihn die Brüder von Jerusalem unterstützt hätten. Das scheint noch keinem Bibelausleger aufgefallen zu sein.

Später wird Paulus, der Apostel der Nichtjuden, in Jerusalem festgesetzt und nach Cäsarea ans Mittelmeer verbracht, wo er monatelang inhaftiert wird (Ap 23-25). Auch da liest man nichts von einer Unterstützung aus Jerusalem. Paulus bezeichnet die Brüder aus Jerusalem, die ihm seine von der Botschaft, die die Brüder in Jerusalem vertreten, abweichende Botschaft wehren wollen, als „einige von Jakobus“ (Gal 2,12). Sein Reisegefährte Lukas, der jedenfalls auch aus der Diaspora stammte, nennt sie „die aus der Beschneidung“ (Ap 11,2). Man muss hier keine Distanz hineinlesen, denn sie steht immanent im Text! Auch das scheint noch niemand wirklich aufgefallen zu sein.

Die Geschichte um die Heuchelei von Petrus (Gal 2) und wie Petrus bei der Apostelkonferenz Paulus verteidigt (Ap 15,7ff), dass auch ein Petrus seine eigenen Ansichten hatte, wie mit der neuen Lehre, die Paulus von Christus persönlich erhalten hatte, umzugehen war. *52 Der Jakobusbrief schließlich zeigt einen eklatanten Unterschied zur Lehre des Paulus. Die Jerusalemer messianisch-jüdische Gemeinde war torahtreu und entging vielleicht auch deshalb größeren Problemen mit dem Judentum, das in Jerusalem besonders konservativ war. Hellenistische Juden wie Stephanus, ob sie in der Diaspora lebten oder in Jerusalem, waren meist liberaler und weltoffener. Dass die Jerusalemer Gemeinde, bei denen es viele Eiferer für die Torah gab (Ap 21,20), einigermaßen von den orthodoxen Juden geduldet wurde, was man über den Torahkritiker Paulus nicht sagen konnte, wird eindrücklich belegt. Wann immer Paulus nach seiner Bekehrung nach Jerusalem kam, bekam er Ärger. Jedes Mal gab es einen Volksaufstand und er musste Hals über Kopf fliehen.

Für die Jerusalemer Gemeinde bedeutete die Anwesenheit von Paulus Stress. Die Brüder waren deshalb froh, wenn er die Stadt wieder verlassen hat, denn so waren auch sie nicht mehr gefährdet. Die Gemeinde war kein verschworener Haufen von Geheimbündlern. Sie hatten alle Familien, für die sie zu sorgen hatten. Das war insbesondere nach dem Debakel mit dem Versuch des Kommunismus, das einige arm gemacht und andere über Gebühr belastet hatte, umso schwieriger. *53

Die Apostelgeschichte drückt das schonungsvoll und vielleicht auch mit einer gewissen Ironie aus. Paulus legte sich mit den Hellenisten an, vermutlich waren es nichtmessianische Juden, denn auch denen war der Liberalismus eines Paulus zu viel (Ap 9,29). „Als die Brüder es aber erfuhren, brachten sie ihn nach Cäsarea hinab und sandten ihn weg nach Tarsus. So hatte denn die Gemeinde durch ganz Judäa und Galiläa und Samaria hin Frieden.“ (Ap 9,30-31) Hätte es die Praxis damals schon gegeben, hätte man auch drei Kreuze dazu gemacht. Man schicke einen Störenfried weg, dann herrscht wieder Frieden. Was hatte Jesus gesagt? „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen …“ (Mt 10,34).

Das orthodoxe Judentum verlagerte seine Gegnerschaft von den zunehmend bedeutungslos werdenden messianischen Juden auf die nichtjüdischen Christen, denn viele Nichtjuden, die sich für das Judentum wegen deren außergewöhnlichen Vorstellungen über den einen Gott und eine vorzügliche Ethik stark interessiert hatten, wendeten sich dem Christentum zu. Dort bekam man alles, was das Judentum zu bieten hatte, abzüglich der Hindernisse von einem bloß „Gottesfürchtigen“ zu einem beschnittenen Proselyten werden zu müssen. Die Beschneidung ist erst seit einhundert Jahren eine problemlose Operation. Zur damaligen Zeit setzte man sich nicht nur dem Spott der Nichtjuden aus, sondern auch einem gesundheitlichen Risiko. Der Schritt von einem zur nichtjüdischen Gesellschaft Gehörigen zu einem erkennbaren, nicht mehr verkennbar zu machenden Juden, war groß.

