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Michael Wildberg

Wir waren dem Wahnsinn so nahe …

Wir hatten sie diesmal bereits auf der Fähre gesehen. In ihrem Rücken tummelte sich ein wild grölender und feist grinsender Betreuerstab. Widerliche Kreaturen, die sich eine Palette Bier nach der anderen reinschaufelten. Wir hassten sie von Anfang an, und wir wollten sie umbringen, nicht mehr und nicht weniger. Sie waren berühmt-berüchtigt, für ihr Aussehen, ihre Spielweise und ihre anarchistische Haltung zu diesem Sport. Aber auch wir hatten unseren Ruf zu verteidigen, Kinder von Traurigkeit waren auch wir nicht gewesen, niemals, über die ganzen Jahre hinweg, und gerade gemacht haben wir uns immer wieder, so hart es auch war. Es gab Partien, in denen brutalste Fouls von beiden Trainerteams mit Schreien wie „Der Bastard soll mal nicht so rummemmen!” kommentiert wurden, und dies ist nur der geschönte Teil einer ganzen Batterie hochkreativer Beleidigungsformeln, mit denen wir wechselseitig über Jahre hinweg von Abwehr bis Angriff alles traktierten, was nicht rechtzeitig an uns vorbeirennen konnte. Jedes Jahr aufs Neue standen wir uns gegenüber. Es waren Schlachten epischen Ausmaßes dabei, ebenso wie herbe Niederlagen, knappe Siege und torlose Gekicke im Regen. Wir hatten die ganze Derbygeschichte hinter uns, und wir spielten das Spiel trotzdem immer wieder. So sehr hassten wir uns.

Das Traineramt hatte ich bereits im Februar übernommen. Mein Vorgänger war unter Schimpf und Schande gegangen. Manchmal reicht eben eine Niederlage, um in Ungnade zu fallen, und es war schließlich eines dieser Duelle gewesen, das ihm das Genick brach. Es war ein ruhiger Dienstagnachmittag, als ich den Kugelschreiber in aller Ruhe auf dem Papier aufsetzte und die womöglich entscheidende Unterschrift meines Lebens setzte, während vor dem Fenster die Rentner verwelkten und vor uns drei grinsende Betreuer den letzten Schnörkel abwarteten. Schon im Vorfeld wurde klargestellt, dass man mir, wollte man diesen Plan wirklich angehen, den Kollegen Singh zur Seite stellen müsste, ein Fußballfachmann vor dem Herrn, ehemaliger Landesligist, seinerzeit kurz vor dem Sprung in die ganz hohen Weihen, dann aber wie immer: Schnaps, Party und Frauen, jedes Wochenende last man standing, und schon war er zu Ende, der Fußballertraum. Eine Karriere an der Theke verschleudert, wie so viele. Aber er wusste ein Spiel zu lesen, war Menschenkenner und Motivator in einem, und ich wusste, wie man solche Talente einzusetzen hatte.

„Wir werden sie fertigmachen”, sagte er bei der Vertragsunterzeichnung mitten in Homberg-Hochheide und hielt mir feierlich seine Hand hin. Vor wenigen Jahren hatten wir noch gemeinsam auf diesem Feld gestanden. Ich im Tor, er im kreativen Mittelfeld oder in der vordersten Reihe. Er verschoss entscheidende Elfmeter oder erzielte Tore in letzter Minute, ich griff daneben oder flog wie ein Adler. Unsere Karriere hatten wir an den Nagel gehängt, wir waren mittlerweile gezeichnete Männer geworden, aber immer noch loderte in uns dieses gierige Feuer.

„Wir werden sie nicht fertigmachen”, antwortete ich und tippte ihm an die Schulter. „Wir müssen sie fertigmachen.”

Er nickte.

Der Tag der Finalrunde, und direkt nach dem Aufstehen spürst du dieses Vibrieren im Raum. Es riecht schon morgens nach Endspielen. Überall diese merkwürdige, geschäftige Stille, alle wollen funktionieren, und alle wissen, worum es hier geht. Die Bedienung reicht hektisch Brote herum, Bedienstete rennen mit Getränkekannen durch die Reihen und füllen auf, wo leere Tassen rübergereicht und leere Teller in die Hand gedrückt werden. Und auch sie verhalten sich anders als sonst, sind mitfühlender, zärtlicher, wissen um die Anspannung und den Moment. Du gehst zum Frühstückstisch und siehst die Jungs dort sitzen. Alle haben sie diese angespannten Gesichter, alle sind sie fokussiert auf diesen Moment.

