Читать книгу Im Schatten der Erinnerung - Rose Hardt - Страница 4
Die Gedanken sind frei
ОглавлениеDas Leben ist nicht immer eitel Sonnenschein. Oftmals steht das Barometer auf Sturm, dunkle Wolken trüben dann unser Gemüt und die Gegenwart ist alles andere als berauschend. Es gibt weder eine Garantie auf Glück, noch auf bunte Träume. Liebesbeziehungen gehen immer wieder in die Brüche, langjährige Ehen scheitern und geliebte Menschen verlassen uns oder sterben. Letztendlich hat der vom Schicksal Gebeutelte nur die Wahl zwischen Resignation oder hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.
Luisa, Carin und Pauline trafen sich wöchentlich im Philosophen-Café auf dem Uni-Campus, meist saßen sie im hinteren Teil des Cafés, weil es dort ruhiger war und sie in aller Ruhe und über alles reden konnten. Irgendwann hatte der Besitzer die wahnwitzige Idee das Café zu modernisieren, und ausgerechnet im hinteren Teil des Cafés kürzte er Tischbeine und tauschte Stühle gegen bunte Poufs aus.
„Oha“, bemerkte Luisa als sie sich auf einem der Poufs niederließ, „bequem ist anders.“
„Sicherlich Absicht, wir sollen ja keine Wurzeln hier schlagen, sondern Umsatz bringen“, bemerkte die mollige Pauline.
Pauline war Mitte vierzig, hatte Journalismus studiert und arbeitete seither als freie Journalistin für den Stadtanzeiger. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen war sie schließlich bei ihrer kranken Mutter wieder eingezogen – was sich recht bald als Fehler herausstellte. Pauline tröstete seither ihr Seelchen mit Schokolade und träumte von einem starken Ritter der sie endlich aus dieser Situation befreien würde.
Carin schien das alles nichts auszumachen, mit sichtlichem Vergnügen beobachtete sie die beiden Freundinnen und lachte, „also ich weiß gar nicht was ihr habt, ich finde die Sitzkissen ganz okay“, wobei sie auf ihrem Pouf, wie ein Teenager, auf und ab hüpfte.
Carin war Anfang fünfzig, schlank, gutaussehend und stammte, wie sie selbst zu scherzen pflegte, aus einem guten Stall. Sie hatte einige Jahre in London gelebt, war mit einem Rechtsanwalt verheiratet und Mutter zweier Söhne. Nach ihrer Scheidung ist sie nach Deutschland zurückgegehrt, seit dieser Zeit arbeitete sie als Sekretärin an der gleichen Fakultät wie Luisa.
„Verflucht, warum können wir uns nicht auf die Stühle setzen“, empörte sich Luisa nach einer Weile des unbequemen Sitzens, „meine Beine sind schon eingeschlafen und mein Hintern schmerzt wie sonst was.“
„Fünf Kilo mehr auf den Rippchen und der Schmerz wäre nicht vorhanden“, murrte die schlechtgelaunte Pauline.
Carin klatschte in die Hände, „also gut, meine Damen, dann lasst uns dort drüben an den Tisch, mit den schönen bunten Polsterstühlen, wechseln – vielleicht hebt das ja eure Stimmung“, fügte sie kopfschüttelnd an.
Pauline verdrehte genervt die Augen und kämpfte sich mit ihrem Übergewicht von dem tiefen Sitzkissen hoch.
Carin nützte die Gelegenheit und klopfte spaßeshalber auf ihren Allerwertesten, legte den Kopf in den Nacken und lachte dabei vergnügt auf.
„Ich hasse dich, wenn du so bist“, bemerkte Pauline und ließ sich auf den Stuhl mit dem türkisfarbenen Polster fallen.
„Wie bin ich denn?“, hakte Carin nach und kniff dabei freudig in Paulines Hüftspeck.
„Autsch“, quietschte Pauline auf, „genau das meine ich. Du bist eine ekelhafte Sadistin!“
Luisa warf Carin einen strafenden Blick zu, „muss das denn sein?“
„Hey, keep cool, Mädels“, versuchte Carin nun die beiden mürrischen Freundinnen zu besänftigen, „lasst uns einen Secco trinken, danach könnt ihr mir erzählen was denn so schlimm in eurem Leben ist.“
Und noch bevor Carin weiter ihre überschüssige Energie an der molligen Pauline auslassen konnte, zischte sie ihr entgegen: „hör auf! Ich warne dich!“
„Also wirklich, Carin“, bemerkte Luisa, „da stimme ich mit Pauline vollkommen überein, du hast schon eine sadistische Ader!“
„Und weil ich so ein Scheusal bin“, lachte Carin, „geht der Prosecco heute auf mich“, anschließend schnippte sie nach dem Kellner, um die Bestellung aufzugeben.
„Bist du ja auch“, knurrte Pauline beleidigt.
„Jetzt ist’s aber mal gut“, lenkte Luisa ein und trat Pauline unterm Tisch ans Bein.
Kurz schien die Stimmung unter den Dreien zu kippen, doch als der gutaussehende Kellner mit der Flasche und den klirrenden Gläsern auf den Tisch zusteuerte, war plötzlich Ruhe – alle sahen mit verzückter Miene dem Kellner entgegen.
„Oh, ein neuer Kellner? Passend zu der neuen Einrichtung!“, flüsterte Carin hinter vorgehaltener Hand, „charmant, charmant!“
Bei seinem Anblick kippte Paulines Kinnlade sogleich nach unten – ganz offensichtlich sah sie in ihm mal wieder den starken Ritter, der sie aus ihrem tristen Leben befreien würde.
Luisa drückte mit dem Zeigefinger diskret Paulines Kinnlade wieder hoch.
