Читать книгу Im Schatten der Erinnerung - Rose Hardt - Страница 5

Traummänner fallen nicht vom Himmel

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Am frühen Abend saß Luisa mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse, sie sah der untergehenden Sonne zu, nippte an ihrem Wein und dachte über Carin nach. Carin hatte in ihrem Leben viele Ungerechtigkeiten erfahren müssen, auch wenn sie aus einer gutsituierten Familie stammte, so wurde ihr dennoch nichts geschenkt. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum sie gleich nach dem Abitur als Au-pair nach England ging und nicht mehr zurück wollte.

Noch ein letztes Mal flammte die Sonne hinter den Baumkronen auf, was zurück blieb war ein orangefarbener Himmel und die Hoffnung auf einen besseren Tag. Luisa fröstelte, sie kuschelte sich in ihre Strickjacke, und dachte an Carl. „Wo bist du?“, flüsterte sie, gleichsam überkam sie ein sehnsüchtiges Zärtlichkeitsbedürfnis, ein Erwarten von lieben Worten und netten Gesten. Eingehüllt in die Atmosphäre der Abendstimmung und leicht beduselt vom Wein gab sie sich ihren Gedanken hin. Plötzlich ertönte Carls Lachen durch den Türspalt der Terrassentür. Sein Lachen klang so unverschämt unbeschwert und fröhlich, dass sie es schon als unwirklich empfand, abrupt wandte sie sich um, und soweit sie es erkennen konnte, war er am Telefonieren! Sie wusste, dass er als Architekt viele Außentermine hatte und er oftmals erst am späten Abend dazu kam seine Anrufe zu erledigen – aber dieses Telefonat, nein, das war kein Geschäftsgespräch, dafür schien er zu aufgekratzt, außerdem lachte er zu viel, zu laut und streifte aus Verlegenheit immer wieder durch seine Haare. Doch als er seine Frau auf der Terrasse entdeckte, erstarrte seine Mimik, mit ein paar genuschelten Worten und einem übertriebenen lauten Abschiedsgruß beendete er abrupt das Telefonat.

„Du bist da?“, fragte er überrascht.

„Wo soll ich denn deiner Meinung nach sein?“, erstaunte sich Luisa und zog dabei die Tür mit einem Ruck auf. „Wer war das?“ fragte sie nun ohne Umschweife.

„Das?“, fragte er verdutzt, „ach das … das war nur der Glaser, du weißt, der für die große Fensterfront im Museum verantwortlich ist – der Neubau unten am Hafen!“, fügte er zur besseren Verständigung an.

Carl war ein schlechter Schauspieler, bei Schwindeleien wurden seine Wangen und seine Ohren feuerrot, so wie jetzt.

Luisa nickte etwas ungläubig und fragte: „Hast du schon etwas gegessen?“

„Nein, ja … ach ich habe keinen Hunger!“, im nächsten Augenblick spurtete er die Treppe zu oberen Etage hinauf.

Kurze Zeit später stürmte er, wohlduftend und umgezogen, wieder an ihr vorüber, „ich muss nochmal weg. Der Bauausschuss tagt. Es kann spät werden, warte nicht auf mich.“

„Was ist eigentlich mit deinem Wagen? Ist er in der Werkstatt? Und überhaupt wie geht es dir nach dem Unfall?“, rief sie ihm nach.

„Der Wagen ist ein Totalschaden, zurzeit fahre ich einen Firmenwagen, und mir geht’s gut!“, mit dem Zuschlagen der Haustür hatte er das Gespräch beendet.

Fassungslos stierte sie auf die geschlossene Tür, doch zu weiteren Vertiefungen über sein Verhalten kam sie nicht mehr, denn ihr iPhone signalisierte einen Anruf von Pauline:

„Hey, Luisa, ich muss dir unbedingt etwas erzählen. Hast du einen Moment?“

Luisas Blick klebte noch immer an der geschlossenen Tür, „jetzt, ja“, antwortete sie.

„Wie?“

„Ach, Carl ist gerade zu einem überaus wichtigen Termin“, fügte sie überspitzt an, „ich bin also alleine, wir können reden!“

„Stell dir vor, am Wochenende habe ich ein Date“, platzte Pauline mit der freudigen Botschaft heraus.