Vor Kopf saß Kai Kanitz, eine Legende, jemand der Kategorie, dessen Lunge man vor der Geburt in Whiskey getränkt hatte. Wir rekrutierten ihn seinerzeit direkt aus den „weißen Riesen”, einer Hochhaussiedlung mitten in Homberg, dort, wo Polizisten nur noch im Mannschaftswagen auftauchten und wo Sozialarbeiter nach getaner Schicht Dinge äußern, die nur auf Grauseliges schließen ließen. „Du kommst da überhaupt nicht mehr mit”, keuchte mir seinerzeit ein Exemplar dieser Kategorie ins Ohr, als ich es in einer schussfreien Minute nach Talenten aus der hiesigen Umgebung befragte. „Ich kenn Familien, da weißt du nicht mehr, wer mit wem auf welche Art und Weise verwandt ist, so werfen die hier. Talente? Versteh mich richtig, Kollege, das ist die Straße, hier findest du zig von denen.” Er schaute sich ängstlich um, während er sich eine Zigarette anzündete. „Die Frage ist nur, ob du sie zu bändigen kriegst.”

Aber wir wussten, worum es hier ging, und wir wussten auch, dass jeder von uns Opfer zu bringen hatte, keine Frage. Außerdem hatten wir keinerlei Angst vor schwierigen Fällen. Das hier war unser Pflaster, wir konnten uns benehmen und man akzeptierte uns hier. Als wir Kanitz’ Mutter aufsuchten und darum baten, dass sie ihren Sohn für das Turnier freistellt, sagte sie uns im 17. Stock eines heruntergekommenen, muffig riechenden und biedergrau versinkenden Hochhausturms noch die warnenden, aber zugleich auch mütterlich warmen Worte: „Der Junge ist irre. Letztens ist der unserem Gerichtsvollzieher hinterhergerannt und hat versucht, ihn auf dem Flur umzugrätschen.” Sie packte seine Sporttasche, als sie schlussendlich schrie: „Fußball bedeutet dem alles, das kann ich Ihnen versichern.”

Jetzt sitzt er dort, sein starrer Blick an die Wand geheftet und die Augen zu dünnen Schlitzen verengt. Er hat sein schlohweißes Haar zum Pferdeschwanz gebunden, diesmal schon früh am Morgen. Er machte das immer, wenn es um Wichtiges ging, und er machte es nicht kurz vor dem Spiel, so wie die anderen Weicheier, sondern direkt vor dem Frühstück, um jedem zu signalisieren, dass er jetzt schon bereit war. Der Junge war voller Adrenalin und kaum noch ansprechbar. Kai Kanitz. Eine Legende.

Es ist immer wieder erstaunlich, auch nach so vielen Jahren noch, zu beobachten, wie unterschiedlich Spieler mit solchen Situationen umgehen. Alessandro Cocco biss in sein Nutella-Brot, öffnete den Mund und zeigte jedem, der es nicht sehen wollte, die matschige Pampe. Alessandro Cocco, auch so ein Name. In ihm kochte italienisches Blut, aber sein Vater hatte sich bereits kurz nach der Geburt wieder zurück nach Sizilien verzogen. Seine Mutter glich diese Kränkung dadurch aus, dass sie vier weitere Männer verschliss, die sie ihrem Sohn jeweils im Rhythmus der Gezeiten als „neuen Papa” vorstellte. Alessandro wusste nur zu gut, mit welch unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Mensch gesegnet war. Er konnte einen Gegner bis aufs Blut provozieren, so vertraut waren ihm die unterschiedlichsten Typen, die Extrovertierten wie die stillen Brüter, die aufbrausenden Exoten wie die filigranen Künstler, alle kannte er sie von zuhause.

„Ich fang immer erst an, mich darüber lustig zu machen, wie die spielen”, erklärte er mir einstmals in einer dieser ruhigen Stunden, die Spieler und Trainer gemeinsam bei einer Zigarette verbringen und in denen sie so offen reden wie nur selten. „Wenn das nicht hilft, beleidige ich erst seine Mutter, dann seine Schwester. Ich hab mich auch schon über die Krebserkrankung eines Vaters lustig gemacht, aber nur einmal. Meistens krieg ich dann irgendwann eine gescheuert, und der andere fliegt vom Feld.”

