Читать книгу Gesellschaftsspielchen - Ronny Blaschke - Страница 8
ОглавлениеDrei Schritte vor, zwei Schritte zurück
Der Deutsche Fußball-Bund galt lange als Herrenverein, der verspätet auf politische Entwicklungen reagiert. Inzwischen pflegt er ein breites Sozialsystem. Mexiko-Hilfe, Ferienangebote für Kinder, Gesundheitsvorsorge: Über seine drei Stiftungen stellt der Verband viele Millionen Euro für Dutzende Projekte zur Verfügung. Doch welchen Einfluss hat diese externe Wohltätigkeit auf interne Strukturen? Gibt es einen gesellschaftlichen Leitgedanken, der Nationalteam und Amateurbasis verbindet?
Am Anfang der Recherchen für dieses Kapitel steht eine einfache Frage: Wie sozial ist der DFB? Doch schon auf den zweiten Blick wird es kompliziert. Was soll das eigentlich sein, dieser DFB? Ein Verband, ein mittelständisches Unternehmen oder ein Weltkonzern? Der gemeinnützige DFB hat fast sieben Millionen Mitglieder. Er besteht aus 27 Verbänden: 21 Landes- und fünf Regionalverbänden sowie dem Ligaverband. Die 240 hauptamtlichen Mitarbeiter des DFB schaffen den Rahmen für 1,7 Millionen ehrenamtliche Helfer.
Zum DFB gehören fünf Gesellschaften und drei Stiftungen. Er besitzt Immobilien, unterhält Sportschulen, bespielt ein Museum. Er beruft Ausschüsse, Kommissionen, Arbeitsgruppen. Seine bekannteste Marke ist die Nationalmannschaft, gesponsert von milliardenschweren Unternehmen. Der DFB kooperiert mit Dutzenden Organisationen aus Politik, Kultur, Zivilgesellschaft. Diese Partner wollen etwas geben, doch sie verfolgen auch eigene Interessen. Die grundsätzliche Frage muss also genauer formuliert werden: Gibt es einen gesellschaftspolitischen Leitgedanken im System DFB?
Erkenntnisse dazu verspricht der Julius-Hirsch-Preis, eine Auszeichnung für Personen und Gruppen, die sich gegen Diskriminierung stark machen, benannt nach dem in Auschwitz ermordeten Nationalspieler jüdischen Glaubens. Im Oktober 2015 treffen sich in einem gehobenen Leipziger Hotel die Preisträger der vergangenen zehn Jahre. In Workshops diskutieren linke Ultras der Münchner Schickeria mit Sozialarbeitern von Borussia Dortmund. Engagierte Ruheständler aus Oberfranken tauschen sich mit Jugendlichen aus Bremen aus, moderiert wird das Ganze von kritischen Referenten.
Die meisten der 80 Teilnehmer sind ehrenamtlich aktiv. Einige erzählen, sie seien an der Belastungsgrenze und würden von Neonazis bedroht. Anderen Projekten droht die Abwicklung, aber der Hirsch-Preis habe ihnen geholfen. Mit fortschreitender Dauer öffnen sie sich mehr und mehr, insbesondere beim Abendessen. Man spürt ihr seltenes Wohlbefinden, mal unter Gleichgesinnten zu sein. Der DFB hat dafür einen angenehmen Rahmen geschaffen.
Wobei: Wo ist er eigentlich, dieser DFB? Seine Funktionäre und Mitarbeiter, die an dem Treffen teilnehmen, lassen sich an einer Hand abzählen. Auch von den Präsidiumsmitgliedern der Landesverbände ist niemand zu sehen. Dabei sind viele in der Stadt, schließlich findet am nächsten Abend in Leipzig ein Ländespiel gegen Georgien statt. An einem solchen Wochenende stehen etliche Termine und Empfänge an: mit Sponsoren, Politikern, verdienstvollen Nationalspielern. Für die Träger des Julius-Hirsch-Preises, die mit ihrem Wissen so schnell nicht wieder zusammenkommen werden, scheinen sich die Amtsträger wenig zu interessieren.
Oder vielleicht warten sie auch die Auszeichnung der aktuellen Preisträger ab, die am folgenden Nachmittag in einem schick hergerichteten Veranstaltungszentrum stattfindet, wenige Stunden vor dem Länderspiel. Wieder ist es eine Begegnung der Widersprüche: Zu Beginn stellt die junge Theatergruppe einer Karlsruher Schule vor 300 Gästen den Leidensweg von Julius Hirsch szenisch nach. Eindringlich, aber ohne Pathos.
Dann folgen Interviews mit Jurymitgliedern. Der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily und die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, bedanken sich überschwänglich bei Wolfgang Niersbach, der zu jenem Zeitpunkt noch DFB-Präsident ist und als ziemlich unpolitisch gilt. Niersbach gibt den Dank wortreich zurück. Vor allem an Schily, obwohl sich dieser als Jurymitglied beim DFB selten eingebracht hatte. Zudem lehnte es der Sozialdemokrat bei der Verleihung 2010 kurzfristig ab, die Laudatio auf den Roten Stern Leipzig zu halten. War der Verein in seinen Augen zu links?
Die Festrede 2015 in Leipzig hält Thomas de Maizière. Der Innenminister steht damals wegen seiner Flüchtlingspolitik in der Kritik und kann unverfängliche Auftritte im Sport gut gebrauchen. Wie Niersbach und Schily beschwört er in wolkigen Sätzen ein Bewusstsein für die Geschichte und äußert sich allgemein gegen Rassismus. De Maizière verweist auf das Netzwerk, das auch durch sein Ministerium auf den Weg gebracht wurde: „Sport und Politik verein(t) gegen Rechtsextremismus“. Doch im Umfeld des DFB ist es ein offenes Geheimnis, dass sich die Sportabteilung des Ministeriums mehr für die olympische Spitzensportförderung interessiert als für die Prävention gegen Rechts. Es stand sogar zur Debatte, dass die Behörde eine aufwendig produzierte Wanderausstellung zum Thema aus dem Verkehr zieht, obwohl diese über zwei Jahre dutzendfach angefragt worden war.
So fällt beim Julius-Hirsch-Preis auch das auf, was fehlt: Konstruktive Aussagen zur AfD und zu Pegida sowie klare Positionen zu den fremdenfeindlichen Anschlägen in den sächsischen Gemeinden Freital und Heidenau. Vielleicht hätten die drei Preisträger dazu Stellung bezogen, aber ihre Redezeit liegt zusammen nicht mal bei zehn Minuten. Und auch nach der Ehrung gehen wenige Verbandsvertreter auf die Preisträger zu. Zwei Funktionäre kritisieren an einem Stehtisch, dass ihnen die Zeremonie zu lang gedauert habe. Viele Sportjournalisten sind gleich ganz ferngeblieben, obwohl wegen des Länderspiels mehr als hundert von ihnen in der Stadt sind. Einige müssen sich scheinbar von ihrem Rundgang am Vormittag ausruhen, RB Leipzig hatte in seine Nachwuchsakademie geladen.
Der DFB ließ sich die Verleihung des Julius-Hirsch-Preises und die Tagung der bisherigen Preisträger schätzungsweise 200.000 Euro kosten. Auf diesem Niveau können nur wenige Institutionen der Zivilgesellschaft eine Vernetzung organisieren. Zu keinem anderen Anlass bringt der Verband Engagierte mit so unterschiedlichen Hintergründen zusammen. Doch selbst der Julius-Hirsch-Preis ist auch eine Bühne für Eitelkeiten. Verbandsvertreter, Partner, Sponsoren können sich für zwei Stunden vergewissern, dass sie Anteil nehmen am Leid der Holocaust-Opfer. Dass Juden, Muslime oder Sinti und Roma auch in der Gegenwart massiv ausgegrenzt und attackiert werden, kommt dabei nur am Rande zur Sprache.
Egidius Braun stieß den Wandel an
Dieser Eindruck wird sich während der Recherchen verfestigen: Der DFB entwickelt immer mehr Konzepte, aber er meidet politische Kontroversen in der Öffentlichkeit. Er bewegt sich zwischen einer inhaltlichen Vertiefung intern und einer oberflächlichen Vermarktung nach außen. Liegt das an seinen Verantwortlichen oder an der strengen Hierarchie im Verband? Oder orientiert er sich am Mehrheitsgeschmack der Medien, die sich beim Julius-Hirsch-Preis auf Niersbach, Schily und De Maizière konzentrierten, aber die unbezahlte Arbeit der Aktivisten kaum wahrnahmen.