„Ah, sieh an, sieh an, das freut mich für dich“, bemerkte Luisa, „dann schieß mal los, ich bin ganz Ohr!“

„Am gestrigen Abend waren wir noch auf einen gemeinsam Absacker“, kurz hielt sie inne, um dann, wie ein Teenager der etwas Verbotenes getan hatte, ins Telefon zu flüstern: „ich habe mit ihm geschlafen, und weißt du was? Es war fantastisch!“

„Wie schön, das freut mich für dich! Und wer war oder ist der Glückliche?“

„Jo!“

„Jo!“, erstaunte sich Luisa, „wer ist Jo?“

„Der Kellner!“

„Wie, der Kellner aus dem Café?“, hakte Luisa nach.

„Jaaa“, jubelte Pauline leise, sodass ihre Mutter es nicht hören konnte.

Und ganz allmählich dämmerte es Luisa wer dieser Jo war, bruchstückhaft erinnerte sie sich wieder an den Artikel aus der Tageszeitung: „Kellner verhaftet! Kellner hat aus Eifersucht den neuen seiner Ex-Freundin brutal zusammengeschlagen!“

„Jo, Jo“, seufzte Pauline, „der Name klingt so handfest, so stark und so direkt! Findest du nicht auch?“

Luisa war für einen Moment sprachlos, wie sollte sie ihr nun erklären, dass dieser Jo im Knast saß?

„… und am Samstagabend wollen wir zusammen ausgehen“, schwärmte sie weiter, „ist das nicht der Wahnsinn? Er ist so unglaublich zärtlich und lieb, und … naja, und dass ich mollig bin das stört ihn überhaupt nicht, im Gegenteil, er hat gesagt, dass er Frauen mit Hüftgold erotisch findet“, dann giggelte sie wie ein verliebtes junges Mädchen.

Luisa kämpfte einen inneren Kampf, sie konnte doch ihre beste Freundin nicht ins offene Messer laufen lassen, es war ihre Pflicht sie vor diesem Typen zu warnen.

„Pauline, bitte sei vorsichtig, nachher wirst du wieder enttäuscht und du weißt ja, wie so etwas endet …“

„Ah, war klar, dass du mir wieder alles vermiesen wirst“, zischte Pauline ins Telefon, „du und dein ewiger Pessimismus, gönne mir doch das kleine amouröse Abenteuer“, dann spielte sie die beleidigte Leberwurst und schwieg.

„Sorry! Es tut mir leid!“, entschuldigte sich Luisa für ihre Ermahnung. „Vergnügen: Ja! Aber pass bitte auf dich auf.“

„Hab verstanden“, muffte Pauline zurück.

„Sehen wir uns am Montag, üblicher Ort, gewohnte Zeit?“, fragte Luisa.

„Ja, ich muss Schluss machen, meine Mutter wartet auf ihre Tabletten und nervt“, knurrte sie, „bis nächste Woche! Und schönes Wochenende!“

„Ja, dir ebenso!“

Am nächsten Morgen erwachte Luisa mit Kopfschmerzen, „autsch“, das letzte Glas Rotwein am gestrigen Abend war wohl doch zu viel, schlaftrunken blinzelte sie zu Carl, doch der schlief tief und fest wie ein Murmeltier. Irgendwann in der Nacht hatte sie ihn kommen hören, eigentlich wollte sie noch mit ihm reden, doch der übermäßige Alkoholkonsum ließ dies nicht mehr zu – er hatte sämtliche Funktionen ihres Körpers lahmgelegt. Luisa kämpfte sich aus dem Schlaf, setzte sich aufrecht und sah zu ihrem schlafenden Ehemann.

Als sie vor fünfundzwanzig Jahren geheiratet hatten, sagte Carl: wir sollten uns mit dem Nachwuchs noch Zeit lassen, ab dem Zeitpunkt nahm sie jeden Morgen die Pille, er bastelte an seiner Karriere und sie ging brav ihrer Arbeit nach, und in ihrer Freizeit jetteten sie gemeinsam um die halbe Welt. Irgendwann war sie Anfang Dreißig und plötzlich fehlte etwas zwischen ihnen, der Wunsch nach einem Kind wurde mit einem Male zum Zwang. Alles kein Problem meinten die Ärzte damals, schließlich sei die Wissenschaft soweit, dass sie fast alles ermöglichen konnten. Sie begann mit einer Hormontherapie und danach folgte eine nervenaufreibende und qualvolle Zeit, gespickt mit emotionalen Hochs und Tiefs; auch der Sex wurde nicht mehr der Lust überlassen, sondern nach ihrem Eisprung – der zuvor mit einer Spritze, einer hormonellen Stimulation, ausgelöst wurde. Nach einigen Jahren, fünfzehn Inseminationen und drei extrakorporalen Befruchtungen, befand man schließlich, dass es sinnlos wäre das Thema: Kinder, weiter verfolgen zu wollen – das Schicksal hatte offensichtlich andere Pläne mit ihnen. Ein halbes Jahr später hatten sie eine Reise in die Karibik gebucht, unverhofft und ohne irgendwelche Hormon-Mittelchen wurde sie schwanger – die Freude war riesig, doch die Eizelle hatte es nicht bis in die Gebärmutter geschafft, sondern setzte sich dummerweise im Eileiter fest, nach einer Not-OP folgten dann noch einige depressive Phasen.