Alessandro war genau die Kategorie Straßenfußballer, die wir brauchten. Eine kleine, fette, italienische Diva, zickig bis zum Umfallen, mit billigem Goldkram behangen, am Ball aber ein Zauberer vor dem Herrn. Er schoss Tore, von deren Schönheit wir noch die Nacht darauf träumten. Nie werde ich vergessen, wie einstmals Kai Kanitz in einem dieser legendären Spiele auf den gegnerischen Torwart losstürmte und wie er versuchte, den Ball links an ihm vorbeizuschlenzen, wie er gnadenlos an einer famosen Parade scheiterte, und wie an der Außenlinie unser Torschrei erstickte. Der Torhüter reagierte wie ein Panther. Er war in Windeseile unten, nahezu unmöglich, aber so reaktionsschnell er sich auch zeigte, er konnte den Ball nur noch nach vorne abklatschen lassen. Alessandro kam aus der Tiefe des Raumes. Er hatte die Situation gerochen, seine Instinkte waren famos, und genau dafür hatten wir ihn geholt. Aber es wäre nicht Alessandro gewesen, wenn er den Ball einfach ins leere Eck geschoben hätte, ihm ging es nie darum, nur ein schlichtes Tor zu erzielen. Jeder seiner Aktionen merkte man an, dass er die Wichtigkeit, die Vehemenz und Brutalität dieser Derbys bis ins Mark verinnerlicht hatte. Auch damals, als er den Ball dem auf dem Boden liegenden Torhüter mit Vollspann aus etwa zwei Metern ins Gesicht schoss, bevor das runde Leder anschließend in einer galanten Flugkurve ins Tor trudelte. Ruhige Augenblicke, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen, aber wo wir nur einen Augenblick später orkanartig auf den Torschützen losstürmten, wild und entschlossen, so ausgelassen feiernd wie nur ganz selten in unserem Leben.

Die Tiedtge-Brüder saßen direkt daneben. Zwei Jahre auseinander, zwei verschiedene Väter, selbst bei der Mutter waren wir uns nicht sicher. Während der Größere in ganz alter Manier als Wadenbeißer bekannt war, als Terrier und als Wasserschlepper, der seinen Job unterkühlt und effizient erledigte, der sich in einen Blutrausch spielen konnte, wenn es nötig war, und der die Übersicht behielt, wenn die Mannschaft ihn brauchte, handelte es sich bei dem Kleineren der beiden um den Typ Wühler und Vollstrecker. Einzig und allein sein Alter machte uns zu schaffen. Wir wussten nicht, ob er dieser Belastung standhalten könnte, es war seine erste Finalrunde, und so kaltschnäuzig er sich in den bisherigen Spielen auch zeigte; nicht wenige junge Spieler verlieren im entscheidenden Spiel ihre Nerven und haben sich anschließend nicht mehr unter Kontrolle. Ich streichelte ihm im Vorbeigehen väterlich über den Kopf, er grinste hoch und biss vorfreudig in seine Schnitte. Vielleicht war es gut, dass er sich an einem solchen Tag seine Unbekümmertheit bewahrte. Er würde noch früh genug merken, worum es hier ging.

Der Kollege Singh hatte sich mit einer anderen Bande an einen Tisch in die Ecke begeben. Es waren die schweren Fälle, diejenigen, die schon morgens Beschäftigung brauchten, all jene, die mit schlotternden Beinen aufgestanden waren und die wir ein wenig abkühlen mussten. Philipp Kerkes, Marc Fuhrmann und Kevin Kontermann, das Triumvirat aus Angst, Panik und Adrenalin.

Kerkes war unser Torwart. Er wurde von uns hinter vorgehaltener Hand und mit einem väterlichen Lächeln auf den Lippen „Porno-Kerkes” genannt. Sein Lieblingswitz bestand darin, den Mannschaftskameraden zu jeder Tages- und Nachtzeit sein Geschlechtsteil zu zeigen. Er war der Spaßvogel des Teams, jemand, der die Bande bei Laune halten konnte, aber er hatte zitternde Hände, und wir hatten niemand anderen, den wir ins Tor stellen konnten.

Fuhrmann war Choleriker, jemand, der das Geschrei zum Überleben brauchte, der damit aber auch ein gesamtes Team verunsichern konnte. Nicht selten packte er Mitspieler während hitziger Partien beim Nacken und keifte sie wutschnaubend an. Er rannte wild gestikulierend durch den Strafraum und schrie seinen Kameraden hinterher, warum sie ihn nicht angespielt hätten. Er zeigte ihnen den Vogel und winkte missmutig ab, wenn wir ihn in den letzten Minuten als Kämpfer gebraucht hätten.