Es gab also für das messianische Judentum, an das der Hebräerbrief gerichtet ist, eine Menge Druck von allen Seiten. Die Aussichten standen, menschlich gesehen, schlecht. In einer zunehmend heidnischen Welt, in der dann auch das nichtjüdische Christentum stark beim Heidentum Anleihen machte, unter anderem auch, um sich bei den Heiden beliebt zu machen, in der das Judentum seit den siebziger Jahren und dann auch noch einmal 65 Jahre später hart bedrängt wurde, war das messianische Judentum gesellschaftlich auf dem absteigenden Ast. Und Gott griff nicht ein. Er hatte Seine Gründe. Das messianische Judentum wurde ähnlich wie das übrige Judentum heilsgeschichtlich zurückgestellt. Seine Wirkung in der Welt sollte in späteren Tagen voll zur Ausreifung kommen. Eine jahrhundertelange Konkurrenz mit der heidenchristlichen, sehr schnell anti-jüdisch werdenden Kirche des sogenannten Heidenchristentums mutete Gott den messianischen Juden nicht zu. Ihre nichtmessianischen Brüder mussten hingegen der Missgunst und der Willkür des Kirchenchristentums ausgesetzt werden.

Der Kirchenvater Origenes, der gegen Ende des dritten Jahrhunderts als kirchliche Geistesgröße galt, hielt Lukas oder den ersten bekannten Ältesten der Gemeinde in Rom, Clemens Romanus, für den Autor des Briefes. Das zeigt, dass man damals schon nicht mehr wusste, wer den Hebräerbrief geschrieben hatte. Inhaltlich steht der Brief in großer Übereinstimmung mit der Lehre von Paulus.

Paulus war der Apostel der Nationen. Warum sollte Paulus an die „Hebräer“ geschrieben haben? Er hatte vielleicht sogar noch mehr Gründe als jeder andere Apostel. Im Jahre 60 hätten die Gemeinden vielleicht tatsächlich von Petrus oder Jakobus oder einem der anderen Apostel und Evangelisten einen umfangreichen Lehrbrief über das Verhältnis von Altem Bund zu Neuem Bund und die Bedeutung von Jeschua Maschiach erwartet, aber nicht unbedingt von Paulus. Doch andererseits hatte Paulus all die Gründe, die auch die anderen Apostel hatten,

- den messianischen Juden zu zeigen, welche umfassende und überragende Bedeutung Jesus Christus hatte, Er war nicht nur der Messias! -

und zusätzlich noch einen guten eigenen Grund:

- Die messianischen Juden, die ihn beschuldigten, die Torah zu missbilligen und mit der jüdischen Tradition zu brechen, über seine Sichtweise aufzuklären und sie dadurch zu rechtfertigen.

Erstaunlicherweise werden von den meisten Auslegern andere Gründe genannt als diesen, der sich aber aus dem Brief herauslesen lässt. Die Gründe, die für die Abfassung des Hebräerbriefes angegeben werden, sind überwiegend so abwegig, dass es sich nicht lohnt, darauf einzugehen.

Der Hebräerbrief ist auf mehreren der ältesten Handschiften mit Pro Hebraiois tituliert. *54 Tatsächlich beschäftigt er sich auch mit hebräischen Themen. Er könnte von Paulus auf Hebräisch für Juden geschrieben und von Lukas ins Griechische übertragen worden sein, denn das ist die Lehre von Paulus, während das Griechisch nicht mit dem Stil der anderen Paulusbriefe übereinstimmt.

Paulus hätte ausreichend Gründe gehabt, an das Judentum, insbesondere das messianische Judentum, einen Lehrbrief zu schreiben. Die orthodoxen Juden waren lehrmäßig schnell mit ihm fertig, denn Paulus behauptete nicht nur, dass Jesus von Nazareth der Messias sei, sondern auch noch, dass die Torah nur Mittel zum Zweck sei, auf Jesus hinzuführen. Und vielleicht das Schlimmste: Er hob die Nationen auf die Stufe Israels. Das war für orthodoxe Juden alles so abwegig – das kann man wissen, weil es das orthodoxe Judentum mit seinen Stellungnahmen ja noch heute gibt -, *55 dass es mit Paulus nicht zu spitzfindigen oder feinsinnigen Auseinandersetzungen kam. Anders sah die Konfrontation mit den messianischen Juden aus, die keineswegs bereit waren, Paulus in allem zu folgen. Die messianischen Juden meinten, sie müssten die Nichtjuden erst zum Judentum überführen, wenn diese für das Heil reif gemacht werden wollten. Diese messianischen Juden waren in den Gemeinden von Paulus aufgetaucht und versuchten, die „Versäumnisse“ von Paulus auszumerzen, zum Ärgernis und Zorn von Paulus.

Der Hebräerbrief ist so aufgebaut, dass er als Entgegnung gegen die Kritiken an der neuen Lehre des Evangeliums über Jesus Christus verstanden werden kann. Es ist ein Lehrbrief für lernwillige Juden. Vielleicht sollte der Brief die Behauptung der Gegner Pauli entkräften, dass er gegen die jüdische Überlieferung predigte, obwohl er das natürlich, jedenfalls zum Teil, tat. Das bedeutete nicht, dass Paulus nicht vielleicht sogar der einzige war, der zu seiner Zeit wusste, wie das Alte Testament im Verhältnis zum Evangelium Jesu Christi zu verstehen war. In diesem Licht scheint der Brief geeignet zu sein, dieses Verhältnis zu erklären und die Verständnislücken bei den Kritikern zu schließen.

