Читать книгу Weihnachtszauber - Besinnliche Weihnachtsgedichte und -geschichten - Romana Knötig - Страница 9
ОглавлениеDer gefallene Engel
Es war einmal ein Engel, der nicht länger ein solcher sein wollte. Also flog er zum lieben Gott und sprach: „Hier oben ist mir furchtbar langweilig. Hast du denn keine andere Aufgabe für mich? Auf Erden könnt ich vielen helfen und Gutes bewirken! Kannst du mich nicht hinunterschicken?“
Der liebe Gott dachte nach. „Hmm… Du weißt aber schon, dass ich dich dann in einen Menschen verwandeln muss?“
„Ja, ja, aber das macht mir nichts aus“, erwiderte der Engel mit fester Stimme.
Der liebe Gott überlegte erneut. „Bald ist Weihnachten und ihr Engel habt euer großes Konzert. Deine schöne Stimme würde im Chor sicher fehlen!“
„Ach was“, der Engel schüttelte den Kopf, sodass seine blonden Locken wild tanzten, „meinen Part kann Michael übernehmen!“
Der liebe Gott seufzte tief. Er wusste um die Entschlossenheit des Engels und dass ein weiterer Versuch, ihn umzustimmen, sinnlos war. „Na gut“, sagte er also, „dann soll es geschehen. Wenn du morgen Früh aufwachst, wirst du ein Erdenbürger sein.“
Der Engel wackelte freudig mit den Flügeln und fiel dem lieben Gott um den Hals. Am Abend verabschiedete er sich von all seinen Freunden und kuschelte sich sodann in eine dicke Wolke. Natürlich würden ihm die Englein fehlen, aber er wusste ja, dass er sie eines Tages wiedersehen würde und sie ohnehin gedanklich miteinander verbunden waren. Nachts fand er kaum Schlaf, zu groß war seine Aufregung vor dem morgigen Tag. Welche Aufgabe ihm der liebe Gott wohl zugeteilt hatte und wohin er ihn senden würde? Nach Afghanistan, Syrien, in den Gazastreifen? In ein Entwicklungsland? Zu von Naturgewalten gebeutelten Menschen? Vielleicht ein Waisenhaus oder Pflegeheim. Auch eine Ausspeisung für Obdachlose war möglich… Mit unzähligen Gedanken im Kopf nickte der Engel erst in den frühen Morgenstunden ein, wurde jedoch schon bald wieder von lautem Kindergeschrei aufgeweckt. Er gähnte und rieb sich müde die Augen. Zwei Mädchen im frühen Volksschulalter hüpften auf seinem Bett herum.
„Papa, aufstehn“, riefen sie ungeduldig. „Du hast uns doch versprochen, mit uns heute einen Schneemann zu bauen!“
Der Engel schielte auf den Wecker. Sonntag, sieben Uhr.
„Kommt, Kinder! Euer Kakao ist fertig!“, tönte da eine helle Frauenstimme. Geschirr klapperte. Blitzartig sprangen die Mädchen vom Bett und rannten zu ihrer Mutter in die Küche.
Der Engel sah sich in dem Zimmer um. Ein Kriegs- oder Katastrophengebiet schieden schon mal aus und auch ein von Armut beherrschtes Land war undenkbar. Er kletterte aus dem wohlig warmen Bett und ging zum Fenster. Ein kleiner Garten, auf der anderen Straßenseite schneebedeckte Thujenhecken vor gepflegten Häusern. Eine gut bürgerliche Wohnsiedlung, vermutlich irgendwo in Mitteleuropa. Blieb also nur die Möglichkeit, dass er einen sozialen Beruf hatte. Als sich jedoch herausstellte, dass er ein stinknormaler Familienvater war, der in einem Supermarkt arbeitete, sank seine Stimmung auf den Gefrierpunkt. Er warf einen zornigen Blick zum Himmel und ereiferte sich in allen Flüchen, die sein bescheidenes Engel-Repertoire hergab. Den Tag verbrachte der Engel mit Schneemann-Bauen, Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen, Geschirrspüler-Ausräumen, dem Anbringen einer Lichterkette am Gartenzaun und einer gemeinsamen Adventfeier, bei der seine Töchter ein Flötenstück zum Besten gaben, seine Frau ein paar Weihnachtslieder anstimmte und er selbst eine Geschichte vorlas. Abends fiel er todmüde ins Bett, aber er musste auch zugeben, dass es großen Spaß gemacht hatte. Und die Liebe, die er für seine Familie empfand, war überwältigend.
Am nächsten Morgen stand der Engel zeitig auf, um seine Arbeit im Supermarkt anzutreten. Vor dem überdachten Eingang stand ein riesiger, geschmückter Christbaum und auch im Inneren war alles festlich dekoriert. Im Hintergrund lief leise Musik. Als gelernter Fleischhauer war er in der Feinkostabteilung tätig. Seine Kollegen waren zwar nett, machten jedoch allesamt ein verdrießliches Gesicht. Mit der Kundschaft verhielt es sich nicht anders. Jeder hastete durch das Kaufhaus, war gestresst, genervt, schlechter Laune. Dabei sollte gerade die Vorweihnachtszeit eine besinnliche Zeit sein! Aber wo er auch hinsah: überall gehetzte, finstere, ausdruckslose Mienen. War ein gewünschtes Produkt nicht vorhanden oder wurde es jemandem vor der Nase weggeschnappt, schien Streit vorprogrammiert. Sogar bei ihm vor der Fleischtheke wurde um das letzte Paar Bratwürstchen oder ein besonders schönes Filetstück regelrecht gekämpft. Der Engel merkte, wie er selbst immer gereizter wurde. Im Himmel hatte es so etwas nicht gegeben! Dort war er ausschließlich freundlichen Gesichtern begegnet.
Und plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Es musste nicht immer das Große sein, um der Menschheit zu dienen – auch im Kleinen konnte man Gutes tun. Nun wusste er, worin seine Aufgabe bestand: Er konnte jedem sein allerschönstes Lächeln schenken!