Bei Kontermann sah die Lage ein wenig anders aus. Er hatte das Problem, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten musste, und dabei konnten ihm seine kniehohen Buffalos nicht helfen, so gerne er sie auch trug und so viel Spott sie ihm auch einbringen mochten. Vater Kontermann spielte einige Jahre in der Oberliga, das war das Erbe, das es anzutreten galt, und nicht wenige Kinder von großen Fußballern sind an diesen Ansprüchen zerbrochen. „Du wirst sie anführen wie ein Löwe”, flüsterte der Kollege Singh ihm ins Ohr, eine raffinierte Psychologie, nicht zuletzt der Grund, warum ich ihn an meiner Seite haben wollte. „Du wirst sie wie ein Vater übers Feld leiten. Und unter deiner Führung werden wir diesen Titel gewinnen.”

Das war es also, unser Team. Es saß hier im Morgengrauen, starrte an die Wand oder bleckte langsam die Zähne. Es wurde immer fokussierter und zielstrebiger, nur noch wenige Stunden bis zu den Finalen („Finalen” ist irgendwie ein verwirrender Begriff. Geht auch „Endspielen”?). Ich pfiff das Team zusammen, setzte mich zu ihm an den Tisch, wartete einen Augenblick, bis sich alle versammelt hatten, und sagte „Männer …”, bevor ich eine kurze Pause machte und langsam und bedächtig, den Umständen angemessen, anfügte: „Heute ist es an der Zeit, Geschichte zu schreiben …”, während die Sonne in ihrer einzigartigen Kühnheit Richtung High-Noon kroch.

Am Abend vorher hatten der Kollege Singh und ich an der Theke des „De Klok” gesessen. Hier war der Schmelztiegel dieser Insel, und auch wenn man es diesem urig-roten holländischen Backsteinhaus nicht auf den ersten Blick ansah, dort, wo die Gäste Dreiband-Billard in schicken Anzügen spielten, die Kellner noch die Uniform trugen, die bereits ihre Väter und Großväter getragen hatten und samtrote Kissenbezüge den Lichtkegel des Kristallleuchters dumpf reflektierten, so waren sie hier doch alle versammelt, grausame Männer vor dem großen Finale, im Whiskeydunst und zwischen Rauchschwaden vereint. Der Vorstand eines jeden Teams war vor Ort, die Erzfeinde saßen zusammen an der Theke, ignorierten sich beharrlich und kamen im Laufe der Nacht doch ins Gespräch.

Ein paar Plätze weiter saß Joker mit seiner Bagage. Er war der Trainer des Erzfeindes, seit Jahren schon, wir kannten uns aus dem Effeff. Vor einiger Zeit hatten wir noch Freundschaftsspiele gegeneinander bestritten, aber nachdem unserem Torwart in einem dieser Spiele das Wadenbein gebrochen worden und es im Anschluss daran zu einem wilden Handgemenge gekommen war, bei dem von Klapptisch bis Zeltgarnitur alles hatte herhalten müssen, gingen wir uns so lange aus dem Weg, bis der Spielplan es nicht mehr zuließ, den anderen stillschweigend zu meiden.

Wir nannten ihn Joker, weil er ein paar unglaubliche Gemeinheiten auf Lager hatte. Einstmals rotzte er vor dem Spiel einem unserer Spieler direkt vor die Füße und schrie: „Solltest du kleiner Affe heute tatsächlich glauben, meinen Jungs einen einschenken zu müssen, reiß ich dir den Kopf ab, verstanden?” Ein anderes Mal trat er vor unseren Torhüter und sagte ihm, dass es ihm bis heute ein Rätsel sei, warum dessen Mutter ihn einstmals nicht abgetrieben hätte, etwas, was den damals noch jungen Kerkes sehr beunruhigte und ihm auch noch den letzten Nerv raubte.

Ich schlug ihm auf die Schulter, sagte: „Na, du dämliches Arschloch!” und setzte mich neben ihm auf den Hocker.

„Die Herren Singh und Wildberg, willkommen.” Er sagte dies mit dieser nasalen, zynischen Stimme, welche uns aus vielen Jahren nur allzu bekannt war. „Ich hab euch ein wenig beobachtet. Die Kollegen Fuhrmann und Kontermann scheinen ja immer noch eher auf der grenzdebilen Strecke unterwegs zu sein, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.”

Der Kampf ging schon jetzt los, daran ließ sich nichts ändern. Ich warf einen Blick durch die Kneipe, bevor ich mir dachte, dass es an der Zeit wäre, die härtere Gangart anzuschlagen: „Ich hab gehört, deine Olle ist gestern mit einem unserer jüngeren Betreuer in der Nordsee planschen gegangen.” Ich machte eine kurze Pause, um maximale Wirkung zu erzielen, dann fügte ich an: „Keine Sorge, wir haben den Kerl auch gefragt, warum er sich gerade dieses abscheuliche Monster für seine neckischen Spielereien ausgesucht hat.”