Sieben Interviews mit haupt- und ehrenamtlichen Vertretern des DFB sind in dieses Kapitel geflossen. Kaum jemand von ihnen blickte kritisch auf die eigenen Strukturen, aber fast alle wirkten misstrauisch gegenüber dem Journalismus an sich. Sie scheinen sich sicher zu sein, dass der DFB nur für seine Skandale beurteilt wird und nicht für seine sozialen Projekte. Sie scheinen zu glauben, dass sich Außenstehende nicht in das DFB-Geflecht der Abhängigkeiten hineindenken können – und wollen. Und sie scheinen zu denken, dass niemand die Gegenwart des Verbandes mit seiner Vergangenheit abgleicht. Denn gemessen an seiner Geschichte hat sich beim DFB tatsächlich einiges zum Guten gewendet. Nur sollte die Geschichte nicht immer als Vergleichsmaßstab herhalten.
„Der DFB nimmt seine gesellschaftliche Verantwortung seit langem wahr.“ Dieser Satz wird nahezu von allen Interviewpartnern ausgesprochen. Es ist eine selbstbewusste Innenansicht, die allerdings Ansprüche und Maßstäbe von außen nicht berücksichtigt. In den Chroniken des Verbandes liegen seine sozialen Wurzeln schon weit zurück: 1951 wurde der DFB-Sozialausschuss gegründet, um Mitgliedern einen speziellen Versicherungsschutz zu bieten. Vier Jahre später entstand das DFB-Sozialwerk für die Unterstützung notleidender Mitglieder, vor allem von verletzten Spielern und deren Familien.
Aus heutiger Sicht waren das Einzelmaßnahmen, die nicht darüber hinwegtäuschen können, dass der DFB den bundesweiten Entwicklungen meist hinterherlief. Während in der Politik und in den Universitäten seit den 1960er Jahren immer mehr Menschen für eine liberalere Gesellschaft stritten, lehnte der DFB Frauen oder Migranten noch ab. Und auch an eine ernst zu nehmende Gedenkkultur war nicht zu denken, denn die wenigen fortschrittlichen Kräfte wurden blockiert.
Der DFB hatte in seiner Geschichte zwei jüdische Nationalspieler: Julius Hirsch und Gottfried Fuchs. Bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm schoss Fuchs beim 16:0 gegen Russland zehn Tore. Ein Rekord, den der DFB nach 1933 aus seinen Büchern löschte. Hirsch wurde ermordet, Gottfried Fuchs floh nach Kanada. Der hoch angesehene Trainer Sepp Herberger wollte seinen Brieffreund Fuchs zur Eröffnung des Olympiastadions 1972 nach München einladen. Doch der DFB wollte die Reisekosten nicht übernehmen. Damals saßen 13 Männer im Vorstand des DFB, zwei waren in der NSDAP gewesen. Diese Episode wurde erst 2012 durch den Sporthistoriker Werner Skrentny öffentlich gemacht, in seiner Biografie über Julius Hirsch.
Der DFB wollte anderen helfen, aber sich weniger mit den eigenen Strukturen beschäftigen. 1977 errichtete der Verband mit seinem ehemaligen Bundestrainer Herberger eine nach ihm benannte Stiftung. Bis heute fördert sie Fußballer mit einer Behinderung und unterstützt Jugendstrafgefangene bei ihrer Resozialisierung. Überdies stärkt sie Schulpartnerschaften und Verbandsmitglieder, die in Not geraten sind. Die Stiftung half früh Hunderten Menschen, aber auf das gesellschaftliche Bewusstsein des Verbandes unter dem damaligen Präsidenten Hermann Neuberger hatte sie nur bedingt Einfluss. Zu jener Zeit hat das öffentlich auch fast niemand gefordert. Sieht man von dem Schriftsteller Walter Jens einmal ab, der 1975 eine kritische Rede an den DFB adressierte.
Erst Neubergers Nachfolger leitete Anfang der 1990er Jahre einen Wandel ein, auch als Reaktion auf die Anschläge gegen Asylbewerber in Rostock, Solingen oder Mölln. In der Amtszeit von Egidius Braun wurden das Benefizspiel und der Jugendförderpreis auf den Weg gebracht. 1995 stellte der DFB seinen Bundestag unter das Motto: „Fußball in unserer Gesellschaft – mehr als ein 1:0“. Vier Jahre später fand in der Sportschule Oberhaching der erste Kongress über soziales Engagement statt. Es folgte ein Tagungsband, weil es kaum Forschungen gegeben hatte. Und der Verband modernisierte seine Satzung.
2001 beendete Braun seine Amtszeit mit der Gründung einer Stiftung, die seinen Namen trägt. Die Organisation fördert viele Projekte, die nichts mit Fußball zu tun haben. Sie stützt Schulen, Kinderheime und Menschen, die von Armut bedroht sind. In Osteuropa und Afrika. Allein nach Mexiko sind seit 1986 mehr als 5,5 Millionen Euro an Spenden aus dem DFB-Umfeld geflossen.
Als eine von zwei Stiftungen, die aus dem Fußball heraus entstanden ist, wendet die Braun-Stiftung jährlich mehr als drei Millionen Euro auf. Ein Fünftel davon fließt an die „Fußball-Ferien-Freizeiten“: 1.200 Kinder und Jugendliche aus hundert kleinen Vereinen werden jeden Sommer zum gemeinsamen Austausch mit einem pädagogischen Programm eingeladen. Die Öffentlichkeit nimmt davon kaum Notiz.
Starke Vorbehalte gegen externe Berater
Und der DFB tat es bisweilen auch nicht. Gerhard Mayer-Vorfelder, der Nachfolger von Braun an der Spitze, war zuvor Präsident beim VfB Stuttgart gewesen, er fühlte sich vor allem im Profifußball aufgehoben. Anfang 2002 trug BAFF, das Bündnis aktiver Fußballfans, nationalistische Zitate des DFB-Chefs in seiner Ausstellung „Tatort Stadion“ zusammen. Zwei Beispiele: Mayer-Vorfelder hatte als CDU-Kultusminister von Baden-Württemberg gesagt, es könne nicht schaden, wenn Schüler alle drei Strophen des „Deutschlandliedes“ beherrschen würden – also auch das „Deutschland über alles in der Welt“. Als Ligaausschussvorsitzender des DFB hatte er 1989 gefragt: „Was wird aus der Bundesliga, wenn die Blonden über die Alpen ziehen und stattdessen die Polen, diese Furtoks und Lesniaks, spielen?“
Die Aufregung war groß, nicht über die Zitate, sondern über deren Veröffentlichung. Der DFB zog seine zugesagte Unterstützung für die Ausstellung zurück, andere Förderer und Schirmherren ebenfalls. Der Verband drohte mit Klage und machte Stimmung gegen BAFF, ließ aber bald nichts mehr von sich hören. BAFF schaffte es in die Tagesschau, erhielt viele Spenden und neue Mitglieder. Die Schautafeln von „Tatort Stadion“ wurden danach an mehr als 400 Orten gezeigt, in Schulen, Fanprojekten, Jugendklubs. Nur wenige Wanderausstellungen waren in der Bundesrepublik erfolgreicher. Der DFB zeigte, dass ihm der Ruf seines Präsidenten wichtiger war als die Aufklärung gegen Vorurteile. Noch heute sind manche Verbandsvertreter auf die Gründer von BAFF nicht gut zu sprechen.
Die Jahre vor der heimischen WM 2006 stießen den DFB endgültig ins Zentrum von Debatten. Auch Schriftsteller, Philosophen oder Wissenschaftler, die sich nie zuvor mit Fußball beschäftigt hatten, schilderten nun ihre Sicht. In Veranstaltungen ganz unterschiedlicher Art kamen erstmals langjährige Verbandsvertreter mit fachfremden Beobachtern ins Gespräch. Sie bewerteten sich gegenseitig zunächst kritisch: Die Funktionäre glaubten, dass Intellektuelle ihren Sport überhöhen würden, ohne je selbst gekickt zu haben. Und umgekehrt wurde ihnen ein fußballerischer Tunnelblick vorgehalten.