Der Kellner, der sich seines guten Aussehens bewusst war, hatte sofort auf die Blicke der Damen reagiert und machte den Weg unter seinen Füßen zum Catwalk. Tänzelnd, das Serviertablett auf seiner rechten Hand balancierend, steuerte er breit grinsend auf die drei Freundinnen zu. Das Schauspiel ging am Tisch dann weiter. Während er den Korken bewusst langsam aus der Flasche zog, sah er die Damen der Reihe nach an, mit einem anzüglichen Grinsen ließ er schließlich den Korken knallen, dieser schoss zur Decke, dann zurück und landete direkt in Paulines Schoß.
Pauline wurde rot bis über beide Ohren, blitzschnell entfernte sie den Korken aus ihrem Intimbereich.
„Hm … war das nun ein Zufalls- oder Schicksalstreffer?“, scherzte Carin und lachte sich einen Ast darüber.
Der Kellner fühlte sich sogleich animiert und zwinkerte der molligen Pauline zu.
„Oha“, meinte Carin augenzwinkernd.
Paulines Gesicht war mittlerweile purpurrot und auf ihrer Stirn stand geschrieben: seht mich bitte nicht so an!
Als der Kellner seine Arbeit verrichtet hatte, schlenderte er, wohlwissend, dass alle Augen auf seinen knackigen Hintern stierten, zum Tresen zurück.
„Irgendwoher kenne ich den Kellner“, bemerkte Luisa und zog dabei die Stirn nachdenklich in Falten, „ich weiß nur nicht woher.“
„So ein Angeber“, kommentierte Pauline naserümpfend seinen Abgang.
„Na, von der Bettkante würde ich ihn jedenfalls nicht stoßen“, schmunzelte Carin, und als sie Paulines Augenrollen bemerkte, erhob sie ihr Glas, prostete ihr zu und sagte: „Brave Mädchen kommen in den Himmel und böse, ja, liebes Paulinchen, die kommen überall hin!“
„Ich hoffe, du bist bald dort wo der Pfeffer wächst“, entgegnete Pauline und leerte ihr Glas in einem Zug.
„Der wächst auf Madagaskar“, korrigierte Carin, „ich reise jedoch nach Namibia.“
Carin hatte irgendwann auf ihren Reisen nicht nur die Liebe zu Afrika entdeckt, sondern auch die Liebe ihres Lebens dort kennengelernt.
„Ah, sieh an, wann geht’s denn zu deinem Freund auf die Farm?“, fragte Luisa das Thema wechselnd – wobei sie Carin insgeheim um ihren Mut, ihre Weltoffenheit und überhaupt ihre Lebenseinstellung beneidete. Ja, bei ihr schien das Leben so leicht, so unkompliziert zu sein.
„Jaaa“, jubelte Carin, „wenn alles nach Plan läuft, in sechs Monaten, und ich kann euch gar nicht sagen wie sehr ich mich darauf freue“, dann lehnte sie sich zurück, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und seufzte: „nie mehr nervige Studenten, nie mehr Stress mit der Verwaltung und nie mehr am Morgen in der Rush Hour stehen.“
„Dafür musst du dich dann aber mit Schlangen, riesigen Spinnen und wilden Tieren herumplagen“, muffte Pauline.
Carin umarmte Pauline, drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange und sagte: „wenn wir, Billy und ich, unsere Lodge aufgebaut haben, seid ihr – du und Luisa – herzlich eingeladen, doch Vorsicht“, sagte sie mit tiefer Stimme und entsprechender Mimik: „denn du musst wissen, dass Löwen eine Vorliebe für mollige und schlechtgelaunte Weibsbilder haben.“
„Ha, ha … sehr witzig“, gab Pauline zurück – worüber Carin erneut lachte.
Luisa erhob ihr Glas und sagte: „Nun, dann wünschen wir dir“, wobei sie Pauline, mit einem sanften Fußtritt unterm Tisch, miteinbezog, „viel Erfolg beim Aufbau deiner neuen und abenteuerlichen Zukunft – und deine Einladung nehmen wir natürlich gerne an! Nicht wahr Pauline!“
Doch Pauline spielte die beleidigte Leberwurst, sie streckte ihre Nase in die Luft und warf den Kopf zur Seite.
Erneut hatte der Kellner seinen Auftritt, dieses Mal brachte er Knabbereien, „Nüsse sind gut für die Nerven“, bemerkte er, und schob das Schälchen, langsam und genüsslich schmunzelnd in Richtung Pauline – sie dankte es ihm mit einem hochrotem Kopf.
Nichtsdestotrotz griff Pauline sofort zu und fing auch gleich zu knabbern an, Luisa und Carin langten ebenfalls zu.
Nach einigen Schweigeminuten fragte Carin, „na, ist das Nervenkostüm wieder geglättet?“
Pauline stoppte kurz ihren Kauvorgang, schenkte ihr ein aufgesetztes Lächeln und stopfte dann weiter Nüsse in sich hinein.
Carin wandte sich nun Luisa zu, „und, wie geht’s dir so?“, fragte sie.
Während Luisa ihren Frust still an den Erdnüssen ausließ und sie ausgiebig zwischen ihren Zähnen zermalmte, antwortete sie: „nun, eines Tages werde ich sie lynchen!“
„Wen? Deine Chefin!“, hakte Carin neugierig nach.
„Ja! Wen sonst? Ich weiß nicht was sie gegen mich hat – nichts, aber auch gar nichts kann ich ihr recht machen“, antwortete sie kopfschüttelnd, „dabei habe ich sie von Anfang an gemocht, ja, sie sogar bewundert für das was sie beruflich erreicht hat! Ha … und manchmal hätte ich gerne mit ihr getauscht.“
„Dann wären wir aber nicht befreundet und würden hier nicht so gemütlich beisammensitzen“, kommentierte Carin und zwickte Pauline in den Arm.
„Menno, jetzt lass das endlich!“, fluchte Pauline.