Mit Tränen in den Augen streifte Luisa zärtlich über Carls Hand, denn ab dem Zeitpunkt war ihre Ehe eine andere. „Wo bist du?“, flüsterte sie, „ich vermisse dich, ich vermisse deine Zärtlichkeiten, unser Lachen, ich vermisse unser Leben!“, und in diesem Augenblick hätte sie nur allzu gerne ihren ganzen Seelenschmerz herausgeschrien.

Carl sah sie kurz unter halbgeöffneten Augenlidern an, ohne etwas zu sagen drehte er sich zur anderen Seite um, gerade so, als ginge ihn das überhaupt nichts mehr an.

Luisa schwankte ins Bad, nach der Einnahme einer Kopfschmerztablette und einer heißen Dusche versteckte sie ihren Kummer unter einem perfekten Make-up. Als sie aus dem Bad kam, drängte sich sogleich Carl an ihr vorbei.

„Hast du Lust auf ein gemeinsames Frühstück?“, fragte sie bevor er wieder die Tür schließen konnte, „vielleicht auf der Terrasse? Es ist herrliches Frühlingswetter und die Sonne lacht!“

„Gib mir dreißig Minuten!“, antwortet Carl, dann schloss er die Tür, ja, er verriegelt sie sogar – was er sonst nie tat.

Verwundert über sein eigenartiges Verhalten stierte sie zur geschlossenen Tür, „wir müssen reden“, hörte sie sich selbst sagen.

Rasch, bevor er wieder auf die Idee kommt mit irgendwelchen Ausreden zu flüchten, bereitete sie ein Frühstück zu: Tee, Spiegeleier, gebratener Speck und Toast, so wie Carl es liebte. Während sie am Terrassentisch saß und wartete, hörte sie die beiden Nachbarskinder im Garten toben. Die Nachbarn waren erst in den Wintermonaten eingezogen. Die Frau kannte sie nicht, sie sah nur immer den Vater, der allmorgendlich die beiden Mädchen wegbrachte, sie schätzte die beiden Kinder auf fünf und sieben Jahre. Luisa lehnte sich in ihrem Gartenstuhl zurück, um die spielenden Kinder zu beobachten. Eifrig stellten die Mädchen einige Blumentöpfe in einem Kreis auf, mit freudigem Geplapper verschlossen sie dann die Lücken mit Tannenzapfen, Moos und eben alles was sie an Grünzeug finden konnten. Als sie fertig waren schleppte die Große ein Zwergkaninchen an und setzte es mitten hinein, die Kleine kam mit einer Karotte hinterher, anschließend hüpften sie fröhlich und singend um ihren selbstgebauten Stall. Ihr Juchzen und ihre Freude darüber zauberten Luisa ein Lächeln aufs Gesicht. Irgendwann hörte sie den Vater die Kinder ermahnen nicht zu laut zu werden, woraufhin die beiden Mädchen Luisa einen verstohlenen Blick zuwarfen. Luisa fand die Verwarnung des Vaters etwas übertrieben und winkte den beiden Mädchen mit einem Lächeln zu, die Kleinste winkte verschämt zurück und versteckte sich sogleich hinter ihrer großen Schwester, die war jedoch mutiger, pflückte ein Gänseblümchen und kam damit an die Grundstücksgrenze – die lediglich aus einer mickrigen und lückenhafte Hecke bestand – gehüpft.

Luisa eilte ihr entgegen.

„Hier, für dich!“, sagte die Kleine und hielt ihr mit einem unbekümmerten Lächeln das Blümchen entgegen.

„Für mich!“, fragte Luisa erstaunt und war über ihre Geste zu Tränen gerührt – und genau das waren die Momente, in denen sie ihre Kinderlosigkeit zu tiefst bedauerte.