In diesen Jahren merkte Theo Zwanziger, was alles möglich ist. Als Referent von Egidius Braun und Beauftragter für Sozialpolitik war er in den 1990er Jahren im DFB-Vorstand für viele Ideen oft belächelt worden, nun als Nachfolger von Mayer-Vorfelder sah er die Chance für die Öffnung des Verbandes. „Als ich früher über Fair-Play-Aktionen gesprochen habe, hat kaum jemand zugehört“, sagt Zwanziger rückblickend. „Die Hierarchien und Seilschaften im Fußball ziehen selten kritische Menschen an.“ Ein Mitarbeiter habe ihm einmal gesagt, er würde auch ohne Gehalt für den DFB arbeiten, erzählt Zwanziger, und ein Betriebsrat sei von der Mehrheit auch nicht gefordert worden. „Als Präsident wollte ich meinen Einfluss nutzen. Ich bin bewusst auf externe Ratgeber zugegangen, die auch mal anecken und neue Impulse setzen. Und dann haben intern alle gesagt: Lasst ihn mal machen.“
Zwanziger lud Kritiker zum Austausch in die Frankfurter Zentrale ein, auch Mitglieder von BAFF und anderen Fanbündnissen. Er förderte die Nationalspielerinnen und stellte die Forschungen zur Rolle des DFB im Nationalsozialismus vor. Er wandte sich mit Reden an verschiedene Zielgruppen: auf dem Fankongress, dem Grünen-Parteitag, beim Bundesverband schwuler Führungskräfte. Spätestens nach seiner einfühlsamen Rede auf der Trauerfeier des einstigen Nationaltorwarts Robert Enke 2009 wurde er als Erlöser gefeiert. Zwanziger erhielt Auszeichnungen, darunter den Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden. Dessen Vizepräsident Dieter Graumann bezeichnete ihn als „Lokomotive der Menschlichkeit“. Wohl nie zuvor war der DFB gesellschaftlich so anerkannt.
Doch das Lob täuschte über den internen Streit hinweg. Zwanziger hatte Persönlichkeiten kennengelernt, die nicht in Vereinen und Verbänden sozialisiert wurden, aber über ein Spezialwissen verfügten, das dem DFB fehlte. Er lud sie ein, an Arbeitsgruppen des Verbandes teilzunehmen, ohne das vorher im Präsidium besprochen zu haben. In ihren Fachgebieten sind diese Experten bundesweit anerkannt, aber in den Strukturen des DFB stießen sie auf Widerstände.
Susanne Gaschke überlegte sich genau, ob sie dem Angebot des DFB folgen sollte. Sie war seit 1997 Politikredakteurin bei der „Zeit“ in Hamburg, immer wieder griff sie in Leitartikeln aktuelle Themen auf, so auch im März 2009 nach dem Amoklauf von Winnenden, bei dem ein 17-Jähriger 15 Menschen und sich selbst tötete. Gaschke kritisierte auf der Titelseite die Profitgier der Waffenlobby und die Sensationslust vieler Medien. Zwanziger las den Text und rief Gaschke an. Sie trafen sich und diskutierten, wie man das Interesse von Jugendlichen an demokratischen Prozessen steigern könne.
Gaschke äußerte einen selbstbewussten Gehaltswunsch, Zwanziger willigte ein, doch kurz vor ihrem Wechsel zum DFB machte sie einen Rückzieher. „Ich habe dann auch andere Mitarbeiter des DFB kennengelernt“, sagt sie. „Und ich hatte nicht den Eindruck, dass meine Rolle dort schon bekannt gemacht wurde. Das Risiko, dort gegen Mauern zu laufen, erschien mir zu groß.“ 2012 wurde die Sozialdemokratin Gaschke zur Oberbürgermeisterin von Kiel gewählt, im Oktober 2013 trat sie wegen einer heftigen innerparteilichen Kontroverse zurück. Inzwischen ist sie Autorin bei der „Welt“.
Es zählt der Status, nicht das Argument
Alexandra Hildebrandt nahm das Risiko auf sich. Die Wirtschaftspsychologin hatte beim Handelskonzern Arcandor die Gesellschaftspolitik verantwortet, bis zu dessen Insolvenz. Hildebrandt lernte Zwanziger eher zufällig kennen und wurde von ihm nach längeren Gesprächen in die Kommission „Nachhaltigkeit“ des DFB berufen. In diesem Gremium sollten 15 Experten aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens ab Oktober 2010 Denkansätze für den Fußball entwickeln. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth wurde die Beauftragte für Klimaschutz, die Sozialpädagogin Tanja Walther-Ahrens für Bildung, Teresa Enke für Programme gegen Depressionen. Hildebrandt übernahm den Bereich Nachhaltigkeit, insbesondere den Wissenstransfer aus der Wirtschaft. Der DFB stellte zwei Millionen Euro bis 2013 zur Verfügung, in den Verbandsmedien wurde die Kommission als Meilenstein beschrieben.
Die erste Versammlung der Nachhaltigkeitskommission verlief vielversprechend, einige Teilnehmer sprachen sich für die Einbeziehung der DFB-Sponsoren aus, die ihre Gesellschaftsressorts bereits aufgebaut hatten. Die Kommissionsmitglieder stellten für ihre Themen eigene Arbeitsgruppen zusammen. Und Hildebrandt schlug vor, dass der DFB auf neue Partner außerhalb des Fußballs zugehen solle, auf Fachmedien aus Wirtschaft, Umwelt und CSR, also Corporate Social Responsibility, gemeint ist die Verantwortung eines Unternehmens für die Gesellschaft.
Schon nach kurzer Zeit regte sich Widerstand an der Basis, die Landes- und Regionalverbände fühlten sich übergangen. „Wir sind doch kein Sozialverband“, hieß es öfter. „Wir sind kein Umweltverband.“ Alexandra Hildebrandt fühlte sich von Funktionären ausgegrenzt. Mehrfach warfen ihr DFB-Mitarbeiter vor, dass sie keine Ahnung vom Fußball habe. Mehrfach blieben Anfragen und Ideen von ihr unbeantwortet. „In der Kommission gab es keine kreativen Treffen, sondern eher Absegnungszeremonien“, sagt Hildebrandt. Viele Innovationen seien durch „Abschottungskräfte im Keim erstickt“ worden. In den Diskussionen habe weniger das Argument des Kritikers gezählt, sondern vor allem sein Status innerhalb der Fußballfamilie.
In einem Essay für die „Salzburger Nachrichten“ schrieb Hildebrandt, dass in schwerfälligen Organisationen wie dem DFB nicht nur ein kleiner Teil, sondern alle Arbeitsweisen auf neue Herausforderungen abgestimmt sein müssten: „Geschieht dies nicht, ,herrscht‘ die Macht der Inkompetenz und Wendigkeit, die stets die gesicherte Deckung sucht. Leider überschätzen inkompetente Menschen ihr Können. Sie sind häufig Egozentriker auf ihrem Selbstverwirklichungstrip, die nicht davon geleitet werden, was eine gesunde Organisation braucht, sondern was sie selbst brauchen. Ihr Bezugspunkt sind ihre Bedürfnisse, nicht ihre Aufgabe.“
Auch der Sportsoziologe Gunter A. Pilz war Mitglied der Nachhaltigkeitskommission, zuständig für Antidiskriminierung. Vor mehr als 20 Jahren hatte Pilz mit ähnlichen Worten über die Rückständigkeit des DFB geurteilt wie Hildebrandt. 1988, während der Europameisterschaft in Deutschland, wollte er mit dem Austragungsort Hannover ein Willkommensprogramm auflegen, mit landestypischer Musik und Verköstigung für die Gästefans. Der damalige DFB-Sicherheitschef Wilhelm Hennes lehnte das Konzept ab. Auf einem Podium warf Pilz ihm vor, dass er zu weit entfernt sei von den Bedürfnissen der Fans. Beim DFB galt Pilz fortan als unerwünschte Person, doch er analysierte weiterhin dessen Beharrungskräfte. In Aufsätzen, Vorträgen, Interviews.
So auch 1996. Pilz sprach in einem Fachblatt über die Kommerzialisierung, überschrieben mit der Schlagzeile: „Der Fußball verkauft seine Seele und verrät seine sozialen Wurzeln.“ Daraufhin wurde er von Egidius Braun nach Frankfurt eingeladen. Der damalige DFB-Chef hatte einige Passagen des Interviews unterstrichen und stellte Nachfragen. Am Ende des Gesprächs rief Braun beim Europäischen Verband UEFA an und meldete Pilz für eine Tagung über Gewalt im Fußball an. Als offiziellen Berater des DFB. Pilz war vorher nicht gefragt worden, er stutzte, überlegte eine Weile und willigte ein.