„Wie alt ist sie eigentlich?“, hakte Carin nach.
„Wer?“
„Na, deine Chefin!“
„Zwei Jahre jünger als ich. Tja, nicht zu glauben, sie steht auf der Sonnenseite des Lebens und merkt es nicht einmal. Was will sie eigentlich?“, echauffierte sich Luisa, sie hat promoviert, habilitiert und sieht auch noch recht passabel aus – mal abgesehen von ihrer Kleidung.“
„Naja, du siehst halt besser aus, zu gut für ihr Vorzimmer offensichtlich“, bemerkte Carin.
„Die Schönheit ist vergänglich, die ihr doch allein zu ehren scheint. Was übrig bleibt, das reizt nicht mehr, und was nicht reizt, ist tot“, warf Pauline kauend und mit einem unterschwelligen Zynismus versehen dazwischen. Als sie die fragenden Blicke ihrer Freundinnen bemerkte, sagte sie: „meint Goethe.“
Carin schüttelte den Kopf über ihr Zitat und schob das Schälchen mit den Knabbereien noch etwas näher zu Pauline hin, „hier“, sagte sie, „gib der Schlechtgelaunten mehr Futter“, anschließend gab sie Luisa ein Zeichen weiterzuerzählen.
„Nun, allem Anschein nach ist ihr die Position, als neue Lehrstuhlvertretung, zu Kopf gestiegen“, fuhr Luisa fort, „heute Morgen, zum Beispiel, bat sie mich zu einem Gespräch in ihr Büro, und wisst ihr was sie als erstes tat?“
Beide sahen sie erwartungsvoll an.
„… sie erhöhte ihren Bürostuhl, sodass sie auf mich herabblicken konnte.“
„Naja, damit hat sie dir ihre Macht demonstriert“, gab Carin zum Besten.
„Tsss, Psychologen, sage ich da nur“, entfuhr es Pauline zwischen ihrem Kauen, „es heißt, dass viele nur Psychologie studieren, um sich endlich einmal selbst zu verstehen.“
„… oder um ihre Minderwertigkeitskomplexe in den Griff zu bekommen“, ergänzte Carin.
„Ach, Frauen sind generell zickiger“, bemerkte Luisa, „sobald sie solche Positionen beziehen kommt ihr wahrer Charakter zum Vorschein.“
„Ah, zum Glück habe ich einen männlichen Prof zum Vorgesetzten“, sagte Carin, „Männer sind im allgemeinen besser zu händeln – so jedenfalls meine Erfahrung.“
„Nicht immer“, warf Pauline mit erhobenem Zeigefinger dazwischen, „ich könnte euch da ganz andere Geschichten erzählen. Puhhh, wenn ich da an mein Volontariat und an den damaligen Chef-Redakteur zurückdenke … oha, das war vielleicht ein Möchte-gern-Hengst, der hatte seine Finger überall, nur nicht dort, wo sie gebraucht wurden … aber, sorry, Luisa, ich wollte dich nicht unterbrechen. Um was ging es denn bei eurem Gespräch?“
„Hm“, grübelte Luisa, „eigentlich ging es um nichts Besonderes, es war nur die Art und Weise wie sie mir zu verstehen gab, wer die Chefin hier ist.“
Carin lachte und sagte: „ist ihr Mann nicht dieser Doppel-Doc, der Kardiologe an der Uni-Klinik, der, der auf die Chefarztstelle spekulierte und dem man dann eine junge ausländische Ärztin vor die Nase pflanzte?“
Luisa nickte, „ja, junge ausländische Ärzte sind halt nicht so anspruchsvoll!“, kopfschüttelnd fügte sie an: „ihr müsstet erst einmal sehen wie sie reagiert, wenn Holger – ihr Mann – anruft, dass sie am Telefon nicht salutiert ist alles. Tsss … am Lehrstuhl lässt sie die Chefin raushängen und bei ihrem Mann kuscht sie.“
„Sag ich doch: Psychologen!“, bemerkte Pauline, „die sind nicht wie normale Menschen!“
„Na, sicherlich ist er auch der Grund, warum sie so ist, wie sie ist“, kommentierte Carin, „Druck von oben, meine liebe Luisa, wird immer nach unten weitergegeben. Ich, an deiner Stelle, würde mir da keinen Kopf machen, sie ist nur die Vertretung – und Lehrstuhlvertretungen bleiben in der Regel nicht lange“, versuchte sie die Unglückliche zu trösten.
„Du hast gut reden, wer weiß, wer nach ihr kommt! Außerdem hat nicht jeder so viel Glück wie du, mit deinem Chef“, fügte Luisa überspitzt an.
„Man muss sich eben seine Chefs richtig erziehen“, lachte Carin und prostete den beiden zu.
„Ha, ha, werde heute Abend drüber lachen“, bemerkte Luisa.
Carin musterte neugierig Pauline, die immer noch eifrig Nüsse am Knabbern war, „und welchen Frust stopfst du wieder in dich hinein?“, fragte sie.
Wie auf Knopfdruck hörte Pauline auf zu kauen, da erst bemerkte sie, dass sie fast alle Nüsse alleine vertilgt hatte. „Wenn du meine Mutter hättest, würde dir das Scherzen auch vergehen“, gab sie bissig zurück.
„Warum suchst du dir nicht eine eigene Wohnung? Und überhaupt, warum bist du eigentlich wieder bei ihr eingezogen?“
„Weil ich, im Gegensatz zu dir, ein Verantwortungsbewusstsein habe“, zischte Pauline zurück.
„Quatsch, jeder ist für sich selbst verantwortlich“, winkte Carin mit einer lapidaren Handbewegung ab.
„Ahhh, verstehe, deshalb hast du auch deine Kinder in London bei ihrem Vater zurückgelassen!“ – Das saß. Pauline hatte genau Carins wunden Punkt getroffen.