Joker grinste. Auch er wusste, dass die Wahrheit ausschließlich auf dem Platz lag und dass alles, was wir jetzt taten, nur der Auftakt zu einer noch viel wilderen Schlacht werden würde. „Pass mal auf, Kollege”, sagte er, bevor er sein Glas in der ihm unnachahmlich feisten Weise zum Gruße erhob. „Bevor meine Olle auch nur einen Kerl von euch anfasst, würd die sich lieber die Hand an einem Ofenrohr verbrennen und anschließend in Benzin abkühlen, so sexy findet die eure Bande.”

„Joker, ihr habt de facto morgen keine Chance gegen uns”, entgegnete ich. „Wir haben alles zusammengetrommelt, was wir auftreiben konnten, von Kai Kanitz bis Alessandro Cocco. Ihr werdet morgen schlichtweg bluten.”

Ich legte meine Hand gemächlich auf die Theke und zeigte dem Mann hinter dem Tresen an, dass ich zu allem bereit wäre: „Warum du übrigens in deiner Abwehr nur Adipöse auflaufen lässt, ist mir ehrlich gesagt ein ziemliches Rätsel.”

Joker war vielleicht ein widerlicher Zeitgenosse, jemand, mit dem man noch nicht einmal dieselbe Stadtgrenze teilen wollte, aber dumm war er nicht. „Meinetwegen kann ich die komplette Weight-Watchers-Farm aufstellen, aber sofern nur einer der Jungs den Ball in Richtung eures Kasten schießt, habt ihr eh schon verloren. Oder ist Porno-Kerkes mittlerweile zum Oli Kahn mutiert?”

Der Kollege Singh schob sich ein wenig nach vorne und ließ die Hand in Richtung des Aschenbechers gleiten, um diesen unter Umständen als Hiebwaffe einsetzen zu können.

„Pass mal auf, du hässlicher Vogel”, zischte er. „Wenn wir morgen mit euch fertig sind, werdet ihr wie die Kleinkinder in eurer Kabine sitzen und euch wünschen, nie gegen uns gespielt zu haben, so schlimm wird es für euch. Verstanden?”

Es dauerte ein paar Minuten, bis ich die Streithähne wieder voneinander trennen konnte. Den Kollegen Singh verfrachtete ich in die hintere Ecke des Raumes, Joker ließ ich am Tresen sitzen. Es war ein über Jahre hinweg kultiviertes Ritual, dass wir uns an den Vorabenden des Spiels in dieser ominösen Kneipe beinahe die Schädel einschlugen. Es war der Vorabend des Spiels.

Es ist die Stimmung eines hitzigen Sommernachmittages. Die Sonne knallt uns in den Nacken und schwitzende Körper wetzen übers Feld. Deine Spieler hängen an ihren Wasserflaschen, um sie herum die wild geifernde Masse, eine Bestie an Menschen, die jeden Fehler bestraft und jedes Tor in etwas Gottähnliches verwandelt. Überall Trauer, Wut, auf der anderen Seite grenzenloses Gejubele. Die Dialektik des Lebens. Nirgendwo sonst spürt man Derartiges besser als bei solchen Turnieren.

Das Halbfinale war vorbei, langsam, aber sicher waren die Jungs mit ihren Kräften am Ende. Wir hatten die Vorrunde dominiert und anschließend Alstätte komplett demontiert. Kontermann spielte das Spiel seines Lebens und ließ einen Zuckerpass auf den anderen folgen. Tiedtge und Kanitz wirbelten die gegnerische Abwehrreihe durcheinander, als gäb es kein Morgen. Es war eine Gala und etwas, was einem Gegner Angst machen musste. Bis zu diesem Spiel hatte unsere Mannschaft 19 Tore geschossen, bei einem Gegentor, welches klar auf Kerkes’ Kappe ging. Sie standen hinten sicher wie eine eins, vorne ließen sie den Ball zirkulieren. Unser Ballett, in voller Blüte.