In den zwei Jahrzehnten danach prägte Pilz die Gewaltprävention beim DFB wie nur wenige. Er erhielt auch Ablehnung: Der DFB habe einen Kritiker „mundtot“ gemacht, hieß es in der Fanszene. Wie könne ein unabhängiger Professor so nah an den Verband heranrücken, fragten Wissenschaftler. Pilz sagt heute, dass er sich nie „verbogen“ habe: „Als junger Mensch glaubte ich, dass man die Welt sehr schnell verändern kann. Aber beim DFB habe ich gelernt, dass man viel Geduld aufbringen muss. Man muss auf Leute zugehen, die vielleicht nicht die gleiche Meinung haben. Man sollte auch mal eigene Wünsche zurückstellen, um langfristige Ziele zu erreichen. Es geht um Kompromisse und um kleine Schritte. Mit dem Wissen von heute wäre ich damals diplomatischer aufgetreten.“
Würde man die Schablone des Parteienspektrums auf Pilz anlegen, so ist aus dem Fundi mit den Jahren ein Realo geworden. Spricht man ihn auf die Kritik von Alexandra Hildebrandt an, so wird seine Stimme etwas lauter. Pilz sagt, dass Hildebrandt die Empathie gefehlt habe, um sich auf die gewachsenen Strukturen des DFB einzulassen: „Ein Fußballverband mit einer großen Ehrenamtstruktur erfordert andere Maßnahmen als ein Industriekonzern.“ Bevor man Widerstände kritisiere, müsse man ihre Wurzeln verstehen. Man müsse die Entscheidungsträger kennen, ihr Umfeld und ihre Abhängigkeiten.
Zäsur nach Zwanziger
Es ist eine Herausforderung, auf die viele traditionelle Institutionen keine Antworten haben. Wie leiten Parteien, Kirchen oder Verbände wichtige Inhalte an ihre Mitglieder weiter, ohne dabei abstrakt zu wirken? Nur 0,1 Prozent des Fußballgeschehens findet auf Bundesebene statt. 4,9 Prozent liegen im Verantwortungsbereich der Landesverbände. Gut 95 Prozent sind Angelegenheiten der Vereine, auf Basis des Ehrenamts. Es können in der DFB-Zentrale noch so viele Konzepte geschrieben werden – der Weg bis zur Kreisklasse ist lang. Und diese Kreisklasse sieht in Stuttgart anders aus als in Vorpommern.
Der Eifer von Theo Zwanziger überdeckte die Spannungen zwischen den Konservativen und den Reformern im DFB. Zwanziger geriet ab 2011 zunehmend in die Kritik, insbesondere für seine Aufarbeitung im Skandal um den Schiedsrichterausbilder Manfred Amerell, der sein Amt für Annäherungen an den Kollegen Michael Kempter ausgenutzt haben soll. Mitarbeiter des DFB schildern, dass Zwanziger in jener Zeit oft selbstherrlich gewesen sei und sich nicht mehr beraten ließ. Als seine Amtsübergabe an Wolfgang Niersbach 2012 abzusehen war, soll Zwanziger bereits isoliert gewesen sein. Er sprach öffentlich weiter über politische Themen, aber mit der Umsetzung waren stets andere beschäftigt, darunter nicht wenige Mitarbeiter, die nicht mehr an ihn glaubten.
„Wie politisch wird der DFB nach Ihrem Ausscheiden sein?“ Auf diese Frage antworte Zwanziger 2011 im Buch „Angriff von Rechtsaußen“: „Mein Nachfolger wird an dieser Entwicklung nicht ohne Weiteres vorbeikommen. Wir werden es so organisieren: Egal, wer irgendwann auf meinem Platz sitzen wird, niemand wird die politische Seite des Fußballs mehr wegreden können.“ Zwanziger hätte gern den früheren Präsidenten des VfB Stuttgart, Erwin Staudt, oder den Ligapräsidenten Reinhard Rauball an der DFB-Spitze gesehen, nicht aber seinen Generalsekretär Wolfgang Niersbach.
Es kam anders, und so sagte Zwanziger 2015 in einem Interview für dieses Buch: „Mir war klar, dass von meinen Ideen einiges wieder verloren geht. Ich wollte meine kurze Zeit nutzen, um möglichst viel anzustoßen. Dabei sollten nicht irgendwelche Agenturen mehr Geld bekommen als die Menschen, um die es geht. In der Hoffnung, dass wenigstens etwas übrig bleibt.“
Nach Zwanzigers Ausscheiden machte der DFB einige seiner Entscheidungen wieder rückgängig. Und es deutet viel darauf hin, dass nicht eine mangelnde Qualität dafür entscheidend war, sondern der verletzte Stolz zwischen Funktionären. So sagte ein Präsidiumsmitglied zu Alexandra Hildebrandt: „Egal, wie gut Ihre Ideen auch sind. Alles, was von Zwanziger kam, muss jetzt weg.“ Das Fachwissen von Hildebrandt, Tanja Walther-Ahrens oder Claudia Roth war nicht mehr gefragt. Die Kommission Nachhaltigkeit wurde zum DFB-Bundestag im Oktober 2013 aufgelöst.
Als Abschlussdokument legte die Kommission den ersten Nachhaltigkeitsbericht vor, überschrieben mit dem Titel: „Fußball ist Zukunft“. Über viele Monate hatten ihre Mitglieder Zahlen und Entwicklungen zusammengetragen. Auf 100 Seiten versuchen sie einen gesellschaftlichen Leitfaden zu knüpfen: von der Frankfurter Zentrale über die Talentförderung und Ehrenamts-Qualifizierung bis zur Beschreibung von mehr als 20 Themenfeldern: Fair Play, Integrität, Gesundheit oder Schulfußball. Angereichert ist der Bericht mit Interviews und Verweisen zu den 21 Landesverbänden.
Einige Beispiele: Seit bald 30 Jahren kooperiert der DFB mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der BZgA. Ihre Schwerpunkte sind die Vorbeugung vor Tabak- und Alkoholsucht sowie die Sensibilisierung für Glücksspiel. Oder: Seit 2008 haben sich rund 30.000 Grundschullehrer fortbilden lassen, um Fußball in ihren Unterricht einfließen zu lassen. Oder: Seit 2000 unterstützt der DFB die deutsche Meisterschaft der Werkstätten für behinderte Menschen. Oder: Gemeinsam mit der Sporthochschule Köln und dem Universitätsklinikum Aachen hat der DFB Experten gefördert, die psychisch erkrankte Leistungssportler unterstützen. Oder: Seit mehr als 50 Jahren entsendet der Verband gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt Trainer in Schwellen- und Entwicklungsländer, von Honduras bis auf die Philippinen. Oder, oder, oder.
Wer sich noch nie mit Gesellschaftspolitik im Fußball beschäftigt hat, der dürfte nach der Lektüre des Nachhaltigkeitsberichtes beeindruckt sein, vielleicht sogar eingeschüchtert. Einerseits dämpfen Vertreter des DFB häufig die Erwartungen von außen, schließlich sei ihr Sport keine „Reparaturwerkstatt der Gesellschaft“. Andererseits schüren sie enorme Erwartungen, weil sie den Fußball in ihrem Bericht als unerschöpfliche Quelle von sozialer Hilfe erscheinen lassen. „Die Aufzählung von Einzelmaßnahmen genügt nicht für einen Nachhaltigkeitsbericht“, sagt Alexandra Hildebrandt. „Es müssen Höhen und Tiefen benannt werden, und vor allem: die konkreten Ziele einer Strategie. Nachhaltigkeit ist kein Zustand, sondern ein Prozess.“
Weltweit berichten fast drei Viertel aller Unternehmen über ihr Nachhaltigkeitsengagement, das hat die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG 2015 erhoben. Gemessen an Umsatz und Mitarbeiterzahl ist der DFB kein Konzern, gemessen an seiner Stellung in der Öffentlichkeit ist er es sehr wohl. Alexandra Hildebrandt hatte dem Verband in der Kommission geraten, auch Selbstkritik und Probleme zu formulieren. Überdies empfahl sie, Finanzflüsse und Beschaffungsketten von Materialien offenzulegen, auch von Sponsoren. Viele ihrer Vorschläge wurden abgelehnt.
Man könnte den Nachhaltigkeitsbericht also getrost auf den hohen Stapel der unkritischen DFB-Publikationen legen, es gibt aber einen Unterschied: Der Verband erstellte den Bericht gemäß der Richtlinien der Global Reporting Initiative, der GRI, einem weltweit aktiven Forum mit anerkannt hohen Standards. Zudem ließ sich der DFB von externen Wirtschaftsprüfern und Berichterstattungsexperten beraten. Das dürfte nicht nur eine Menge Geld gekostet haben, sondern vermittelt auch den Eindruck, dass die Themen ausgewogen dargestellt sind.