„Das war jetzt unfair, sehr unfair“, entgegnete Carin verärgert, dann stand sie abrupt auf, ging schnurstracks zur Theke, beglich die Rechnung und verließ wortlos und ohne sich nochmals umzudrehen das Café.
„Meine Güte, Pauline, musst du immer so unsensibel und direkt sein?“, kritisierte Luisa ihre Freundin, „du weißt schon, dass damals ihr Ex-Ehemann – als bekannter Anwalt – bei dem englischen Vormundschafts-Gericht seine Beziehungen hat spielen lassen! Daher hatte Carin absolut keine Chance ihre Kinder mit nach Deutschland zu nehmen – mal davon abgesehen, dass der älteste Sohn bereits kurz vor der Volljährigkeit stand, und glaub mir, sie leidet noch heute darunter.“
„Jaaa“, entgegnete Pauline, „ich mag halt ihre affektierte Art und das ganze Getue nicht, und heute ging mir das absolut nicht ab.“
Luisa legte ihre Hand auf ihre und fragte: „Was ist denn bloß los mit dir?“
„Ach“, seufzte sie, „es ist wegen Mutter. Sie ist unausstehlich, ungerecht und undankbar, dabei mache ich alles was in meiner Macht steht, um ihr das Leben so erträglich wie nur irgend möglich zu machen.“
„Vielleicht hat Carin Recht. Vielleicht solltest du sie mal vor vollendete Tatsachen stellen und dir wirklich eine eigene Wohnung suchen!“
„Weiß nicht“, entgegnete Pauline achselzuckend, „ich kann sie doch nicht einfach im Stich lassen! Nein, nein, das kommt gar nicht in Frage!“
„Das sollst du auch nicht! Du suchst dir eine Wohnung, ihr eine Betreuerin und dann kannst du sie so oft besuchen wie es dir genehm ist – aber du, Pauline, hast endlich wieder dein eigenes Leben.“
„Ja, ja“, seufzte Pauline, „wenn das alles so einfach wäre“, dann sah sie Luisa mit großen traurigen Augen an und sagte: „Weißt du, dass ich manchmal Angst vor mir selber habe?“
„Wie meinst du das?“
„Nun, wenn ich am Abend die Medikamente für sie zusammenstelle, kommt mir manchmal der Gedanke, einfach die Dosis zu erhöhen – ich meine viel zu erhöhen“, wobei sie vor Scham ihre Augenlider senkte.
„Ach, mein armes Paulinchen“, sagte Luisa milde lächelnd und legte tröstend den Arm um sie.
Pauline fühlte sich von Luisa verstanden und plapperte sogleich drauf los: „Stell dir vor, letzte Nacht, ja, da hatte ich einen furchtbaren Traum, ich habe davon geträumt, dass ich meine eigene Mutter getötet habe, danach bin ich schweißgebadet aufgewacht. Der Traum war so real, dass ich mich in ihr Zimmer schleichen musste, um nachzusehen, ob sie noch lebt!“
„Kann ich gut nachvollziehen“, kommentierte Luisa mit einem verstehenden Kopfnicken, „und wie“, zeitgleich erinnerte sie sich an ihre Meuchel-Gedanken bezüglich ihrer Chefin.
Wie oft hatte sie in den letzten Wochen daran gedacht sie zu lynchen, wobei ihre Fantasie geradezu grenzenlos war. Ja, mitunter konnte sie sich regelrecht in die Meuchel-Lust hineinsteigern, sodass sie dann völlig verkrampft dasaß, bis irgendwann ihr nüchterner Verstand ihr zu verstehen gab: hey, wach auf, das bist nicht du!
„Doch zum Glück“, seufzte Pauline, „sind das nur wirre Träume. So etwas könnte ich niemals tun.“
„Wie? … Was?“, fragte Luisa, und fühlte sich sogleich ihrer dunklen Gedanken ertappt.
„Na, zum Glück sind das alles nur Hirngespinste die zu solchen Träumen führen“, antwortete Pauline.
„Ja, ja, zum Glück“, kam es Luisa befreit über die Lippen, „alles nur dunkle Fantasien.“
Gedankenversunken umklammerten beide ihre Sektgläser, erst als der Kellner ein weiteres Schälchen mit Nüssen auf den Tisch stellte, er seinen Zeigefinger kreisend darin bewegte und ihn danach mit einem lüsternen Blick – der Pauline galt – abschleckte, waren sie wieder im Hier gelandet. Sprachlos sahen sie ihn an. Daraufhin wandte er sich frech-grinsend um, und wohlwissend, dass ihre Blicke ihm wieder folgen würden, schlenderte er zum Tresen zurück.
„Igitt, was war das denn?“, fragte Luisa während sie ihm fassungslos nachsah.
„Ferkel“, bemerkte Pauline und rümpfte die Nase dabei.
„Ach, du liebes Bisschen“, amüsierte sich Luisa, „er hat’s auf dich abgesehen“, dann hielt sie die Hand vor den Mund und giggelte wie ein Teenager.
Paulines Seelchen fühlte sich plötzlich geschmeichelt, „glaubst du wirklich?“, hakte sie vorsichtig nach, wobei sie verstohlen zu dem gutaussehenden Kellner hinter dem Tresen linste – der Gedanke schien ihr jedenfalls zu gefallen, denn ihre Gesichtszüge wurden weich und in ihren Augen war bereits ein winziges Funkeln zu erkennen.