„Ja, weil wir so laut waren“, entgegnete die Kleine mit einem schüchternen Lächeln.

Eine erste Träne kullerte über Luisas Wange.

„Macht dich mein Blümchen traurig?“, fragte das kleine Mädchen enttäuscht.

„Nein, nein“, lachte Luisa und wischte sich sogleich die Tränen fort, „im Gegenteil, ich freue mich riesig darüber.“

Luisa hielt das Blümchen in ihrer Hand und fragte: „und wer schenkt mir das?“

„Ich und meine Schwester!“, antwortete die Kleine.

Luisa musste nun selbst über ihre ungeschickte Frage schmunzeln, „nein, ich meine wie heißt du denn?“

„Bella, das ist die Abkürzung von Annabella“, fügte sie prompt hinzu, und um ein Nachfragen auszuschließen, drehte sie sich blitzschnell um und lief zurück zu ihrer kleinen Schwester.

„Tschüss Bella … und Danke für das Blümchen“, rief sie ihr nach.

Wenn damals ihre dusselige Eizelle diese verfluchten paar Millimeter weiter in die Gebärmutter gewandert wäre, könnte sie jetzt auch Mutter sein – und noch immer, nach all den Jahren, empfand sie Schmerz und Trauer bei diesem Gedanken.

Mit einem Seufzer wandte sie dem Kinderglück den Rücken zu. „Oh Gott, Carl“, schrak sie sogleich zusammen, „stehst du schon lange hier?“

„Gerade erst gekommen“, antwortete Carl und als er den Tränenglanz in ihren Augen bemerkte, legte er tröstend seine Hand auf ihre Wange und sagte: „Lass endlich los. Was nicht mehr zu ändern ist, wird sich auch nicht mehr ändern. Lass uns in die Zukunft sehen“, anschließend drehte er sich um und ging in großen Schritten zur Terrasse zurück.

Wortlos fingen sie an zu frühstücken, zwischendurch trafen sich immer wieder ihre Blicke und ihre Gedanken, doch es war alles gesagt, es schien keinen Anknüpfungspunkt mehr zwischen ihnen zu geben, es war, als ob Carl eine unsichtbare und unüberwindbare Mauer zwischen ihnen errichtet hätte die keine Nähe mehr zuließ.

Luisa sah ihn nun direkt an und sagte: „Mein Herz kann dich nicht mehr finden, Carl! Wo bist du? Wo sind unsere Gemeinsamkeiten? Wo ist unser Glück?“

Entsetzt und mit großen Augen sah er seine Frau an, und für einen winzigen Moment, für den Bruchteil einer Sekunde, signalisierte sein Blick: es ist aus, unsere Liebe ist erloschen.

Er brauchte keine Worte, denn auch so hatte sie ihn verstanden, und gerade das war das Besondere an ihrer Liebe.

„Ist das dein Ernst“, fragte sie mit brüchiger Stimme.

Er senkte seine Augenlider und nickte stumm. Dann stand er auf und ging.

Das war’s also, dachte Luisa, wobei ein kalter Schauer ihren Körper zum Beben brachte und ihr Herz mit einer Eiseskälte traf. Mit einem kurzen Kopfnicken hatte er ihrer Ehe den Todesstoß versetzt. Unfähig auch nur noch einen Mucks von sich zu geben, saß sie völlig bewegungsunfähig da, und erst als die Haustür geschlossen wurde, sah sie entsetzt auf. „Nein … Carl … das kannst du mir nicht antun“, rief sie und rannte ihm nach. „Carl, du kannst mich doch nicht einfach hier so hier sitzen lassen! Du bist mir eine Erklärung schuldig! Hörst du?“

Carl stoppte, machte eine Kehrtwende und kam zu ihr zurück. Seine Mimik verriet nichts Gutes.

Luisa wollte nicht hören, dass er sagt: Es ist aus! Und aus ihrer Verzweiflung heraus fing sie an alte Pläne aus ihrer Erinnerungsschatulle hervorzuziehen: „Weißt du noch, was wir uns alles versprochen hatten? Wir wollten gemeinsam alt werden. Wir wollten die ganze Welt erkunden. Wir wollten zum Taj Mahal dem Palast der Liebe nach Indien. Wir wollten nach Argentinien … und … und nach Patagonien, auch wollten wir nach Afrika. Ja, das waren unsere Pläne!“, ihre Stimme bebte vor Angst und Verzweiflung.