Zur Beschwichtigung der Öffentlichkeit
Dass die Wirklichkeit komplexer ist, zeigt zum Beispiel die Prävention gegen Homophobie, die wohl am meisten diskutierte Diskriminierungsform in den vergangenen Jahren. Theo Zwanziger hatte das Thema auf die Agenda gebracht, er gab viele Interviews und unterstützte einen Wagen beim Christopher-Street-Day in Köln. Der Nachhaltigkeitsbericht stellt richtig dar: Der DFB hat 2012 in Hennef ein Dialogforum über „Sexuelle Identitäten“ veranstaltet und 2013 eine Infobroschüre veröffentlicht. „Damit wurde aber nur an der Oberfläche gekratzt“, sagt Tanja Walther-Ahrens, die als Mitglied der Nachhaltigkeitskommission an beiden Projekten beteiligt war. Das Dialogforum hätte mit größerer Beteiligung auch in Berlin oder Franfurt stattfinden können, findet die ehemalige Bundesligaspielerin. Und die Broschüre hätte mit einer Kampagne bekannt gemacht werden müssen, mit Fachtagen, Plakaten, Turnieren für Vielfalt. „So bleibt der Eindruck haften, dass das Ganze nur zur Beschwichtigung der Öffentlichkeit diente. Nach dem Motto: Wir müssen uns politisch korrekt verhalten.“
Es deutet sogar einiges darauf hin, dass der DFB die Aufklärung gegen Homophobie blockiert hat: 2012 überlegte ein Beisitzer des DFB-Bundesgerichts, ob er in einer überregionalen Zeitung über seine Homosexualität sprechen könnte. Der Jurist hatte sich als Schiedsrichter und Funktionär einen guten Ruf erarbeitet. Er fragte in Frankfurt nach, ob der DFB sein öffentliches Coming-out fördern würde. Ein hochrangiger Verbandsmitarbeiter antwortete ihm, dass er nicht mit einer Unterstützung rechnen könne. Zur selben Zeit wurde der schwule Aktivist Marcus Urban aus einer Arbeitsgruppe beim DFB gedrängt, weil er mit Interna an die Öffentlichkeit gegangen war, die jedoch keinen sonderlichen Neuigkeitswert gehabt hatten. Der Autor dieses Buches hatte 2008 die Biografie Urbans vorgelegt, ihr Titel: „Versteckspieler – Die Geschichte des schwulen Fußballers Marcus Urban“.
Auch aus dem Umfeld der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ist zu hören, dass der DFB lange eher gebremst statt gefördert haben soll. Die Stiftung entwickelt nun Lernmodule für die Sensibilisierung von sexueller Vielfalt im Fußball. Und auch das schwullesbische Kölner Jugendzentrum „Anyway“ hat unterschiedliche Seiten des DFB kennengelernt: einerseits eine großzügige Fördersumme für seinen einfühlsamen Kurzfilm „Zwei Gesichter“, andererseits einige Bedingungen bei der Umsetzung und Nutzung des Films.
Auf anderen Themenfeldern ließen sich ebenfalls Anekdoten über Disharmonien zusammentragen, die nicht am Inhalt orientiert waren. Fragen wie: Welcher Partner platziert das größte Logo auf der Pressemappe? Wer darf das Grußwort halten? Wer darf sich mit auf das Foto stellen? Das ist in manchen Konzernen und Behörden nicht anders. Aber allein die Bedenken, die DFB-Vertreter beim Thema Homophobie gezeigt haben, machen deutlich: Der Verband ist in seiner Gesellschaftspolitik von einer Hierarchie des Wissens weit entfernt. Nicht Experten haben das letzte Wort, sondern Funktionäre weiter oben in der Hierarchie. Ein öffentliches Bewusstsein dafür gibt es nicht. Der aufwendig produzierte, aber einseitige Nachhaltigkeitsbericht wurde von Medien kaum aufgegriffen.
Auch mit einem kritischeren Ansatz wäre das wohl nicht anders gewesen. Damit fügt sich der DFB in ein wachsendes Umfeld ein. Etliche Berater unterstützen die Veröffentlichung von Nachhaltigkeitsberichten. Die Aussagen: glattgebügelt. Agenturen laden in der Wirtschaft zu CSR-Foren, sie verschicken Newsletter und helfen bei der Vermarktung, gegen Gebühr. Es ist ein Selbsterhaltungsbetrieb, in dem Kritik unerwünscht ist. Die Fußballvereine können den DFBNachhaltigkeitsbericht als Werbemappe zur Sponsorensuche verwenden.
In solchen Fällen zeigt sich, wie wichtig glaubwürdige und reflektierte Repräsentanten an der Spitze sind. Der einstige Sportreporter Wolfgang Niersbach begann als DFB-Chef 2012 mit dem Versprechen, wieder das „Kerngeschäft“ in den Mittelpunkt zu rücken. Für ihn war der DFB zuvorderst eine Verwaltung für Fußballspiele. Niersbach prägte keine gesellschaftlichen Debatten, aber er stellte sich auch nicht grundsätzlich quer. Als Vorsitzender der Jury für den Julius-Hirsch-Preis soll er einen angenehmen Ton für seine Moderationen gefunden haben, berichten Teilnehmer. Er wirkte sicher, wenn er auf Podien vom DFB-Kommunikationschef Ralf Köttker befragt wurde. Aber er wirkte unsicher in einem politischen Rahmen, den er schwer abschätzen konnte.
So auch 2014 bei einer Tagung des Bündnisses „Nie Wieder“, das sich für eine lebendige Gedenkkultur einsetzt. Monatelang hatten Medien über rechtsextreme Angriffe auf die antirassistische Gruppe „Aachen Ultras“ berichtet. Niersbach gab vor 150 Gästen zu, dass er davon kaum etwas mitbekommen habe. Er vertrat den DFB seltener bei gesellschaftlichen Anlässen als Theo Zwanziger. Niersbach war zum Beispiel bei einer Wohltätigkeitsgala der Hirschfeld-Stiftung zu Gast, er traf auch bei einer Projektvorstellung Aydan Özoğuz, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Aber in beiden Fällen, so ist aus Organisationskreisen zu hören, soll Ligapräsident Reinhard Rauball die treibende Kraft für die gemeinsamen Auftritte gewesen sein. Und wenn die Bundesliga im Rampenlicht steht, dann will der DFB natürlich nicht fehlen.
Fan-Ärger über den DFB-Dialog
Vielleicht ist es kein Zufall, dass in der Amtszeit von Wolfgang Niersbach etliche Fußballprojekte mit einem kritischen Profil neue Mitglieder gewonnen haben, beispielsweise BAFF, die schwullesbischen Queer Football Fanclubs oder die Frauenrechtsgruppe „Discover Football“. Ihre Aktivisten wurden von Niersbach nicht mehr zum Meinungsaustausch eingeladen, daher fühlten sie sich auch weniger durch den Verband repräsentiert. Deutlich wurde das im Oktober 2015, als mehrere Fanorganisationen den Dialog mit dem DFB abbrachen. Eine ergebnisorientierte Gesprächsbereitschaft und Wertschätzung sei über Jahre nicht etabliert worden, hieß es in ihrer Pressemitteilung. Auch von vielen Fanprojekten wird die Deutsche Fußball-Liga in Fan-Angelegenheiten als offener und professioneller wahrgenommen.
Beim DFB lässt auf Fachebene niemand etwas auf Niersbach kommen, offiziell. Die Mitarbeiter berichten von einer Gestaltungsfreiheit, die sie unter Zwanziger nicht gehabt hätten, weil sie ständig dessen spontane Ideen umsetzen sollten. In der Zentrale hat sich die Abteilung „Gesellschaftliche Verantwortung“ nach schwierigen Anfangsjahren etabliert. Wenn man in der Branche nachfragt, erhält man ähnliche Meinungen: Die Abteilung sei kompetent, aber unterbesetzt, außerdem stoße sie an die Grenzen der DFB-Bürokratie. Vier Angestellte sind für die „Gesellschaftliche Verantwortung“ im Verband hauptamtlich zuständig, sie entwerfen Broschüren, organisieren Preisverleihungen und sollen inhaltliche Visionen formulieren. Zum Vergleich: Die Medienabteilung hat rund 30 Mitarbeiter.
„Es kommt nicht unbedingt auf die Zahl der Mitarbeiter an“, sagt die Nachhaltigkeitsexpertin Alexandra Hildebrandt, die 2014 das Standardwerk zum Thema herausgebracht hat, der Titel: „CSR und Sportmanagement. Jenseits von Sieg und Niederlage: Sport als gesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen“. Hildebrandt findet, dass die Abteilung weit oben angesiedelt sein müsse. Wie in Bremen: Eine CSR-Direktion mit zehn Mitarbeitern ist bei Werder direkt dem Vereinspräsidenten untergeordnet, der auch Geschäftsführer der Kapitalgesellschaft für die Profis ist. Beim DFB dagegen ist die Abteilung „Gesellschaftliche Verantwortung“ eine Abteilung unter vielen. Ihr Direktor Willi Hink ist auch für Amateurfußball, Qualifizierung und Schiedsrichter verantwortlich.