Ein Ausleger schreibt: „Sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine heidenchristliche Gemeinde. Der Verfasser warnt nämlich in 3,12 ganz allgemein vor einem Abfall vom Glauben und nicht vor einem Rückfall ins Judentum.“ *56 Der Ausleger unterstellt also, dass eine Warnung an eine messianisch-jüdische Gemeinde eine Warnung vor einem Rückfall ins Judentum beinhalten müsste. Das ist natürlich nicht zwingend, insbesondere ist dann eine solche Warnung nicht notwendig, wenn der Briefschreiber weiß, dass die Gemeinde ihre jüdischen Wurzeln nicht aufgegeben hat. Und genau das gilt für messianisch-jüdische Gemeinden, über die man vielleicht, wenn nicht sogar sehr wahrscheinlich, grundsätzlich sagen kann, dass sie eher im historischen Judentum des Glaubens an den Gott JHWH stehen als die nichtmessianischen Juden.

Außerdem scheint der Ausleger anzunehmen, dass eine messianisch-jüdische Gemeinde nicht vor einem Abfall vom rechten Glauben gewarnt sein könnte, sondern nur eine heidnisch-christliche Gemeinde. Eine logische Erklärung dafür gibt er nicht. Man sieht, dass er kein Argument für seine These hat und diese offenbar nur einer Vormeinung Rechnung trägt. *57

Vor solchen Auslegungen kann man nur warnen, weil sie nicht erkennen lassen, dass sie das Wort Gottes ernst nehmen. Das zeigt sich dann oft auch in der Maximierung des Widerspruchs zu dem, was die Bibel sagt. Der gleiche Autor sagt, für die seit Urzeiten dem Hebräerbrief zugeeignete Empfängerschaft gelte: „'An die Hebräer' hilft nicht weiter.“ Er sagt also, das, was die Bibel sagt, hilft nicht weiter, wenn man die Bibel verstehen will. Das ist natürlich Unsinn. *58

Richtig ist jedenfalls, dass der Hebräerbrief nicht nur für Hebräer, sondern auch für andere Menschen, die sich für Jesus Christus irgendwie interessieren, von Bedeutung ist. Insofern muss der Verfasser nicht allein an die „Hebräer“ gedacht haben. Es ist aber inhaltlich klar, dass die Thematik alle Juden angehen muss und daher jeder, der den Brief liest als solcher „Hebräer“ erkannt und dementsprechend auch benannt werden kann.

Man muss das, was die Bibel sagt, ernst nehmen, aus dem einfachen Grund, weil man sonst nicht wissen kann, was sie, bzw. ihre Verfasser, sagen wollen. Sie sagt, dass dieser Brief an die Hebräer geschrieben ist. Wer waren die Hebräer im ersten Jahrhundert, also der Abfassungszeit des Briefes? Es waren alle Juden und Angehörige des Zwölf-Stämme-Volks Israel in und außerhalb des Landes Israel. Der Brief war also auch an die Juden und die sich als Angehörige Israels verstehen den in der Diaspora gerichtet. Leider scheinen das viele Kirchenvertreter und Bibelausleger nicht wahrhaben zu können. In dem Wahn, die christliche Kirche sei das „neue Israel“, unterstellen sie dem Briefeschreiber tatsächlich, dass er mit „Hebräer“ lediglich „Christen“, mithin auch Nichtjuden gemeint haben soll. Sie seien also die neuen Hebräer des Neuen Bundes. Dem steht aber nicht nur Jer 31,31 entgegen, sondern auch allzu deutlich Röm 9-11. Vielen Bibelauslegern ist es nicht verborgen geblieben, dass in Röm 9-11 unter „Israel“ das jüdische Volk zu verstehen sein musste, weil es hier in der gleichen Ergänzung und Präposition steht wie im Alten Testament. *59 Hier bleibt kein Deutungsspielraum.

Indes zeigt der Inhalt des Briefes und die Thematik, dass es dem Schreiber darum geht, alles das, was die Juden aus dem Alten Testament wussten und glaubten, im Lichte des Neuen Bundes und, noch wichtiger, im Lichte des Jesus von Nazareth zu erklären. Schon deshalb, weil der Hebräerbrief diese klaren Linien vom Alten Testament zum Neuen Testament zieht und dabei immer bei Israel und dem Messias Israels bleibt, ist klar, dass die Ersatztheologen mit ihrer Idee von der ersatzlosen Streichung Israels als Gottes Volk nicht recht haben können.

Der Hebräerbrief - Ein heilsgeschichtlicher Kommentar

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