Читать книгу Weihnachtszauber - Besinnliche Weihnachtsgedichte und -geschichten - Romana Knötig - Страница 7
ОглавлениеSein schönstes Weihnachtsgeschenk
Heute war ein guter Tag gewesen. Obwohl die Stadt zu solchen Anlässen für gewöhnlich nur mäßig besucht war, hatten sich überraschend viele Leute in den Straßen getummelt und noch letzte Einkäufe für die bevorstehenden Feiertage getätigt. Und sie waren sehr großzügig gewesen. Erich hatte im Supermarkt einen Sack Teelichter gekauft, dazu zwei kleine Engelsfiguren aus Holz, einen um die Hälfte verbilligten Christstollen und eine Flasche Starkbier. Nein, zwei – zur Feier des Tages.
Erich war 64 Jahre alt und lebte seit über 20 Jahren auf der Straße. Im Nachhinein konnte er nicht mehr genau sagen, wie es so weit hatte kommen können. Wahrscheinlich eine Verkettung unglücklicher Ereignisse: erst die Scheidung, der Verkauf des Hauses, die vielen Schulden, dann der Verlust seiner Arbeit – gekündigt nach 21 Dienstjahren – und Freunde, die sich nicht als solche erwiesen und schnell rar gemacht hatten. Aber vielleicht war er auch einfach nur nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen. Wer wusste das schon.
Ab Mittag, als die Läden schlossen und alle zu ihren Familien nach Hause gingen, war es ruhig geworden in der Stadt. Erich hatte seine paar Sachen genommen und sich auf den Weg ins Pfarrhaus gemacht. Dort gab es wie jedes Jahr an Heiligabend Würstchen und heißen Tee mit selbstgebackenen Keksen für Obdachlose. Außerdem einen wunderschön geschmückten Baum und die Gelegenheit, sich zu waschen. Erich hatte zwei seiner Kollegen angetroffen, mit denen er zur Zeit ein seit Monaten unvollständig abgerissenes Haus bewohnte. Sie waren längere Zeit gemütlich beisammen gesessen, hatten geplaudert, gelacht und Weihnachtslieder gesungen – wenngleich diese alles andere als melodisch geklungen hatten. Der Pfarrersköchin und dem Pfarrer hatte er zwischendurch die kleinen Engelsfiguren gegeben. Die rundliche Frau hatte sich sichtlich darüber gefreut und auch Pfarrer Heine war peinlich berührt gewesen. Aber wenn es sich die beiden schon zur Aufgabe gemacht hatten, Außenseiter der Gesellschaft zu unterstützen, so wollte Erich wenigstens ein kleines bisschen Dankbarkeit zeigen.
Dann, als die Dämmerung hereingebrochen war, hatte er sich auf den Weg zum nahegelegenen Friedhof gemacht und seine Verwandten und Menschen, die er gemocht hatte, besucht. Er hatte auf jedem ihrer Gräber ein Teelicht angezündet, sich mit Christstollen und Bier auf eine Bank gesetzt und ihnen „Frohe Weihnachten!“ zugeprostet.
Nun stand er erneut vor der Kirche, deren Vorplatz – bis auf einen kleinen Glühweinstand – noch menschenleer war. Nur aus dem Inneren vernahm er leises Orgelspiel und helle Frauenstimmen. Die letzten Proben vor der Abendmesse. Erich hatte mit Kirche früher nichts am Hut gehabt, mit Gott schon gar nicht. Anfangs hatte er Ihn für seine Misere verantwortlich gemacht, dann angefleht, Er solle ihm doch endlich helfen und als dies nicht geschehen war, war für ihn klar gewesen, dass es Ihn schlicht und einfach nicht gab. Bis er Pfarrer Heine getroffen hatte. Das war an einem Sonntagmorgen gewesen, als er den Kirchenvorplatz nach Kleingeld abgesucht hatte. Pfarrer Heine hatte ihn gefragt, ob er nicht die Messe besuchen wolle und als er aufgrund seines schäbigen Aussehens gezögert hatte, hatte sich der Pfarrer bei ihm untergehakt, ihn regelrecht in die Kirche gezerrt und gesagt: „Vor Gott sind alle Menschen gleich.“ Wenn es also einen Jesus jemals gegeben hatte – und mittlerweile war Erich selbst davon überzeugt, dass es da oben jemanden gab – so musste der so wie Pfarrer Heine gewesen sein.
Von diesem Zeitpunkt an waren die Weihnachtsmessen für Erich zu einem Pflichttermin geworden.