Doch die Umsetzungskette beim DFB ist länger als in jedem Profiklub. Die vier Abteilungsmitarbeiter in Frankfurt müssen für ihre Bildungskonzepte eine Sprache finden, die ehrenamtliche Vertreter nicht als Bevormundung empfinden. Möchte der DFB ein Projekt für Klimaschutz oder eine Kampagne gegen Homophobie bundesweit etablieren, so ist er auf die Bereitschaft seiner 21 Landesverbände angewiesen. In einer DFB-Umfrage kam 2015 heraus, dass 52 Prozent der befragten Mitarbeiter in den Landesverbänden den Bereich Gesellschaftliche Verantwortung für zunehmend wichtig erachten. 46 Prozent der Verbände haben dafür eine eigene Abteilung gegründet. „Wir möchten einen regen Austausch mit den Landesverbänden pflegen“, sagt Stefanie Schulte, die Leiterin der DFB-Abteilung für Gesellschaftliche Verantwortung: „Wir wollen viele Mitglieder auf unserem Weg mitnehmen. So entwickelt sich das Bewusstsein systemisch und wird von der ganzen Organisation getragen.“
Schulte kam unter Theo Zwanziger zum DFB. Sie war vorübergehend im Stab von Maria Böhmer tätig, der ehemaligen Integrationsbeauftragten der Bundesregierung. Sie sagt, dass sie Projekte im Fußball oft unkomplizierter durchsetzen könne als in der Politik. Und das will was heißen. Ihre Abteilung betreut ein Netzwerk von ehrenamtlichen Kommissionen, Arbeitsgemeinschaften und Projektgruppen, die sich für bestimmte Themen regelmäßig treffen, etwa Vielfalt oder Gewaltprävention. Die Landesverbände entsenden in diese Gremien ihre ehrenamtlichen Beauftragten für Integration, Inklusion oder Fair Play. Man braucht eine Weile, um diese Gremienstruktur zu durchblicken.
Viele dieser Vertreter sind motiviert, kompetent, neugierig. Aber etliche können mit ihrem Posten wenig anfangen, sie freuen sich über schicke Hotels und gutes Essen bei den Treffen in Frankfurt. Experten aus fußballfernen Institutionen sind kaum noch vertreten. Und wenn doch, dann scheinen sie sich mit Kritik zurückzuhalten, berichten Teilnehmer, schließlich können sie mit dem DFB in ihrer Außendarstellung gut punkten. Die Abteilung von Stefanie Schulte hat in den vergangenen Jahren viele Kommunikationsformen probiert, zum Beispiel die erste Jahreskonferenz zur Gesellschaftlichen Verantwortung im November 2015 in Hennef. Ein Debattenforum auf hohem Niveau, das nun jährlich stattfinden soll – und wofür der DFB eine beachtliche Summe ausgibt.
Für sein Themenfeld „Verbandstätigkeit/Nachhaltigkeit“ hat der DFB 2015 mehr als 22 Millionen Euro aufgewendet, dazu zählen Ehrenamt, Schulfußball, Breitensport oder Prävention. Diese Summe entspricht etwa zehn Prozent der gesamten Ausgaben des DFB. Die Zahlen dürften weiter wachsen, aber an andere „Haushaltsgruppen“ werden sie so bald nicht heranreichen: Für Administration und Kommunikation wandte der DFB 2015 rund 63 Millionen auf, für Sponsoring und Vermarktung fast 57 Millionen.
Unter Geldmangel hat die Gesellschaftspolitik des DFB künftig jedenfalls nicht zu leiden. Das zeigen die jährlichen Teamreisen der U18 nach Israel, wo die Spieler auch die Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem besuchen. Das zeigen die Tagungen, Broschüren, Sozialspots, Minispielfelder oder Mobile für Qualifizierungsangebote vor Ort. Und das zeigen die Verleihungen des Julius-Hirsch-Preises oder des Integrationspreises.
Zudem erklärten sich DFB und DFL 2013 bereit, ihren Finanzierungsanteil an den 60 Fanprojekten zu erhöhen, von einem Drittel auf 50 Prozent. Die andere Hälfe teilen sich die Kommunen und Länder. Der DFB überweist jährlich fast drei Millionen Euro für die Sozialarbeit mit jungen Anhängern. Und er würde diese Summe noch bis zu einem Drittel erhöhen, wenn die öffentlichen Geldgeber an einigen Standorten mitziehen würden.
Seit der WM 2006 sollen die Einnahmen des DFB um mehr als 50 Prozent gestiegen sein, schrieb der Journalist Michael Ashelm in der „FAZ“. Um die 55 Millionen Euro erzielt der DFB aus Sponsorenverträgen, darunter sind acht Dax-Konzerne. Hinzu kommen 40 Millionen durch TV-Vermarktung und Ticketerlöse. Der jährliche Haushalt liegt bei 220 Millionen Euro, die Gesamtrücklagen belaufen sich auf fast 170 Millionen. Wie genau die Amateure von der lukrativen Nationalmannschaft profitieren, ist nicht einfach nachzuvollziehen. Der DFB sei als gemeinnütziger Träger sowieso der Allgemeinheit verpflichtet, sagen seine Führungsleute, und im Gegensatz zu den olympischen Kernsportarten erhalte er keine staatliche Förderung.
Gemeinnützige Steuersparer
Aber die Argumentation ist unvollständig, denn der DFB nutze „die Vorteile der Öffentlichkeit und sieht sich mit seinem Aushängeschild als nationales Kulturgut“, schreibt Michael Ashelm und erinnert an die WM-Feier von 2014, als sich Sponsoren großflächig auf der Fanmeile am Brandenburger Tor präsentierten. Das wirtschaftliche Wachstum bedeutet nicht, dass der DFB den Steuerzahler komplett verschont. Zum einen fallen im gemeinnützigen Bereich keine Gewerbe- und Körperschaftssteuern an. Zum anderen können Spender ihre Zuwendungen von den eigenen Steuern absetzen. Theo Zwanziger ließ als Präsident den steuerlichen Vorteil der Gemeinnützigkeit berechnen. Der DFB soll so bis zu 20 Millionen Euro sparen.
Diese strukturellen Widersprüche haben lange kaum jemanden interessiert. Das änderte sich im Oktober 2015 durch die Aufdeckung des wohl größten Skandals der DFB-Geschichte. Jahrelang wurde ein Geldkreislauf über 6,7 Millionen Euro verschleiert, der im Zusammenhang mit der WM 2006 steht. Viele Ehrenamtliche betrachten ihre Projekte seither in einem größeren Rahmen, sie möchten nicht als Sozial-Alibi für einen kleinen Funktionärszirkel gelten. Warum sollen sie an der Basis für einen „werteorientierten Fußball“ eintreten, wenn einige Berühmtheiten an der Spitze das Geld zum Fenster rauswerfen? Allein die externe Untersuchung der Affäre durch die Kanzlei Freshfields kostete den DFB mehr als fünf Millionen Euro. Mit einem vergleichbaren Volumen müssen die drei DFB-Stiftungen ihren gesamten Jahreshaushalt bestreiten.
Der DFB vermarktet Amateure und Profis als geschlossene Einheit, auch im sozialen Bereich. „Ein Spiel an der Schnittstelle von Elite und Engagement, von Weltklasse und Wohltätigkeit“, heißt es einem der Länderspielmagazine. Oft sind Artikel und Fotos über soziale Projekte in den Verbandsmedien so umfangreich wie die Porträts von Nationalspielern. Das erweckt den Eindruck, als sei die Wohltätigkeit einer der größten Ausgabeposten beim DFB.
Stets folgen die Berichte dem gleichen Prinzip: Der Verband fördert seit X Jahren das Projekt Y mit der Summe Z. Dazu ein paar Zitate von benachteiligten Menschen und Fotos, die den Präsidenten oder einen der Vizepräsidenten lächelnd bei einer Scheckübergabe zeigen. Für Außenstehende lassen sich diese Zahlen schwer prüfen, eine Analyse der Projektwirkung wird selten kommuniziert. So wirkt das Ganze wie eine Rechtfertigung gegen negative Schlagzeilen der Zukunft.
Zur WM 2014 unterstützte der DFB 15 Projekte im Gastgeberland. „In der Summe kamen über 500.000 Euro der Zukunft Brasiliens zugute“, so der Jahresbericht der Egidius-Braun-Stiftung. „Alle Hilfe galt dem Wohle der Kinder Brasiliens.“ Hin und wieder besuchten Nationalspieler und Präsidiumsmitglieder während des Turniers Jugendliche vor Ort. Weltweit berichteten Medien über das Engagement, eine Tageszeitung in Peru schrieb über den „doppelten Weltmeister“. Das war günstige PR. Eigene Spots und Anzeigen mit einer ähnlichen Wirkung hätten den DFB weit mehr gekostet.