„Luisa, bitte“, unterbrach er sie, „ich bin noch nicht soweit, um mit dir darüber zu reden!“

Entsetzt sah sie ihn an, „was heißt du bist noch nicht soweit?“

„Ach, Mist“, fluchte er und strich dabei mit beiden Händen fest über seinen Kopf, „du bist mir mit deiner Fragerei zuvor gekommen.“

„Hast du eine andere Frau kennengelernt?“, fragte sie ihn direkt, „hey, Carl, „das war keine Frage sondern eine Geständnisaufforderung!“

„Nein … ja … ich meine natürlich nicht! Bitte Luisa gib mir ein wenig Bedenkzeit“, flehte er, wobei er plötzlich ziemlich hilflos wirkte.

„Was gibt es da zu bedenken, entweder du hast eine andere Frau oder nicht! Und wenn es so ist, so habe ich, als deine Ehefrau, ein Recht auf die Wahrheit“, entgegnete sie.

„Ja“, antwortete er nun völlig ruhig, „du hast ein Recht auf die Wahrheit, doch die kann ich dir erst dann geben, wenn ich mit mir selbst im Reinen bin, wenn ich selbst weiß was die Wahrheit ist.“

„Feigling! Feigling! Feigling!“, zischte sie ihm entgegen, doch es war sinnlos ihn provozieren zu wollen, er hatte auf stur geschaltet und war unangreifbar geworden.

Wortlos setzte er sich in seinen Wagen und fuhr los.

Fassungslos sah sie ihm nach, dabei strahlte ihr höhnisch die Werbeaufschrift seines Firmenwagens: Wir schaffen Lebensräume für eine sichere Zukunft, entgegen. „Ja, fahr nur“, knurrte sie, „lauf nur vor der Antwort davon, es ist ja bloß unsere Zukunft die du zerstörst.“ Luisa stand noch eine ganze Weile da, sie sah dem davonfahrenden Fahrzeug nach und wusste nicht wie ihr geschah. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos, so einsam und verlassen gefühlt wie in diesem Augenblick. Was könnte sie tun? Wie könnte sie ihn zurückgewinnen? Wie festhalten? Nein, sagte ein inneres Gefühl, Carl hat sich längst von dir gelöst, nur du, du weigerst dich noch die Wahrheit zu akzeptieren. Der Gedanke daran war so niederschmetternd und so verletzend, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Vor Verzweiflung schlug sie die Hände vors Gesicht, du musst dich irgendwie und mit irgendetwas ablenken, schoss es ihr durch den Kopf. Ohne groß zu überlegen schlüpfte sie in Schuhe und Jacke, schnappte ihre Einkaufstasche und machte sich auf Einkaufstour in die Innenstadt.

Später fand sich Luisa auf dem Wochenmarkt wieder. Zwischen einer Vielzahl von einkaufslustigen Menschen, Gemüseständen und fliegenden Händlern versuchte sie sich im Getümmel abzulenken. Einige Marktleute priesen lautstark ihre Produkte an, andere wiederum reichten kleine schmackhafte Delikatessen zum Probieren, und dazwischen sorgten immer wieder Straßenmusikanten mit bekannten Ohrwürmern für gute Laune. Obwohl Luisa keine typische Marktgängerin war, sie auch nur sporadisch hierher kam, so fühlte sie sich am heutigen Morgen, und gerade nach der Auseinandersetzung mit Carl, von der Atmosphäre wohlig aufgenommen. Kurz vor der Einkaufsmeile entdeckte sie ein kleines Café, der Betreiber hatte aufgrund der frühlingshaften Temperaturen bereits Tische und Stühle einladend in der Sonne platziert. Der ideale Platz, um bei einem Latte Macchiato der Musik zu lauschen und das verletzte Seelchen zu trösten. Passend zum traumhaften Wetter und der guten Markt-Stimmung, ertönte irgendwann Sunshine Raggea. Luisa wurde sogleich um fünfundzwanzig Jahre zurückversetzt, sie dachte an ihren ersten gemeinsamen Urlaub auf Jamaika und bekam dabei eine Gänsehaut. Carl sah damals so unverschämt gut aus, er war groß, schlank und braun-gebrannt, seine blauen Augen strahlten mit dem Blau des Meeres um die Wette und seine blonden Locken kringelten sich um seinen Kopf, und wenn er lachte, tauchten auf seinen Wangen süße Grübchen auf, in Erinnerung huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, … und was haben wir gelacht, ging es ihr durch den Kopf. Ja, er wirkte damals wie ein großer Lausejunge der neugierig auf das Leben und die Liebe war – man musste ihn einfach lieb haben. Mit einem kaum hörbaren Herzensseufzer lehnte sich Luisa zurück, sie schlug die Beine übereinander, wippte mit den Füßen nach den Klängen des Raggeas und ließ jene Zeit Revue passieren. Eigentlich war Carl viel zu gutaussehend für sie, doch er hatte sich für sie entschieden, und sie war stolz so einen Traummann an ihrer Seite zu wissen. Die Freiheiten, die sie sich damals im orange-schimmernden Abendlicht zwischen den Bettlaken eines Hotelzimmers auf Jamaika gelobt hatten, wollten sie sich für immer bewahren: keine Vorhaltungen, keine Mutmaßungen, keine Eifersucht und keine Vorschriften! Dies alles hatten sie sich damals, und auch später vor dem Traualtar, hoch und heilig versprochen – und noch heute war sie festentschlossen an ihrem Ehegelübde festzuhalten – sie musste sich nur in Geduld üben, sicherlich war es nur eine vorübergehende Phase von Carl „ja“, seufzte sie voller Zuversicht!