Singh und ich standen an der Seitenlinie, als der Schiedsrichter das zweite Halbfinale anpfiff. Bedburg-Hau, da waren sie. In ihren schwarzen T-Shirts sahen sie wie Bestien aus, wie Barbaren, aber es war nicht das Einzige, was sie auf Lager hatten. Ihr Mittelfeldstratege war der versierteste, den ich in meiner Karriere auf dieser Position bisher zu Gesicht bekommen hatte. Er konnte alles. Er hämmerte Freistöße in den Winkel, er bediente die Außen, er machte das Spiel schnell, wenn er es schnell machen wollte, er verschleppte es, wenn sich sein Team erst sortieren musste. All dies tat er mit einer Eleganz, die uns schaudern ließ. Das 1:0 schoss er per Schlenzer aus etwa zwölf Metern, der Torhüter komplett chancenlos. Noch vor der Halbzeit wurde er nach einem Solo, bei dem er zwei Mann aussteigen ließ, vom letzten Verteidiger gelegt, was Joker dermaßen in Rage brachte, dass er mit einer Wasserflasche nach dem Schiedsrichter warf. Der folgende Elfmeter wurde vom Gefoulten selbst verwandelt, der nach seinem zweiten Tor in unsere Richtung stürmte, sich umdrehte, auf die Nummer seines Trikots zeigte und daraufhin wieder zum Mittelkreis lief. Sie wussten, dass wir sie beobachteten. Und wir wussten jetzt, dass sie uns auch registriert hatten.

„Das wird eine harte Nuss”, sagte Singh, bevor er seine Gauloises durch die Luft schnippte. „Bei den Schüssen wird Kerkes ein richtiges Problem haben. Der kleine Bastard bringt jeden Pass an den Mann.”

Wir starrten sie an, wie sie sich auf der anderen Seite des Feldes wechselseitig hochpushten. Zwei Stürmer stießen die Köpfe aneinander und schrien unverständliches Zeug. Joker rüttelte jeden seiner Spieler und deutete in unsere Richtung.

„Ziemlich trauriges Volk”, sagte ich leise. „Dass Joker sie nicht mehr alle auf dem Zaun hat, ist klar, aber was im letzten Jahr mit dem passiert sein muss, wird an Tragik kaum zu überbieten sein.”

„Was machen wir mit dem Kerl?”

„Du scheuerst dem nach dem Spiel eine, ganz einfach.”

Der Kollege Singh schüttelte mit dem Kopf: „Nein, nicht mit dem Pfosten. Was machen wir mit deren Spielmacher?”

Die zweite Halbzeit spielte er noch imposanter. Sie ließen kein Tor mehr folgen, aber sie spielten sich in einen Rausch, der es in sich hatte. Stafetten über sieben, acht Stationen, bis tief in den gegnerischen Strafraum vorgetragen. Und in jedem Spielzug stand ihr Zehner im Blickpunkt, einen Pass nach dem anderen schlagend, dirigierend und kommandierend, das Herzstück.

Ich dachte nach. Fuhrmann konnte man mit so jemandem nicht konfrontieren, spätestens nach dem zweiten Aussteiger wäre bei dem Choleriker komplett der Faden gerissen. Tiedtge war zwar ein Kampfhund vor dem Herrn, aber spielerisch nicht so versiert, um all diese Finten vorausahnen zu können. Kanitz brauchten wir im Sturm, Coccos Provokationen würden an diesem Kerl abprallen. Niemand wusste, wie wir diesen Kerl aufhalten sollten.

Es sind diese Momente, die eine Trainerkarriere maßgeblich beeinflussen, und ich erinnere mich bis heute an den Augenblick, als ich meine Entscheidung traf. Wie ich in die Hochsommersonne Amelands blickte, einen tiefen Atemzug nahm und in meinem Kopf alles sortierte, bis sich endlich ein Bild zusammengeschoben hatte, das Bild. Und als mich der Kollege Singh kurz danach zum wiederholten Male fragte, was ich nun zu tun gedenke, und mir dabei seinen Finger in die Schuler bohrte, sagte ich in aller Angespanntheit, die ein solcher Triumphmarsch braucht: „Wir tauschen die Damen!”, bevor ich mich langsam zu meiner Mannschaft aufmachte, das Team, das wir gefunden und geformt hatten, und das nun Historisches angehen würde.

„Männer …”, sagte ich in die Runde abgekämpfter, müder Gesichter, die einen ganzen Turniertag hinter sich hatten, an den Wasserflaschen nuckelten oder mit Milchbrötchen versuchten, die nötigen Kohlenhydrate für das letzte Gefecht zusammenzuklauben. „Es ist so weit.”

Alle Köpfe waren nun auf mich gerichtet, und jeder wusste, was folgte. Selbst als ich zum wiederholten Male das Wort „Männer” gebrauchte, waren sie nicht mehr bei sich, sondern vollends fokussiert und im Tunnel. Kanitz biss in einen Apfel und zerfetzte diesen anschließend, Coccos Augen waren nur noch mandelbraune Riesen, aus denen die Gier floss, und Porno-Kerkes klatschte erregt in die Hände.