Für den Titel erhielt der Verband von der FIFA fast 26 Millionen Euro. Der DFB zahlte jedem Spieler eine Prämie von 300.000 Euro. Der Journalist Jan-Christian Müller schrieb in der „Frankfurter Rundschau“ über das Teamquartier: „Tatsächlich empfanden Bewohner des ehemaligen Fischerdorfs Santo Andre das im Auftrag von deutschen Unternehmen gebaute Campo Bahia wie ein am Atlantik mit ein paar Marsmenschen an Bord gelandetes Ufo, die ihr Domizil fast ausschließlich in Limousinen mit abgedunkelten Scheiben verließen.“
Beispiele wie diese zeigen: Der DFB kann als eine Art Hilfswerk nennenswerte Mittel zur Verfügung stellen. Doch mit einer ganzheitlichen Nachhaltigkeitsstrategie habe das wenig zu tun, sagt die Wirtschaftspsychologin und Hochschuldozentin Alexandra Hildebrandt.
So wird das verzweigte Wohltätigkeitsnetz des Verbandes an einigen Stellen konterkariert, etwa beim 2015 eröffneten Deutschen Fußballmuseum in Dortmund. Die Hälfte der Gesamtkosten von 36 Millionen Euro übernahm das Land Nordrhein-Westfalen. Sollte es zu Fehlbeträgen kommen, liegt das Risiko bei der Stadt Dortmund, die mit mehr als zwei Milliarden verschuldet ist. Der DFB profitierte davon, dass Länder und Kommunen um den Standort des Museums konkurrierten. Die Museumstickets kosten bis zu 17 Euro, im Eingangsbereich gibt es nur einen Shop: von Adidas. Ähnliche Kritik musste sich der DFB für seine neue Fußballakademie anhören, die in Frankfurt entsteht: Der Verband habe seine Monopolstellung genutzt, um einen relativ günstigen Grundstückspreis zu erhalten. Manchmal ist das Selbstvertrauen der DFB-Vertreter schwer zu ertragen.
Die Freiheit der Stiftungen
Wäre die Gesellschaftspolitik des DFB heute tiefer verwurzelt, wenn seine Geschichte anders verlaufen wäre? Nach der Sepp-Herberger-Stiftung 1977 und der Egidius-Braun-Stiftung 2001 gründete der Verband 2007 seine eigene Kulturstiftung, ein Jahr später entstand die Bundesliga-Stiftung. Zudem beteiligt sich der DFB als Mitstifter an den Grundstockvermögen von anderen Stiftungen: an der Fritz-Walter-Stiftung, Robert-Enke-Stiftung, Daniel-Nivel-Stiftung und der Stiftung „Bürger für Bürger“ in Berlin.
Die Kernstiftungen des DFB bestreiten ihre Etats aus den Erlösen der Benefizspiele, die seit 1993 etwa alle zwei Jahre stattfinden. Diese Partien des deutschen Nationalteams finden in kleineren Stadien statt und spielen mehr als vier Millionen Euro ein, zuletzt in Sinsheim, Mainz und Augsburg. Mehr als 30 Millionen sind so insgesamt in die Stiftungsarbeit geflossen. „Unter Europas großen Verbänden gibt es nichts Vergleichbares“, schreibt die DFB-Presseabteilung. Aber warum finden die Benefizspiele dann nicht in größeren Arenen statt, in Dortmund, Berlin oder München? Mehr Aufmerksamkeit würde das wohl nicht bringen, aber die Projekte wären dann besser ausgestattet.
Deutlich werden die Vor- und Nachteile des Stiftungsmodells am Beispiel der DFB-Kulturstiftung, die mit 350.000 Euro den kleinsten Etat hat. Seit ihrer Gründung hat sie mehr als 150 Projekte gefördert, an den Schnittstellen von Kunst, Wissenschaft und Geschichte. Darunter waren Ausstellungen und Forschungen über verfolgte jüdische Spieler, auch Theaterstücke, Filmfestivals, Lesungen oder Tagungen zu politischen Themen. Gemessen am großen Ganzen handelt es sich um kleine Summen, doch für einige Fußballhistoriker und Nichtregierungsorganisationen bilden sie das Fundament.
So entstehen Abhängigkeiten, die in der Kultur- und Wissenschaftsförderung nicht unüblich sind. Ob rassistische Fans oder Menschenrechtsverletzungen in WM-Gastgeberländern: Die von der Kulturstiftung ermöglichten Projekte greifen auch Themen kritisch auf, die der DFB sonst zurückhaltend kommentiert. Auf Nachfrage berichten die Antragsteller von einer Projektentwicklung ohne Einschränkungen.
Die Kulturstiftung zeigt, dass man mit relativ wenig Geld in fußballferne Bereiche hineinwirken kann. Für den Geschäftsführer Olliver Tietz ist der DFB der erste und bislang einzige Arbeitgeber. Tietz studierte Literatur, Kunstgeschichte, Philosophie und Soziologie. Mitte der 1990er Jahre stieß er zum Verband. Er war im Förderverein tätig, baute das Archiv auf, wirkte als Referent von Theo Zwanziger. Es gibt in der Branche nicht viele Fußballvertreter, die so gut vernetzt sind mit Politik und Kultur wie Tietz. Davon zeugt das Kuratorium der Kulturstiftung mit Mitgliedern aus unterschiedlichen Bereichen, darunter Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die Präsidenten des Goethe-Instituts und der Bundeszentrale für politische Bildung oder Romani Rose vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.
Im Interview lobt Olliver Tietz das langfristige Modell der Stiftung, denn so schnell könne man diese nicht wieder auflösen. Tietz muss nicht für jede Entscheidung das DFB-Präsidium befragen. Die Jahresberichte der Kulturstiftung, die er selbst verfasst, stechen aus der Öffentlichkeitsarbeit des DFB heraus: mit interessant geschriebenen Texten, die Kritisches zumindest zwischen den Zeilen erkennen lassen. Und die nicht den Verband in den Vordergrund stellen, sondern die Menschen in den Projekten. Der Gestaltungsfreiraum von Tietz innerhalb der Strukturen ist relativ groß. Das mag seine Arbeit erleichtern, aber kommt es auch der Gesamtentwicklung zugute?
Vielleicht würde die politische Debatte innerhalb des DFB ein höheres Niveau erreichen, wenn Tietz mit seinen Erfahrungen öfter an Funktionärsrunden teilnehmen würde. Das gilt auch für Wolfgang Watzke und Tobias Wrzesinski, den Geschäftsführer und seinen Stellvertreter der DFB-Stiftungen Egidius Braun und Sepp Herberger. Ihre Geschäftsstelle liegt in Hennef – von dort lässt sich das Bewusstsein in Frankfurt nur bedingt prägen.
Die Aufgaben der Stiftungen grenzen sich klar voneinander ab. Sie verschicken unterschiedliche Newsletter, pflegen getrennte Internetseiten, veröffentlichen eigenständige Jahresberichte. Wer sich in der Branche umhört, der merkt schnell: Selbst viele Funktionäre der Landesverbände können die Stiftungen nicht unterscheiden. Und Unkundige wissen gleich gar nicht, wie sie einen DFB-Experten für ein bestimmtes Thema schnell erreichen können. Vor 20 Jahren mag die Auslagerung von sozialen Themen in Stiftungen noch modern gewesen sein. Mittlerweile ist sie das nicht mehr (siehe Seite 102).
Was kommt mit Grindel?
„Eine in Frankfurt angesiedelte Einheit für soziale Themen halte ich nicht zwingend für notwendig“, sagt Reinhard Grindel. „Aber wir brauchen eine stärkere Abstimmung der Stiftungen untereinander und mit dem Hauptamt.“ Seit April 2016 ist Grindel der zwölfte Präsident des DFB. Ob er den Verband in der Öffentlichkeit wieder gesellschaftspolitisch stärken kann? Es sprechen mehr Argumente dafür als dagegen.
Der Jurist Grindel legte im Funktionärswesen einen schnellen Aufstieg hin – für manche zu schnell. Das kann Misstrauen und Neid erzeugen, gerade bei Kollegen, die sich seit Jahrzehnten durch die Strukturen mühen. Wie seine Vorgänger Mayer-Vorfelder und Zwanziger ist er Mitglied der CDU, in der Partei wird er dem konservativen Flügel zugerechnet. Das verdeutlichen Aussagen über Integration, die eher an Mayer-Vorfelder erinnern als an Zwanziger.