Er schlich unbemerkt in die Kirche und drückte sich ganz hinten in eine Ecke. Der hohe Raum war nur schwach beleuchtet, ein großer Tannenbaum neben dem Altar aufgebaut, überall roch es nach Weihrauch. Allmählich trudelten die ersten Besucher ein und eine halbe Stunde später war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt.
An Erichs freier Seite stand nun eine gut gekleidete Frau, ungefähr in seinem Alter. Sie trug einen Pelzmantel, dazu feine Handschuhe und einen modischen Hut. Ein schwerer, süßlicher Duft umhüllte sie. Bestimmt ein sündhaft teures Parfum. Erich roch seinen eigenen strengen Geruch. Er hatte heute zwar die Gelegenheit bekommen, sich zu waschen, nicht aber seine verschmutzte Kleidung. Er versuchte stillzuhalten, sich möglichst nicht zu bewegen, sodass er nicht auffiel. Doch die Frau hatte ihn längst bemerkt. Angewidert rümpfte sie die Nase und drehte sich in seine Richtung. Sie musterte ihn abschätzig von oben bis unten und verzog dabei den Mund. Erich murmelte ein leises „Tschuldigung“ und drückte sich noch fester an die Wand, um den Abstand zu ihr so groß wie möglich zu halten. Die Frau strich in heftigen Bewegungen über ihren Mantel, so, als würde Erichs Geruch daran kleben, und beugte sich dann tuschelnd zu ihrem Nachbarn. Erich verstand Wortfetzen wie „Schwein“ und „ekelhaft“ und wäre am liebsten aus der überfüllten Kirche gerannt, zurück zu seinem Plätzchen im halb abgerissenen Haus oder unter die Brücke. Er schämte sich so.
Die sonst so stimmungsvolle Atmosphäre nahm er nicht wahr, unentwegt schwirrten die Worte und abwertenden Blicke durch seinen Kopf. Wie durch einen Nebel vernahm er Pfarrer Heines Worte:
„… wir spenden nach Afrika, an Flüchtlingsorganisationen, Kinderheime, Ärzte ohne Grenzen, Nachbar in Not, usw. und versuchen damit unser Gewissen zu beruhigen. Was aber ist mit unseren Nächsten? Hilfe in materieller Form ist wichtig. Sehr sogar. Aber sollten wir nicht bei jenen anfangen, die unmittelbar in unserer Nähe sind? Spenden heißt nicht nur in die Geldtasche zu greifen! Spenden heißt auch: Interesse für den anderen zeigen, Respekt, Achtung, ein nettes Wort, eine nette Geste, ein offenes Ohr, fragen, wie es dem anderen geht…“
Und während Pfarrer Heine weitersprach und mahnte, bemerkte Erich, wie die Frau mit zögerlichen Schritten den Abstand zu ihm wieder verringerte. Zum Ende der Messe verließ sie diese eilig mit gesenktem Kopf.
Erich wartete, bis niemand mehr in der Kirche war und hängte noch gut fünfzehn Minuten dran, um sicherzugehen, dass sich auch wirklich niemand mehr im Gebäude oder außerhalb desselben befand. Als er schließlich den Ausgang erreicht hatte, stutzte er. Vor ihm stand die Frau im Pelzmantel und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen: „Frohe Weihnachten!“ Erich starrte sie verdutzt an. Dann seine Hände. Unter den Fingernägeln waren schwarze Ränder, die Handflächen bräunlich verfärbt und rau. Er hätte nach dem Besuch in der Pfarre den Friedhof besser nicht mehr aufsuchen sollen! Schnell wollte er seine Hände in den Jackentaschen verschwinden lassen, doch die Frau kam ihm zuvor. Sie packte seine Hand und schüttelte sie eifrig. „Frohe Weihnachten! Darf ich Sie noch auf einen Glühwein einladen? Meine Freunde warten schon da drüben. Bitte sagen Sie Ja!“ Erich blickte zum nahen Glühweinstand und sah mehrere Hände, die ihm entgegenwinkten, und Gesichter, die ihm zulächelten. Die Frau fasste Erichs verblüfften Blick als Zustimmung auf und nahm ihn bei der Hand. „Wie heißen Sie? …“
So standen sie noch die halbe Nacht dort, erzählten und lachten. Bis der Glühwein alle war. Von da an sollte Erich öfter Besuch in der Stadt bekommen. Es war das schönste Weihnachtsgeschenk, das er seit langem bekommen hatte: als Mensch wahrgenommen zu werden!
Weihnachten muss nicht nur am 24. Dezember sein. Wir können es jeden Tag ein kleines Stück leben.