„Männer …”, keuchte ich. „Wir stellen wie folgt auf: Kerkes im Tor, davor zwei Verteidiger. Fuhrmann und Tiedge, euer Job ist es, die gegnerischen Stürmer in ihren Laufwegen zu hindern. Gib dem kleinen Bastard einen mit, wenn er an dir vorbeiläuft, stich ihm die Augen aus oder jag ihm deinen Ellenbogen ins Gesicht. Alles klar?”

Ich starrte Fuhrmann kurz an, gab ihm einen kleinen Klaps mit der flachen Hand ins Gesicht und sagte: „Du machst das schon, Junge …” Der Rest fixierte mich immer inniger, es sind diese Momente, wo man als Trainer bemerkt, dass dieses Amt mehr als ein Job ist. Er ist Bürde und Verpflichtung zugleich. Ich fuhr fort: „Davor einen defensiven und einen offensiven Mittelfeldspieler. Kanitz, du wirst das Spiel gestalten …”

Kontermann und Kanitz erhoben überrascht die Häupter. Wir hatten noch nie so gespielt, Kontermann war der Gestalter und ich sah, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten, hatte ich ihm doch gerade die Kontrolle über das Spiel entrissen. Vielleicht zu viel für ihn, aber es ging nicht anders. Wir mussten die Damen tauschen.

„Kontermann”, sagte ich und beugte mich zu ihm runter, so dass ich dem Teufelskerl direkt ins Gesicht blicken konnte. „Kontermann, du wirst dieses Team führen, auch wenn du vornehmlich damit beschäftigt sein wirst, dem kleinen Bastard die Knochen zu brechen. Ich will, dass der keinen einzigen Ball in den Fuß bekommt, keinen einzigen, verstehst du. Und in dem Moment, wo wir ihnen durch dich das Herz zerreißen, wirst du sie wie ein Vater über dieses Feld begleiten und uns den Sieg holen, Verstehst du das?”

Kontermann wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und nickte. Ich hatte seinen Punkt getroffen, aber dafür hatte man mich eingestellt, und ich wusste, wie man mit solchen Problemfällen umzugehen hatte, die Schlachten der Vergangenheit hatten schließlich auch an mir ihre Spuren hinterlassen. Aber eine Position war noch offen, die eleganteste Position, die Frage nach dem Stürmer unseres Teams.

„Cocco”, sagte ich. „Cocco, wir werden dich womöglich erst in der zweiten Halbzeit bringen.”

Die Mannschaft atmete durch. Kanitz konnte es nicht fassen, was ich dort tat, aber als Trainer war es nicht meine Aufgabe den Spielern zu erklären, was mein Plan war. Auch hier musste ich meine Autorität beweisen, und so sagte ich feierlich: „Klein-Tiedtge … du bist heute unser Mann.”

„Das ist Wahnsinn”, sagte der Kollege Singh und keuchte eine weitere Gauloises durch seine Lungen. Die Mannschaften hatten sich gerade gegenüber aufgebaut, der Schiedsrichter faselte seine Fairness-Litanei hinunter und Joker fixierte uns durch seine Sonnenbrille hindurch. Ich konnte seine aggressiven Blicke auf meiner Haut spüren.

„Wenn das schiefgeht …”, sagte ich. „… dann brauchen wir uns heute Abend im Lager nicht mehr blicken lassen.”

Der Ball rollte los, die ersten Stafetten wurden gespielt. Kanitz kam nicht richtig ins Spiel, seine neue Aufgabe war ihm noch nicht vertraut, aber Kontermann spielte die Partie seines Lebens. Der Zehner lag nach 20 Sekunden das erste Mal im Gras, Kontermann tat so, als würde er über ihn fallen und rammte ihm dabei das Knie in die Seite.

„Genau so, genau so!”, schrie ich und gab meinem Herzstück Szenenapplaus. „Ich will, dass Klein-Maradonna hier keinen Stich mehr bekommt, hast du mich verstanden!”

Kontermann nickte und zeigte mir den Daumen, er hatte seine Rolle angenommen und er erfüllte sie wie ein Profi. Mein Plan ging auf. Dadurch, dass wir ihr Nervenzentrum ausschalteten, gelang ihnen nichts mehr. Unser Gegner wirkte konsterniert, überrascht von dieser Finte, nahezu chaotisch in der Grundorganisation. Es war fantastisch zu sehen, wie wir ihnen durch diesen taktischen Trick den Schneid abkauften.

Aber auch wir konnten offensiv keine Akzente setzen. Kanitz war weit davon entfernt, all das leisten zu können, was wir von ihm verlangten, und auch wenn Fuhrmann und Tiedtge hinten grandiose Arbeit ablieferten, so stand vorne Klein-Tiedtge auf verlassenem Posten.