Als Journalist hatte er für das ZDF die Studios in Berlin und Brüssel geleitet. Als Abgeordneter saß er im Innenausschuss und im Sportausschuss des Bundestages. Man kann ihm das positiv oder negativ auslegen. Positiv: Er kann seine Rhetorik an die Bedürfnisse der Medien anpassen und ist gut vernetzt mit den politischen Schaltzentralen. Negativ: Er hat die Seilschaften im Geschäft so schnell verinnerlicht, dass er jedem Gesprächspartner das Gefühl vermitteln kann, auf seiner Seite zu sein.
Mit der Gesellschaftspolitik des DFB ist Grindel vertraut. Als Schatzmeister des Verbandes soll er großzügig auf Geldanfragen für soziale Themen reagiert haben. Zum Beispiel im Sommer 2015: Die DFB-Kulturstiftung förderte eine Ausstellung vor dem Berliner Hauptbahnhof über jüdische Sportler im Dritten Reich. Grindel gefiel die Idee, aber er fragte sich, ob die hohen Kosten der wetterfesten Skulpturen im Verhältnis zu ihrer Wirkung stehen. Er willigte ein – die Ausstellung wurde ein Erfolg. „Ich glaube, ich habe ein gutes Gefühl dafür entwickelt, ob Projekte eine Breitenwirkung haben“, sagt Grindel. Als Schatzmeister saß er gemäß seiner Funktion auch in den Vorständen der drei DFB-Stiftungen. Zudem war er Mitglied der Nachhaltigkeitskommission unter Zwanziger gewesen, zuständig für den Bereich Antikorruption. Zu anderen Themen, sagen Teilnehmer des Gremiums, soll er sich weniger positioniert haben.
In den ersten Monaten als Präsident legte Grindel ein beachtliches Tempo vor. Er sprach über die Willkommenskultur für Flüchtlinge, redete über Fußball in Ganztagsschulen und stellte einen detaillierten Finanzbericht vor, den es so im Verband noch nicht gegeben hatte. Unterstützt von seinem Nachfolger als Schatzmeister: Stefan Osnabrügge hatte sich als Leiter der ehramtlichen Kommission „Gesellschaftliche Verantwortung“ einen Ruf als Antreiber erworben. Bei der EM 2016 besuchte Grindel mit Kollegen eine Gedenkstätte, die an die Opfer des französischen Widerstands im Zweiten Weltkrieg erinnert. Und er diskutierte in Paris mit Fanvertretern und Wissenschaftlern die Integrationschancen im Fußball.
Im Interview holt Grindel einen Ordner hervor und gibt Auskunft über Budgetdetails. Er weiß genau, welche Zahlen er auf welcher Seite findet. Grindel will ein Compliance-System gegen Regelverstöße etablieren. Er möchte den Austausch mit Fans wieder aufnehmen und die Partnerschaften mit zivilgesellschaftlichen Institutionen pflegen. Er sagt: „Für mich gehören alle Themen zum Kerngeschäft. Je besser es unseren Vereinen geht, desto mehr können sie sich für Integration und andere soziale Fragen stark machen. Das möchte ich mit der Öffentlichkeit, die ein Präsident hat, unterstützen.“
In einem Bereich ist Grindel gegenüber Niersbach im Nachteil: Er muss belastungsfähige Kontakte zum Profifußball erst aufbauen, auch zu ehemaligen Nationalspielern, die aus dem Ruhestand heraus oft Diskussionen prägen. Von verschiedenen Seiten erfährt man, dass der Marketingzirkel der Nationalmannschaft um Manager Oliver Bierhoff für die gesellschaftspolitischen Fachleute des DFB schwer erreichbar ist.
Es gibt in Deutschland keine ernstzunehmende Debatte über die soziale Vorbildfunktion von Nationalspielern. Nach Attacken gegen Flüchtlinge veröffentlichte der DFB im Sommer 2015 ein kurzes Video. Darauf halten Spieler beschriebene Karten hoch: „Gegen Hass“, „Gegen Fremdenfeindlichkeit“. Die Mehrheit in Medien und Sport gibt sich mit solchen inhaltsleeren Botschaften zufrieden. Und bestärkt sie sogar: Zur gleichen Zeit erhielt nämlich Joachim Löw für sein Engagement die Goldene Sportpyramide von der Deutschen Sporthilfe. Der Bundestrainer hatte einem Flüchtlingsprojekt des Schauspielers Til Schweiger 25.000 Euro zur Verfügung gestellt. Doch darüber hinaus ist keine visionäre Aussage Löws über die gesellschaftliche Rolle seines Teams in Erinnerung geblieben. So hat die Sporthilfe ihre Auszeichnung bekannter machen können, aber das Thema gewann nicht an Konturen dazu. Die Liste vergleichbarer Promi-Ehrungen ohne Substanz ist lang.
Millionen Fans sind es nicht gewohnt, dass sich ihre Lieblingsspieler zu Themen jenseits des Fußballs äußern. Und wenn sie es tun, dann gehen ihre Aussagen in schriller Aufregung unter. Im Mai 2016 veröffentlichte Mesut Özil ein Foto von sich in Mekka, dem zentralen Wallfahrtsort für Muslime. Für Özil kümmert sich ein Marketingteam um seine Darstellung in sozialen Netzwerken, daher dürfte das Bild ein Zeichen für Akzeptanz gewesen sein. Innerhalb von wenigen Stunden wurde das Bild millionenfach geliked, doch es gab auch Hetze und Unverständnis. Vertreter der sächsischen AfD warfen Özil ein „antipatriotisches Signal“ vor.
Der Brandenburger AfD-Chef Alexander Gauland wurde in der gleichen Woche mit Worten über den schwarzen Nationalspieler Jérôme Boateng zitiert: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ Zu diesem Zeitpunkt war die rechtspopulistische Häme über ein Kinderbild von Boateng noch gar nicht abgeklungen, mit dem der Konzern Ferrero auf seiner Kinderschokolade geworben hatte.
Sind sachliche Auftritte der Nationalspieler in dieser Erregungskultur überhaupt möglich? Vor der EM 2012 in der Ukraine und Polen sprach Thomas Urban, Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, mit Spielern über Polen. Der damalige Kapitän Philipp Lahm äußerte sich differenziert über Menschenrechte in der Ukraine. Und eine Delegation besuchte das einstige KZ Auschwitz. Doch selbst das wurde dem DFB auch negativ ausgelegt, denn, so der Vorwurf, es sei nicht das gesamte Team in der Gedenkstätte gewesen. Reaktionen wie diese dürften dazu beigetragen haben, dass Oliver Bierhoff sich genau überlegt, welcher Spieler wozu etwas sagt.
Das System DFB ist voller Widersprüche, doch man es sollte es nicht aus den falschen Gründen kritisieren. Der Verband wird für sein Nationalteam bald noch höhere Einnahmen von Sponsoren, Ausrüstern und Sendeanstalten erzielen. Zugleich betonen die Funktionäre stets ihre Bodenhaftung gegenüber der Basis. Zwischen diesen unterschiedlichen Interessen ist es vielleicht gar nicht möglich, einen gesellschaftspolitischen Leitfaden zu entwickeln.
In etlichen Regionen der Bundesrepublik baut der Staat seine sozialen Angebote ab. Nur wenige Organisationen können diese Leerräume mit Leben füllen, der DFB ist eine von ihnen. Weltweit gibt es keinen Sportverband, der sich so viele Gedanken über den Fußball hinaus gemacht hat. Das spricht zum einen für den DFB, aber es spricht noch mehr gegen die anderen Verbände.
Der ordentliche Bundestag im November 2016 in Erfurt ist für den DFB ein Anlass, seine Gesellschaftspolitik zu überdenken. Experten von außen sollen den Blick weiten, auch die Rolle der Themen-Beauftragten wird hinterfragt. Schon öfter hat der Verband auch Konzepte zurückgenommen, die gut funktioniert haben, etwa 2010 das Antidiskriminierungsprojekt „Am Ball bleiben“. Kritiker bezeichnen ihn dafür als planlos.
Man kann aber auch Worte wählen, die einem vor 20 Jahren noch nicht in den Sinn gekommen wären: Der DFB experimentiert und sucht neue Ansätze, er ist lernfähig geworden. Ob sich alle Mitarbeiter über diesen Wandel Gedanken machen, ist eine ganz andere Frage.
Weitere Informationen
Deutscher Fußball-Bund, Projekte
Nachhaltigkeitsbericht des DFB
www.dfb.de/nachhaltigkeitsmanagement/nachhaltigkeitsbericht
Egidius-Braun-Stiftung
Sepp-Herberger-Stiftung
DFB-Kulturstiftung