Aus den Augenwinkeln entdeckte sie dann ein langsam vorbeifahrendes Fahrzeug, der Schriftzug: Wir schaffen Lebensräume für eine sichere Zukunft, ließ sie aufblicken. Das war doch Carl! Was macht er hier? Das Fahrzeug parkte genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Luisas Herz pochte vor Aufregung. Leicht geblendet von der Sonne hielt sie schützend die Hand über ihre Augen. Ein Sonnenstrahl traf nun genau auf Carls Lockenschopf – der mittlerweile nicht mehr blond, sondern leicht ergraut war. Er stieg aus dem Wagen und eilte zur Beifahrerseite, um jemandem aus dem Wagen zu helfen. Bitte lass es keine Frau sein, flehte Luisa innerlich. Ups … Entwarnung! Es war keine Frau. Eine erste Erleichterung breitete sich aus. Sie schob den Stuhl etwas zurück, um ihn nun aus sicherer Entfernung, ohne selbst gesehen zu werden, zu beobachten. Er half einem jungen Mann mit einer Halskrause aus dem Wagen, ganz offensichtlich hatte er Mühe alleine auszusteigen, als er es endlich und mit Carls Hilfe geschafft hatte, entdeckte sie, dass sein rechtes Bein in einem Verband steckte. Carl stützte ihn so gut er konnte, gemeinsam humpelten sie dann Richtung einer Arztpraxis für Orthopädie. Luisa dachte sofort an Carls Autounfall und an seine Worte: wir hatten einen Unfall, und als sie nachhakte und wissen wollte, wer denn noch bei ihm im Wagen saß, hatte er seine Aussage revidiert und gesagt, dass er alleine war. Warum hatte er sie belogen? Noch eine ganze Weile stierte sie zur Eingangstür, wobei ihre Beine schon vor Unruhe zuckten und sie geneigt war ihnen in die Praxis zu folgen. Aber wie sollte sie ihr Erscheinen erklären? Nein, jetzt nur keine falschen Schlüsse ziehen und auch keine Mutmaßungen anstellen! Fünfundzwanzig Jahren hatten sie einander blind vertraut und das Vertrauen wollte sie auf gar keinen Fall in Frage stellen. Alles wird sich aufklären, „ja alles“, sagte sie laut, um sich selbst wieder zuversichtlich zu stimmen.

„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte die Kellnerin.

„Was? Ah … nein!“, entgegnete sie irritiert, „ich möchte bitte zahlen“, danach setzte sie ihren Einkaufsbummel fort.

Am frühen Nachmittag war sie um einen dunkelblauen Hosenanzug, ein paar Schuhe und einem neuen Lippenstift reicher, doch dieses Mal wollten all die schönen Sachen sie nicht so recht aufmuntern. Luisa versuchte sich erneut abzulenken und widmete sich der unliebsamen Hausarbeit, ja, und irgendwann ertappte sie sich dabei in Carls Sachen zu stöbern, als sie jedoch nichts finden konnte, fühlte sie sich noch elender als zuvor, „nein, das bist nicht du, das ist unter deinem Niveau“, fluchte sie und wurde dabei wieder an ihr Ehe-Gelübde erinnert.