In der Halbzeit versammelte ich meine Mannschaft um mich herum, sah in all diese erschöpften Gesichter, strich über Köpfe und kräuseliges Haar, verteilte Hanuta an jeden, der es gerade brauchte. Nervennahrung und überall diese Anspannung in den Gesichtern. Ein Siebenmeter-Schießen wollte ich unbedingt vermeiden, Porno-Kerkes war noch nicht so weit, und wir konnten von Glück sagen, dass noch kein Ball auf sein Tor gekommen war. Eine verflixte Situation, die ich zu meistern hatte wie viele Männer vor mir, von Shankley bis Hitzfeld.

Ich weiß bis heute nicht, warum ich diesen Gedanken hatte, wahrscheinlich hatte er mit einer Möwe zu tun, die in elegantem Flug an uns vorbeisegelte und schlussendlich punktgenau landete, ja, wahrscheinlich war es das, was mich zu meiner nächsten taktischen Meisterleistung führte. Ich hatte den Schlüssel endlich gefunden.

„Männer …”, sagte ich. „Wir spielen ab jetzt nur noch hoch und weit. Hoch und weit! Habt ihr das verstanden?”

„Das ist es, Trainer …”, zischte der Kollege Singh nachdenklich. „Das ist es. Wildberg, sie sind ein Teufelskerl!”

„Ich weiß”, sagte ich zitternd, übermannt von dem eigenen Genie, bevor ich mich wieder zum Spielfeld umdrehte.

Niemand kann mehr sagen, was in diesem Moment genau passierte. Es waren erbarmungslose Minuten gewesen, ein Flachschuss zog knapp an unserem Tor vorbei, ein langer, hoher Ball klatschte an die gegnerische Latte. Kontermann war immer noch damit beschäftigt, den gegnerischen Zehner in Grund und Boden zu stampfen, Kanitz kam immer noch nicht in die Partie. Wir hatten sie unter Kontrolle, aber von einem Tor waren wir immer noch weit entfernt. Und dann vollzog sich der Traum direkt vor unseren Augen.

Fuhrmann bekam einen Abklatscher von Kerkes vor die Füße, er warf einen kurzen Blick in Richtung gegnerisches Tor, dann jagte er die Rakete übers Feld. Das Runde flog wie eine Möwe in Richtung des gegnerischen Strafraums, Klein-Tiedtge lümmelte auf dem Boden herum und sortierte Gänseblümchen, ich hörte ein dumpfes „Tiedtge, du Penner, konzentrier dich aufs Spiel!”, den Kollegen Singh hatte es wohl auch aus den Latschen gerissen, aber ich befand mich nur noch in der Twilight Zone zwischen Adrenalin und Wahnsinn. Der Ball machte eine weite Flugkurve, Tiedtge sprang auf und drehte sich um. Und es sind diese Momente, in denen ein Spieler Weltklasse beweist und mit untrüglichem Gespür für die Situation genau dann da ist, wenn man ihn braucht. So einer war Klein-Tiedtge, ich ahnte es, und schlussendlich wusste ich es auch.

Es kam einem wie Ewigkeiten vor, als Tiedtge den Ball galant annahm und sich anschließend um die eigene Achse drehte, nur noch er und der Torwart, auf der Uhr vielleicht noch zwei Minuten. Ein kurzer Blick, das rechte Eck war frei. Mit einem leichten Schlenzer umkurvte der Ball den Torwart, wie lange brauchte er, bis er endlich am Pfosten vorbei und ins Netz rauschen würde?

An den Rest erinnere ich mich kaum noch. Ich spürte nur noch, wie sich etwas um meinen Hals warf und ich zu Boden fiel, danach sah ich die Füße meiner Spieler im Spurt auf das Spielfeld stürmen. Um mich herum war nur noch grenzenloses Geschrei und ungeheurer Jubel, wilde Ekstase, die man nie wieder vergisst. Erst als ich mich halbwegs sortiert hatte, erkannte ich den Kollegen Singh auf mir liegen, in aller Liebe, die dieser Sport hervorzaubern kann, und hörte, wie er schrie: „Da ist das Ding, Kollege, da ist es!”

Und als ich von dort aus in den Himmel starrte, entdeckte ich diese weiße Möwe und hatte das Gefühl, als wenn sie mir zunicken würde. Es war dieser Augenblick, als ich kapierte, dass wir soeben Geschichte geschrieben hatten.

Ein großer Moment.

Ein erhabener Moment.

Mein größter.

Auf Asche

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