Wie schön sie mit einem Male war, dachte Luisa vergnügt. „Na, er ist zwar kein Ritter auf einem weißen Ross“, bemerkte sie, „aber er hat es immerhin geschafft dich zum Lächeln zu bringen.“
Mit einem kleinen Herzensseufzer stützte Pauline ihren Ellenbogen auf den Tisch, legte das Kinn in ihre Handinnenfläche und sah zu ihm hin. „Wenn er ja nicht so ein verdammter Macho wäre“, seufzte sie, „tja, dann könnte er mir vielleicht gefallen.“
Luisa lachte und folgte ihrem Blick, „hm … allem Anschein nach scheinst du jedenfalls genau sein Typ zu sein.“
Und plötzlich fiel Luisa wieder ein woher sie den Kellner kannte, vor nicht allzu langer Zeit war ein Artikel, mit Bild von ihm, in der Tageszeitung! Aber warum? Nein, das wollte ihr partout nicht einfallen.
„Ach ja“, stöhnte Pauline, „mit molligen Frauen vergnügt Mann sich gerne mal, geht aber nicht mit ihnen aus.“
„Na, mit der Einstellung, liebe Pauline, wird das nie etwas mit deinem Ritter!“
„Was ist eigentlich mit dir?“, fragte Pauline mit einem leicht provokanten Unterton in der Stimme.
„Was meinst du?“, stutzte Luisa.
„Wie läuft’s denn in deiner Ehe so? Früher hast du öfter über Carl und eure Reisen berichtet!“
„Gut!“, antwortete Luisa achselzuckend – und insgeheim musste sie ihr zustimmen! Sie und Carl waren schon lange nicht mehr verreist!
„Gut!“, kommentierte Pauline, „bedeutet so viel wie: abgehakt, erledigt oder es könnte besser sein!“
„Es läuft“, entgegnete Luisa knapp – sie hatte jetzt keine Lust über ihre Ehe zu reden.
Pauline schüttelte den Kopf, „wohin läuft’s denn?“, stänkerte sie weiter.
„Pauline, es reicht. Du bist heute wirklich ungenießbar. Ich würde sagen ich fahre Nachhause“, mit Blick zum Kellner hinterm Tresen gerichtet, ergänzte sie: „gönne dir einen Snack und werde wieder normal“, dann stand sie auf und ging.
„Entschuldigung, war nicht so gemeint“, rief Pauline ihrer Freundin nach – doch zu spät, vor ihrer miesepetrigen Laune hatte auch Luisa die Flucht ergriffen.
Während der Heimfahrt dachte Luisa über Paulines Frage nach, dabei musste sie sich selbst eingestehen, dass ihr Eheleben bereits im Dämmerschlaf lag.
Sie und Carl waren seit fünfundzwanzig Jahren zusammen, am Anfang liebte sie ihn wie man einen Kometen liebt, doch die Intensität dieser Art von Liebe wurde zusehends von Alltagsproblemen, langweiligen Fernsehabenden und einem überfüllten Terminkalender – von Seiten ihres Mannes – überschattet, und wenn sie nicht aufpassen würden, würde ihre Ehe bald in einem abgestandenen Fahrwasser enden.
„Nein, das muss sich ändern“, murmelte sie, und da Carl gute Essen liebte, er ein Gourmet war, beschloss sie kurzerhand zum Feinkostenladen zu fahren – früher hatten sie dort gemeinsam und auch regelmäßig eingekauft. Während sie durch den Laden schlenderte hatte sie ihr Verführungsmenü für den Abend bereits zusammengestellt: als Appetizer sollte es ein Lachstatar mit Avocado geben, danach ein Steinbutt-Filet auf Fenchelgemüse, sowie Carls Lieblingsdessert: Mousse au Chocolat, dazu einen kühlen Sauvignon Blanc.
Zuhause angekommen bereitete sie alles vor, sie deckte den Tisch hübscher als sonst ein und gönnte sich danach ein ausgiebiges Bad. Gegen zwanzig Uhr saß Luisa, bei Kerzenschein und zu allem bereit, am Tisch. Es wurde einundzwanzig Uhr und von Carl noch immer keine Spur – keinen Anruf und keine SMS – nichts, auch ihre Versuche ihn erreichen zu wollen blieben erfolglos. „Okay“, knurrte sie, „eine Viertelstunde gebe ich dir noch“, dabei schnippte sie ihre unbequemen Pumps schon mal von den Füßen, öffnete den Reißverschluss ihres enganliegenden Etuikleides und legte die Beine über die Tischkante, enttäuscht griff sie nach der Weinflasche und füllte ihr Glas randvoll auf. Während sie nun das Glas, Schluck für Schluck, leerte, checkte sie immer wieder ihr iPhone – nichts. Carl schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. „Wo bist du?“, zischte sie, „die Viertelstunde ist längst vorbei“, verärgert über ihn und überhaupt ihren Ärger im Büro, begann sie den Tisch abzuräumen, unsanft und fluchend verstaute sie alles im Kühlschrank dabei entdeckte sie die Mousse au Chocolat: Carls Lieblingsdessert, sie griff nach einem großen Löffel und stopfte die süße Köstlichkeit hastig in sich hinein, und während sie das tat, kam ihr wieder Paulines Dementi über ihre Ehe in den Sinn: abgehakt, erledigt, oder es könnte besser sein – jetzt war ihr übel. Sie ließ das Kleid über ihre Schultern gleiten und setzte sich, mit einem Cognac zur besseren Verdauung der Mousse, sowie ihrem ganzen unnützen Gedankenwirrwarr, auf die Couch. Nach einigem Grübeln, aber auch um sich selbst zu beruhigen, sagte sie: „Ach was, ihre Ehe ist in Ordnung – Punkt!“ Carl wird bald Nachhause kommen, sich mit irgendwelchen Entschuldigungsfloskeln und einem Gute-Nacht-Küsschen neben sie ins Bett legen und einschlafen, am nächsten Morgen würde der ganz normale Alltag seinen Lauf nehmen.
Kurzentschlossen rief sie Carin an, um nachzuhören wie es ihr geht.
Sie war auch gleich an der Strippe. „Was gibt’s?“, fragte sie mit leicht gereizter Stimme.
„Ich wollte nur mal nachhören, wie es dir geht?“, hakte Luisa vorsichtig nach.