Lautes Kinderlachen ließ sie schließlich aufblicken. Durchs Fenster konnte sie die beiden Nachbarskinder beobachten, der Vater mähte den Rasen und die Kinder liefen hinterher und warfen den Grünschnitt mit viel Gelächter in die Luft. Kurzentschlossen eilte Luisa in die Küche, griff ins Eisfach und zog drei Eis am Stiel hervor, für einen Moment überlegte sie, ob sie für den Vater auch ein Eis mitnehmen sollte, ach, warum nicht. An der Grenze zum Nachbargrundstück blieb sie stehen. „Huhu … Bella“, rief sie, „habt ihr, du und deine Schwester, Lust auf ein Eis?“

Der Vater stellte den Rasenmäher aus und kam mit bedachten Schritten auf sie zu. „Ich muss mich für den Radau meiner Kinder entschuldigen“, sagte er, „aber die Kleinen sind zurzeit außer Rand und Band, wenn sie zu laut sein sollten, so geben Sie bitte einfach Bescheid.“

„Nein, nein um Himmels willen, ich wollte Bella und ihrer Schwester nur ein Eis anbieten – jedoch nur mit Ihrer Erlaubnis!“

Der Nachbar lachte und schien hoch erfreut über ihre herzliche Geste.

Im nächsten Augenblick kamen die Kleinen auch schon angestürmt, „hier“, lachte Luisa, „Schokoladeneis, das mögt ihr doch sicherlich!“

Beide sahen zunächst ihren Papa an, als der nickte, griffen sie sogleich zu. „Darf ich Ihnen auch eine Erfrischung anbieten? Hier, nehmen Sie! Ich habe noch mehr davon“, spornte sie ihn an.

Er lachte und griff ebenfalls dankend zu. „Ich bin Jasper!“, sagte er.

„Freut mich, ich bin Luisa.“

Eisschleckend und schweigend standen sie einander gegenüber, hin und wieder sahen sie zu den Kindern, die friedlich auf den Treppenstufen der Terrasse saßen und genussvoll ihr Eis schleckten.

„Wie einfach es doch ist sie ruhig zu stellen“, unterbrach der stolze Vater das Schweigen.

Luisa musterte ihr Gegenüber und dachte, das Vater-Sein steht ihm gut und macht ihn dazu noch sehr sympathisch.

Er fühlte sich offenbar von ihren Blicken ermuntert und fragte: „Wohnen Sie schon lange hier?“

„Ja, seit fünfundzwanzig Jahren.“

„Schönes Haus“, bemerkte er eisschleckend, wobei er das Haus nun etwas genauer in Augenschein nahm.

„Mein Mann ist Architekt“, antwortete Luisa, „er hat es nach unseren Bedürfnissen entworfen.“

„Sehr geschmackvoll, sicherlich sieht es innen noch viel schöner aus!“

Luisa nickte, „und Sie sind erst vor Kurzem hier eingezogen – so wie ich das mitbekommen habe. Woher kommen Sie?“

„Aus München!“, entgegnete er.

„Ich habe bisher immer nur Sie und die Mädchen gesehen. Wo ist eigentlich Ihre Frau?“

Für einen Augenblick hielt er mit jeder Bewegung inne, sein Gesicht erstarrte zur Maske, erst das Juchzen seiner Kinder hauchte ihm wieder Leben ein, aus einem tiefen Seufzer heraus antwortete er: „meine Frau? Sie ist tot!“

Luisa hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen, „oh, das … das tut mir leid“, versuchte sie ihren Fauxpas zu entschuldigen, und weiß Gott, sie schämte sich für ihre äußerst unsensible Frage.

„Kein Problem“, entgegnete er prompt, „schließlich können Sie das ja nicht wissen! So, jetzt wird’s aber Zeit, ich wollte mit den Kindern noch in den Zoo – das habe ich ihnen versprochen. Vielen Dank fürs Eis“, lächelte er, „und bis bald.“ Bevor er den Rasenmäher wieder in Betrieb nahm, sagte er: „Vielleicht kann ich mich, mit einem Kaffee oder einem Glas Wein, einmal revanchieren.“ Mit einem freundlichen aber resoluten Kopfnicken ratterte er dann mähend an ihr vorüber.

