Читать книгу Bis in den Tod - Ron Müller - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеJan fühlte, dass am Strand für ihn Schluss war, dass alles, was dahinter an Salzwasser lauerte, den Wunsch hegte, ihn in die Tiefe zu ziehen. Aber diesen Gefallen tat er der See nicht und hielt Abstand. Manchmal saß er abends etwas abseits der Promenade oder wie heute vor den Dünen und starrte entweder aufs offene Meer oder nach oben.
Es war verwölkt. Das, was den Himmel verdeckte, sah aus, als wäre jemand mit einem Rührstab durchgegangen – zu hektisch für ein bewölkt.
Was für eine furchtbare Woche, dachte er und nahm den Blick von allem oberhalb des Horizonts.
Ein kurzer Schauer mit kräftigem Nordwind hatte die Touristen vertrieben, bis auf einen Typen um die vierzig. Es gibt immer einen, dem man sein Alter nicht ansieht, überlegte Jan. Der Typ war es nicht. Jan aber auch nicht, obwohl er eigentlich wie achtzehn aussehen müsste. Heute Morgen klebte an der Haarwasserflasche, die die Entstehung einer Glatze verhindern sollte, eines seiner schwarzen Haare. Ein merkwürdiges Zeichen.
Ihm wurde kalt. Er drückte seine Zigarette im Sand aus und beschloss, sich auf den Heimweg zu machen.
»Hund!«, rief er über den Strand.
Der schwarze Mischling, der durch die Wellen gehechtet war und versucht hatte, nach selbigen zu schnappen, spurtete augenblicklich aus dem Wasser und kam lechzend nach einem Lob vor ihm zum Stehen.
Eigentlich war Hund ein Geschenk von der Mutter an Jans jüngere Schwester Mia, letztes Jahr zum Geburtstag. Aber seit die Euphorie über das neue Familienmitglied schwand und sich nach einigen Wochen keiner von beiden vernünftig um das Tier kümmerte, nahm er die Promenadenmischung mit, wenn es sich einrichten ließ. Das Vieh konnte schließlich nichts dafür, dass die Mutter von je her ein Freund von medienwirksamen Geschenken war. Was danach damit passierte, blendete sie aus. So hatte es sich mit Jans früherer Schildkröte verhalten, die irgendwann glücklicherweise verstorben war, mit Mias Gitarre und eben mit dem Hund Justin.
Justin, was für ein Scheiß Name, regte sich Jan zum hundertsten Mal auf, und nahm hin, wie selbiger sich direkt vor ihm ausgiebig schüttelte. Selbst, wenn sie ihn Hitler genannt hätte, wäre es weit weniger peinlich, ihn zu rufen. Jan war seit dem Frühjahr dazu übergegangen, ihn an den Namen Hund zu gewöhnen, was ganz gut funktionierte.
Bevor Jan die Stadt erreichte, gab ihm sein Telefon in der Tasche eine andere Richtung. Der Anruf hat sein Herz zum Rasen gebracht.
Er begann zu laufen, machte nicht einmal Anstalten den Pfützen auszuweichen. Völlig außer Atem kam er zum Gebäude, in das er sollte. Am Eingang band er Hund an die Fahrradständer. Eine ältere Frau hinter dem Tresen nannte ihm eine Etage. Drei Stockwerke höher sah er sich zwei weiteren Frauen gegenüber, die ihm sagten, dass er sich in den Wartebereich setzen und erst einmal durchatmen solle.
»Es ist nichts Ernstes, nur ein Schwächeanfall. Sie braucht jetzt einfach nur Ruhe. Morgen folgen dann die restlichen Untersuchungen.«
»Kann ich sie sehen?«
»Wir haben ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. Sie schläft.«
»Ich will zu ihr!«
»Zimmer 26.«
Es war nicht nur ein Schwächeanfall. Es ging seiner Mutter seit einem Monat wieder schlechter. Bestimmt war der Krebs zurück. Von wegen nach fünf Jahren ausgeheilt. So, wie es mit ihr in der letzten Zeit bergab ging, konnte man darauf warten, dass sie in die Klinik eingeliefert wurde. Aber jetzt, wo es tatsächlich so weit war, bekam Jan Gänsehaut. Es gab Situationen, auf die man sich einfach nicht vorbereiten konnte.
Er blieb bis kurz vor sieben und saß neben ihrem Bett. Ab und an schaute eine der Ärztinnen herein, überwachte den Zustand der Mutter oder injizierte ihr ein Medikament. Jan interessierte sich nicht für die Medizinerinnen. Das, was in seinem Kopf vorging, war weit wichtiger – endlich bot sich ihm eine Gelegenheit, die Ungerechtigkeit auszugleichen, die ihn seit der Kindheit unentwegt heimsuchte.
Auf dem Weg nach Hause klingelte er an einem Reihenhaus und bedankte sich dort mehrmals bei einer Freundin der Familie, die seine jüngere Schwester nach der Schule abgeholt und bis jetzt auf sie aufgepasst hatte.
Silvana war eine Frau, die mit Ende dreißig keinen Hehl daraus machte, dass sie beruflich da stand, wo sie hin wollte, und die, was ihr Privatleben anbelangte, derart viele Ansprüche und Bedingungen an eine Beziehung stellte, dass sie wohl keine mehr haben würde.
»Schaffst Du das mit der Kleinen, bis eure Mutter wieder zurück ist«, fragte sie und zog ihn etwas zu dicht an sich - so, wie sie es immer tat. Wenn sie Jan begrüßte, drückte sie ihn herzlicher, als sie es musste, und wenn sie ihn küsste, blieben ihre Lippen länger auf seiner Wange, als er es von anderen Frauen kannte.
Jan versicherte, dass sie klarkommen würde.
Mit Mia an der Hand und ihrem Ranzen über der Schulter zog er los. Er war rosa, mit Flamingos darauf. Nach dem dritten Schuljahr hatte er schon ordentlich gelitten und lag zu Beginn der vierten Klasse auch nicht mehr im Trend, weil viele Klassenkameraden jetzt Rucksäcke trugen.
»Was ist mit Mama«, fragte Mia und bekam das 'S' nur mit Mühe heraus. Es blieb immer hängen, da ihr oben zwei Schneidezähne fehlten.
»Ein Schwächeanfall. In ein paar Tagen haben wir sie wieder.«
Die Antwort beruhigte die Kleine.
Bevor sie nach Hause kamen, machten Sie einen Halt im Supermarkt. Für den Abend benötigte Jan neben Hundefutter eine weinhaltige Unterstützung.
Das, was in seinem Kopf schon lange Formen angenommen hatte, ließ sich seit heute umsetzen. Dafür brauchte er etwas mehr Mut, als er für gewöhnlich besaß – und Alkohol war ein Garant für das Quäntchen, das noch fehlte.
Nach neun Uhr lag Mia im Bett und schlief auf der Seite, die Bettdecke zwischen die Knie gestopft. Die Macke hatten sie beiden – Gelenk auf Gelenk, das ging einfach nicht. Jan stellte die Einschlaf-CD im Rekorder ab und schraubte in der Küche den Deckel vom Perlwein ab.
Das Zeug schmeckte scheußlich.