„Das Beleidigt-Sein überlasse ich Pauline“, antwortete Carin knapp.
„Es tut mir leid, aber du kennst sie ja, sie hat das nicht so gemeint.“
„Hör auf sie immer wieder in Schutz zu nehmen. Pauline ist ein Trampel und das wird sich auch nicht ändern, solange sie ihr eigenes Leben nicht in den Griff bekommt.“
„Du solltest nicht so hart mit ihr ins Gericht gehen, sie hat zurzeit erhebliche Probleme mit ihrer kranken Mutter …“
„Ja, und vor lauter Frust futtert sie sich kugelrund und kehrt dann die Schlechtgelaunte hervor.“
„Komm, gib deinem Herzen einen Ruck und sei wieder gut!“, versuchte Luisa einzulenken.
„Auch wenn sie deine Freundin ist, so muss ich noch lange nicht ihre Freundin sein.“
„Ach bitte Carin“, flehte Luisa, „ich mag euch beide und ich kann es nun mal nicht ertragen, wenn ihr euch zofft.“
Carin grummelte etwas Unverständliches in ihren Bart, „okay, okay, okay“, sagte sie schließlich, „aber nur weil du es bist.“
„Du bist ein Schatz!“
„Schon gut. Aber wieso bist du noch nicht im Bett?“, fragte Carin erstaunt.
„Weil Carl ganz offensichtlich mal wieder mit seinen Arbeitskollegen versackt ist und ich alleine bin.“
„Ist in eurer Ehe alles in Ordnung?“
„Was habt ihr eigentlich alle mit meiner Ehe!“ wunderte sich Luisa, „es ist alles bestens.“
„Dann ist’s ja gut!“, gab Carin knapp zurück. „Bist du Morgen im Büro?“
„Ja!“
„Dann lass uns bei einem gemeinsamen Mittagessen reden“, schlug Carin vor, „ich bin müde und muss in die Horizontale.“
„Gut, dann treffen wir uns, wie gewohnt, um die Mittagszeit im Philosophen-Café. Gute Nacht.“
„Jaaa …‘nacht … ‘nacht und schlaf gut!“
Luisa stierte noch eine ganze Weile das iPhone in ihren Händen an. Keine Frage, Carin war immer noch sauer. Pauline hatte nun mal die unangenehme Eigenschaft und nützte jede Gelegenheit um ihre Finger in Carins Wunde zu legen.
Warum Carin ihre beiden Söhne bei ihm Vater zurücklassen musste, hatte schließlich triftige Gründe. Beide Kinder sind in London geboren und hatten die englische Staatsbürgerschaft, und da ihr damaliger Ehemann einer der besten Rechtsanwälte in London war, man ihm sogar nachsagte, dass er hin und wieder auch Mitglieder des Königshauses bei Rechtsfragen beriet, waren ihre Chancen auf ein Sorgerecht gleich Null. Von Carin wusste sie nur, dass er gerne einmal und unter Alkoholeinfluss, zuschlug. Den Kontakt zu ihren Kindern hatte sie aber nie abgebrochen – heute sind beide erwachsen und führen ihr eigenes Leben.
Am nächsten Morgen, als Luisa schlaftrunken über Carls Kopfkissen tastete, stellte sie fest, dass sein Bett noch immer unberührt war. Der erste Gedanke der sich ihr aufdrängte war: es wird doch nichts passiert sein! Carl würde sie doch nie im Unklaren lassen, jedenfalls nicht, wenn er über Nacht wegblieb. Während sie wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Haus rannte, kamen ihr bereits die schlimmsten Gedanken: Gleich, ja, gleich würde die Polizei vor der Tür stehen und ihr mit ernster Miene die Mitteilung überbringen, dass ihr Mann bei einem Autounfall ums Leben kam. Nur mit dem Nachthemd bekleidet und in Pantoffeln lief sie zur Garage – leer, erneut checkte sie ihr iPhone … wieder nichts. Stopp! Stopp! Stopp! „Nur die Ruhe bewahren“, ermahnte sie sich selbst. Sicherlich wird er bald kommen und es wird sich alles aufklären. Und so beschloss sie erst einmal zu duschen und danach zur Uni zu fahren.
Später, als sie gerade in ihren Wagen steigen wollte, kletterte Carl aus einem Taxi. Er sah fürchterlich aus. Er trug einen Kopfverband, sein Jackett trug er zusammengeknäult unter seinem Arm, die Hemdsärmel waren hochgekrempelt, Hände und Kleidung waren mit Motor-Öl beschmiert, und das linke Hosenbein war zerrissen. Beim Näherkommen entdeckte sie einige kleinere Blessuren in seinem Gesicht – die ganz offensichtlich ärztlich behandelt wurden.
„Carl!“, rief Luisa entsetzt, „um Himmels willen, was ist denn geschehen?“, dabei musterte sie ihn von Kopf bis zu den Füßen, „und wo ist dein Wagen?“
„Ach, irgend so ein Idiot hat uns bei einem riskanten Überholmanöver von der Straße gedrängt“, antwortete er achselzuckend, „der Karren ist nur noch Schrott.“
Mit Blick auf den fachmännisch angelegten Kopfverband gerichtet fragte sie: „Warst du im Krankenhaus? Hast du etwa eine Gehirnerschütterung? … So rede doch!“
„Da gibt’s nichts zu reden, es ist nur eine leichte Gehirnerschütterung und nicht der Rede wert“, dann kehrte er seiner Frau abrupt den Rücken zu und eilte mit großen Schritten Richtung Haus.
Luisa hinterher.
