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EINLEITUNG

Relevanz statt Wachstum

Über ein Jahrzehnt hat die Erzählung gut funktioniert. Seit der WM 2006 galt Fußball in Deutschland als Symbol für eine gelungene Integration und einen freundlichen Patriotismus. Das Nationalteam spielte erfolgreich, und die Bundesliga vermeldete Jahr für Jahr einen Rekordumsatz. Im Fernsehen und im Feuilleton, in der Wissenschaft und in den Wohltätigkeitsnetzwerken: Überall war der Fußball ein Auslöser für Projekte und Projektionen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war die gewonnene Weltmeisterschaft 2014. Aus Jubel wurde Hysterie, der Fußball beherrschte die öffentliche Wahrnehmung so sehr wie noch nie.

Bis dahin hatten viele Fans die Skandale des Fußballs als Folklore betrachtet, doch das änderte sich nun. Immer mehr Menschen hinterfragen die Macht der Verbände und die Zweckmäßigkeit globaler Sportereignisse. Bevölkerungen demokratischer Staaten entschieden sich in Referenden gegen die Austragung von Olympischen Spielen. Die FIFA implodierte, der DFB erlebte die schwerste Krise seiner Geschichte. Noch immer ist Fußball der beliebteste Sport, und er wird es auch bleiben. Doch die europäischen Ligen können wirtschaftlich nicht ständig weiter wachsen. Die EM 2016 lieferte Vorzeichen: In Deutschland hatten die Fanmeilen weniger Besucher. Und im Gastgeberland Frankreich blickte man reserviert auf das Turnier. Das Land, gezeichnet von Terror und Wirtschaftskrise, hatte andere Sorgen. Die umstrittenen Weltmeisterschaften 2018 in Russland und 2022 Katar werden dieses Unbehagen verstärken.

Der Fußball als ewiger Glückspender und Wirtschaftsmotor: Diese naive Zuschreibung wird nicht mehr lange funktionieren. Es reicht nicht, die Wettbewerbe mit weiteren Teilnehmern zu vergrößern oder die Reichweite mit neuen Fernsehzeiten zu erweitern. Es ist ungenügend, dass die Deutsche Fußball-Liga die Vereine mit Zuschüssen ermuntert, ferne Märkte zu erschließen. Der Tunnelblick, der sich auf sportliche Helden und Versager richtet, hat sich abgenutzt. Die Überzeichnungsrhetorik von Funktionären wirkt nicht mehr wie smarte Geschäftsmäßigkeit – sie klingt nur noch weltfremd. Und das in Zeiten, in denen sich die Gesellschaften im Umbruch befinden, durch Migration und Wirtschaftskrisen, durch Terrorgefahr und Rechtspopulismus.

Der Fußball braucht eine neue Erzählung – und das Potenzial ist seit Jahren vorhanden. Seit der WM 2006 hat sich in Deutschland ein zivilgesellschaftliches Netz um den Fußball gespannt, das im weltweiten Sport einmalig ist, aber noch immer unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle liegt. Etwa 90 Stiftungen nutzen den Fußball als Vermittlungsmedium für soziale Themen. Der DFB und die DFL investieren Millionen in ihre Projekte. Die Bundesligaklubs gründen Sozialabteilungen. In den Fankurven sind Dutzende Ultra-Gruppen aktiv, in den Amateurverbänden schauen Ehrenamtliche über den Rasen hinaus. Und auch das Netzwerk an Nichtregierungsorganisationen ist breiter geworden. Der Fußball bildet in der Gesellschaftspolitik einen soliden Zweig. Aber reicht das aus?

Überschwänglich binden Verbände und Vereine die Projekte in ihr Marketing ein, mit Hochglanzbroschüren und gönnerhaften Scheck-Überreichungen. So soll sich der Stadionkunde beim Trikotkauf etwas wohler fühlen. Dieses Buch aber möchte hinter die Fassade blicken und Orientierung geben. Zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei. Dafür hat der Autor in einem Zeitraum von drei Jahren mehr als 80 Interviews geführt. Im Zentrum der Recherchen standen Menschen, die sich auf beeindruckende Art engagieren: Spieler wie Per Mertesacker, Ehrenamtliche wie Gerd Liesegang oder NGOs wie Discover Football. Einige von ihnen stoßen in ihrem Umfeld auf Widerstände und fühlen sich allein gelassen. Dadurch wird das zentrale Problem offensichtlich: Dem System Fußball fehlt eine ganzheitliche Strategie.

In den vergangenen Jahren erschienen etliche Medienberichte und wissenschaftliche Arbeiten über Engagement im Fußball, meist über Maßnahmen gegen Diskriminierung. In der Regel wurde ein Kontrast hergestellt. Auf der einen Seite die ignorante Milliardenindustrie Fußball, auf der anderen Seite die Kritiker in der Fankurve. Doch die Fußballlandschaft ist komplexer. Das thematische Spektrum hat sich aufgefächert. Daher soll dieses Buch einen Schritt weiter gehen. Der Kern eines jedes Kapitels ist ein Thema, das die Gesellschaft in jüngerer Vergangenheit intensiv beschäftigt hat: die Flüchtlingsdebatte, der Klimaschutz oder die Gleichstellung der Frau. Zu jedem Gebiet hat der Fußball Projekte hervorgebracht. Wirkungsvolle Ansätze sollen hier vorgestellt und bloße Verschleierungsmaßnahmen entlarvt werden. Wichtig: die kritische Einordnung und der Blick über den Sport hinaus. Im bürgerschaftlichen Engagement kann der Fußball nicht isoliert betrachtet werden von Politik, Wirtschaft und Kultur.

Es kann nicht darum gehen, wie das Fußballgeschäft zur Beschwichtigung der Öffentlichkeit etwas Geld an Projekte überträgt. Eine zeitgemäße Gesellschaftspolitik prägt alle Strukturen und lagert das soziale Gewissen nicht an Stiftungen aus. In der Bundesliga kommt diesem Ansatz nur der SV Werder nahe. Die Bremer haben nachgewiesen, dass die Identifikation durch ein seriöses Engagement steigt, bei Fans, Sponsoren, Kommune und vor allem: bei den eigenen Mitarbeitern. Es wird noch einige Jahre dauern, bis diese Qualität in der Bundesliga zu einem Mindeststandard wird. Die englische Premier League ist da professioneller aufgestellt. Dieses Buch soll eine Debatte anstoßen und Experten für einen Austausch zusammenbringen. Nicht der zynische Blick auf den enthemmten Profifußball soll im Vordergrund stehen. Wichtig sind die konstruktiven Projekte, die den Kern des Sports verändern könnten. Die Nachahmung: ausdrücklich erwünscht. Damit der Begriff „Nachhaltigkeit“ bald nicht mehr wie eine Floskel klingt.

Die europäischen Fußballligen setzen jährlich mehr als 20 Milliarden Euro um. In der Bundesliga liegt der Gesamtumsatz bei mehr als zweieinhalb Milliarden, möglich durch ein Geflecht aus Konzernsponsoring und Medienverwertung. Die deutschen Klubs überweisen allein eine Milliarde an Spieler und Trainer. Diese Summen stehen in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung. Der Fußball ist ein Unterhaltungsbetrieb, der für die Grundbedürfnisse unseres Lebens entbehrlich ist. Doch gerade weil er so ernst genommen wird wie kein anderes entbehrliches Gut, muss er mehr in die Gesellschaft zurückspielen. Nicht das Konto ist dafür entscheidend, sondern die Kompetenz. Dadurch würde der Fußball nicht weiter wachsen, aber er könnte einen anderen Wert für sich beanspruchen: Relevanz.

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