Im Haus ging Carl sofort ins Bad und während er, mit schmerzverzerrtem Gesicht, sich seiner Kleidung entledigte, bombardierte Luisa ihn mit weiteren Fragen: „Wer war denn noch im Wagen? War es einer deiner Kollegen? Ist er auch verletzt? Wo war denn der Unfall? Und wo wolltet ihr denn hin? Und überhaupt, wieso hast du dein Telefon ausgeschaltet? Mein Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht! Warum hast du nicht angerufen?“
„Wer soll denn noch im Wagen gewesen sein!“, antwortete Carl genervt.
„Na, du hast doch soeben gesagt, dass so ein Idiot euch von der Straße gedrängt hätte!“
„Nein, ich war alleine und es ist auf dem Heimweg passiert. Und nun lass mich bitte in Ruhe duschen“, mit sanftem Druck und einem aufgesetzten Lächeln schob er Luisa zur Tür hinaus, und mit den Worten: „lass uns heute Abend reden“, schloss er die Tür.
„Kann ich dich alleine lassen?“, rief sie durch die geschlossene Tür.
„Ja, fahr nur.“
„Wirklich“, hakte sie nach.
„Ja!“, entgegnete er knapp, dann drehte er die Dusche auf, womit seine Gesprächsbereitschaft auch beendet war.
Als sie später im Wagen saß, dachte sie über Carl und seinen Unfall nach, und irgendwie beschlich sie das Gefühl, dass er etwas zu verbergen hatte. Doch der Gedanke verlor sich sogleich im Verkehrschaos vor dem Uni-Parkhaus. Und fast wie jeden Morgen spielten sich Dramen beim Einfahren ab. Diesmal brachte ein Student den gesamten Verkehr zum Stillstand, weil er seine Einfahrkarte fürs Parkhaus nicht finden konnte, achselzuckend und mit einem Lausbuben-Lächeln stand er vor der geschlossenen Schranke und kramte in seinen Hosentaschen, schließlich erbarmte sich ein verärgerter Hintermann und schwang sich aus seinem Wagen, um ihm dann mit seiner Karte auszuhelfen. Und als es schließlich weiterging, sorgte gleich die nächste Studentin, mit Papas großer Luxuskarosse, beim Einparken für Stau. Genervt sah Luisa auf die Uhr, „Mist“, knurrte sie, denn heute passte ihr das überhaupt nicht. Als sie endlich ihren Kleinwagen eingeparkt hatte, wurde dem angeschlagenen Nervenkostüm noch ein Krönchen aufgesetzt, auf dem Weg zum Institut, rollte dann auch noch die schwarze Edel-Limousine des Uni-Präsidenten an ihr vorüber – es fehlte nur noch, dass er seine Hand zum königlichen Gruß erheben würde. Vor dem Präsidialgebäude stoppte die Limousine, der Chauffeur sprang aus dem Wagen, um dem Uni-Präsidenten die Beifahrertür zu öffnen, und während der Deus ex machina dann in aller Gemütsruhe sein Jackett anzog, sah er, mit einem leicht süffisanten Grinsen, dem Gedränge vor dem Parkhaus zu, mit federleichten Schritten verschwand er schließlich in den hochheiligen Hallen – und der Chauffeur mit der Aktentasche seines Chefs hinterher.
Ja, dachte Luisa bitterlächelnd, irgendetwas muss in meinem Leben wohl schiefgelaufen sein.
Luisas Arbeitstage waren vollgepackt mit Arbeit. Ihre neue Chefin gab alles, in der Hoffnung, den Lehrstuhl irgendwann übernehmen zu können. Ein Projekt nach dem anderen wurde an Land gezogen, somit wurden nicht nur neue Stellen für Doktoranden geschaffen, sondern studentische Hilfskräfte gaben sich die Klinke in die Hand, zusätzliche Räume wurden bezogen, technische Geräte über Projektmittel angeschafft und, und, und ... Der Lehrstuhl quoll aus allen Nähten. Für Luisa bedeutete das zusätzliche Arbeit und permanenter Stress mit der Verwaltung – denn Wissenschaftler und Verwaltungsmenschen waren auf unterschiedlichen Planeten unterwegs, und sie als Prellbock, um allen gerecht zu werden, mittendrin. Dennoch machte ihr die Arbeit Spaß. Nein, nicht ganz. Je mehr sie sich ins Zeug legte, desto zickiger wurde ihre Chefin. Und besondere Vorsicht war geboten, wenn sie am Morgen mit roten Pumps und mit kirschrot-geschminkten Lippen im Büro erschien, meist war das in Verbindung mit dem Vollmond der Fall. Zum Glück hatte ihre Chefin, wie viele der Profs, ihre Di.-Mi.-Do.-Arbeitstage, denn die restlichen Tage war für die Grande Dame der Sozialpsychologie Home-Office angesagt.
Heute war Donnerstag und es herrschte der ganz normale Lehrbetrieb. Ihre Chefin hatte die ersten beiden Stunden Vorlesung, danach würde sie sich in ihr Büro zurückziehen, um bei einer Tasse ihres geliebten Schwarztees zu entspannen, und sollte er mal wieder aus sein, würde sie sich ganz selbstverständlich an Luisas Tee bedienen – den Unterschied zwischen Dein und Mein, nahm sie nicht so genau.
Jedenfalls galt es, zwischen Vorlesung und Auszeit, immer den richtigen Moment für Unterschriften abzupassen, so auch an diesem Morgen. Luisa hörte sie bereits kommen. Klack, klack, klack, hallte es durch den Flur. Luisa schwante nichts Gutes, sie griff nach der Unterschriftsmappe und postierte sich gleich vor ihrer Tür. Ihr Blick galt zunächst ihren Füssen und wie befürchtet, trug sie ihre roten Pumps. Durchatmen und keinesfalls provozieren lassen, hieß dann die Devise. „Frau Krollmann, ich bräuchte dringend noch ein paar Unterschriften.“
„Jetzt nicht!“ antwortete sie in einem unmissverständlichen Tonfall, resolut und kaltlächelnd schlug sie ihr dann die Tür vor der Nase zu.
Luisa stand wie eine Erstklässlerin vor der geschlossenen Tür. „Irgendwann bringe ich sie um“, fluchte sie zähneknirschend und stampfte vor Frust einmal mit dem Fuß auf.
„Machen wir’s gemeinsam?“, fragte eine Stimme hinter ihr.
Ihren düsteren Gedanken jäh ertappt, wandte sie sich erschrocken um. Es war Wölfchen – eigentlich hieß er: Priv. Doz. Dr. Wolf, doch wegen seiner schlanken Gestalt und seinen grazilen Bewegungen nannten ihn alle nur: Wölfchen – ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der nach seiner Habilitation am meisten unter den Allüren der neuen Chefin litt – denn angehende und männliche Konkurrenz ertrug sie nur schwer.
„Wie machen wir’s?“, scherzte er mit ernster Miene, „erwürgen wir sie? Oder werfen wir sie aus dem Fenster? Ich plädiere für alles zusammen und genau in der Reihenfolge!“, kopfschüttelnd und murrend zog er sich in sein Zimmer zurück – rums auch die Tür war zu!
„… mit Gift“, knurrte Luisa, „etwas Gift unter ihren geliebten Schwarztee mischen, ja, das wär‘s!“ – auch wenn es nur ein Wunschgedanke war, so fühlte er sich gut und befreiend an.
Gegen Mittag war die Bürotür ihrer Chefin noch immer geschlossen. Luisa beschloss nicht länger Sklavin ihrer Launen zu sein, sie schrieb ihr eine E-Mail, mit der Bitte, die ausgehenden Unterlagen zu unterzeichnen. Danach schrieb sie Carin eine SMS, dass sie auf dem Weg zum Philosophen-Café sei.
Als Luisa dort eintraf saß Carin schon am Tisch und hatte zwei Teller Spaghetti-Bolognese vor sich stehen, „in weiser Voraussicht, dass du Nervennahrung brauchst“, lächelte sie ihr aufmunternd zu.
„Du bist ein Schatz“, antwortete Luisa.
„Gab’s wieder Ärger mit der Burberry-Lady?“, hakte Carin nach.
Ihre Chefin trug mit Vorliebe Burberry-Kleidung, die sie dann solange trug bis sie sprichwörtlich auseinanderfiel.
Luisa nickte, „komm“, winkte sie ab, „lass uns das Thema nicht weiter vertiefen, ich möchte mir nicht auch noch, wegen ihr, das Mittagessen vermiesen lassen“, verärgert stach sie mit der Gabel in die Nudeln, drehte sie auf und steckte sie in den Mund, „was macht dein Afrika-Projekt?“, fragte sie kauend.
„Ich freue mich so“, jubelte Carin, „und ich kann dir gar nicht sagen wie sehr ich mich auf den Aufbau der Lodge freue“, schwärmte sie und strahlte dabei übers ganze Gesicht.
„Aber nicht nur auf die Lodge!“, bemerkte Luisa augenzwinkernd.
„Klar, nicht nur!“, erwiderte sie, wobei eine leichte Röte ihr Gesicht und Hals zierte, „ich freu mich natürlich auch auf Billy, mal sehen wie weit sie mit den Umbaumaßnahmen sind“, genüsslich stach sie mit der Gabel in die Nudeln, danach drehte sie die Nudeln langsam und gedankenverloren auf.
„Wie schön“, seufzte Luisa und tief in ihrem Herzen beneidete sie Carin um ihr Abenteuer im fernen Kontinent.
„Wenn die Umbaumaßnahmen fertig sind, bist du herzlich eingeladen“, lächelte Carin.
„Meine Güte“, seufzte Luisa, „wie oft habe ich mir den Film Jenseits von Afrika, mit Meryl Streep, Klaus Maria Brandauer und Robert Redford, angesehen“, und während sie weiter ihre Nudeln aufdrehte und aß, zog vor ihrem geistigen Auge die afrikanische Steppe mit Nashörnern, Giraffen und Löwen vorüber, und beim Anblick des schneebedeckten Mount Kenya überfiel sie schließlich ein klein wenig Fernweh.
„Hallo … bist du noch anwesend?“, fragte Carin und schnippte dabei mit den Fingern vor Luisas Nase, „im Übrigen, der Film spielt in Kenia“, korrigierte sie ihre Freundin mit erhobener Gabel, „unsere Lodge befindet sich jedoch in Namibia! Wie gesagt, du bist herzlich eingeladen.“
„Und Pauline?“, fragte Luisa lieb lächelnd, „ist sie auch eingeladen?“
„Okay, okay, okay“, entgegnete sie, wobei sie genervt die Augen verdrehte, „aber nur gemeinsam mit dir.“
„Was hast du eigentlich gegen sie?“, hakte Luisa nach.
„Ich?“, fragte sie verdutzt, „nichts! Sie ist doch die ewig Muffige.“
„Naja, wenn ich dich an den gestrigen Nachmittag erinnern darf, da warst du ja auch nicht gerade unbeteiligt. Warum musst du sie auch immer so ärgern!?“ sagte Luisa und schüttelte dabei den Kopf.
„Ach, warum, warum, warum? Warum ist die Banane krumm“, lachte Carin, „weil sie der ideale Opfer-Typ ist! Es macht halt richtig Spaß sie zu necken, und jedes Mal fällt sie darauf rein.“
„Pauline hat schon Recht, wenn sie dich als Sadistin bezeichnet.“
„Ich gelobe Besserung, liebe Freundin“, entgegnete Carin und legte sogleich drei Finger auf ihr Herz.
„Na, du scheinst dich ja wirklich auf die Lodge und Billy zu freuen“, bemerkte Luisa mit einem Augenzwinkern.
„Und wie, meine Liebe, und wie!“, seufzte sie mit Freudentränen in den Augen.