Luisa winkte den Kindern noch zum Abschied zu, eine Geste die sie auch prompt erwiderten. Die Mitteilung, dass die Kinder keine Mutter mehr hatten und er keine Frau, hatte sie traurig gestimmt und ihre Sorgen geringer werden lassen. Kopfschüttelnd dachte sie, die Welt ist voller Tragödien, und du, du sitzt in einem goldenen Käfig, hast einen Ehemann der dich auf Händen trägt, bist gesund und zergehst vor Selbstmitleid, nur weil dein Mann dir etwas verschweigt. Ja, verdammt, schrie die Gekränkte in ihr, die Unsicherheit, das Nicht-Wissen was mit ihm los ist, macht mich wahnsinnig!

Am späten Nachmittag hatte Carin angerufen und sie gefragt, ob sie Lust und Laune auf eine Vernissage hätte, und da sie von Carl, seit den Morgenstunden, nichts mehr gehört und gesehen hatte, sagte sie spontan zu.

Pünktlich um neunzehn Uhr stand Carin aufgedonnert auf der Türschwelle. Sie trug ein zitronengelbes und sehr enganliegendes Etuikleid, darüber ein apfelgrünes Lederjäckchen und Pumps mit bunten floralen Motiven.

„Wow“, stieß Luisa hervor, wo hast du denn dieses schrille Outfit her?“

„Second-hand-Laden!“, lachte Carin, „alles Designerklamotten, kaum getragen und spottbillig“, während sie wie ein Model an ihr vorüberschritt, drückte sie mit zielsicherer Eleganz Luisas Kinnlade wieder hoch, „nun guck nicht so, dort wo wir hingehen, gibt es keine Normalos – hey, Luisa, das sind alles verrückte Künstler“, fügte sie zur besseren Verständigung an, „da kannst du nicht im konservativen Bänker-Outfit daherkommen“, wobei ihr Blick abschätzend an Luisa herunterglitt. „Hast du denn nichts anderes zum Anziehen?“

Luisa zog die Stirn nachdenklich in Falten und zuckte mit den Achseln, doch bevor sie antworten konnte, stand Carin bereits in Luisas Ankleidezimmer, „na, da hätten wir doch was“, sagte sie mit einem siegessicheren Schmunzeln.

Luisa rümpfte beim Anblick die Nase, „das ist nicht dein Ernst!“, bemerkte Luisa, als Carin ihr den roten Overall vor die Brust hielt, „der sollte eigentlich schon längst in der Altkleidersammlung sein …“

„Also ich finde der ist genau richtig, außerdem steht dir die Farbe, dazu … warte …“, dann griff sie – Luisa hatte es schon befürchtet – zu der pinkfarbenen Lederjacke, „ja, die ist perfekt“, jubelte sie, „so, und nun will ich, dass du dich beeilst, sonst verpassen wir noch die Begrüßung des Künstlers, und das wäre ein No-Go!“

„Die Schuhe darf ich mir aber selbst aussuchen“, doch zu spät, Carin hielt ihr bereits die pinkfarbenen Sneakers entgegen, augenzwinkernd und mit den Worten, „die sind perfekt und dazu noch bequem!“ – denn sie wusste, dass Luisa Komfort-Treter bevorzugte.

Und ja, Carin hatte wie immer Recht! Mit ihrem flippigen Äußeren gingen sie, sowohl mit der Kleidung der geladenen Gäste, als auch mit dem Ambiente völlig d’accord. Seit Jahren war Luisa das erste Mal wieder auf einer Vernissage und jetzt war ihr auch wieder klar, warum sie solche Veranstaltung immer gemieden hatte: die Gäste schwebten in Sphären die ihr völlig fremd waren, und so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte den Erklärungen des Künstlers nicht folgen. Carin schien sich jedenfalls zu amüsieren, sie gab sich interessiert, plauderte mit irgendwelchen ausgeflippten Leuten aus der Kunstszene, stopfte Häppchen in sich hinein und süffelte dazu den teuren Champagner. Luisa schlenderte derweil von Bild zu Bild, und während sie sich krampfhaft, auch verunsichert, an ihrem Champagner-Glas festhielt, beobachtete sie die Kunstinteressierten wie sie sich beim Betrachten der Bilder verhielten: manche neigten den Kopf zur Seite, um vielleicht aus einer anderen Perspektive etwas erkennen zu können; andere wiederum lieferten sich geradezu ein Duell im Kunst-Jargon. Ja, und dann gab es noch die ewig Neugierigen, denen es nur ums Sehen und Gesehen-Werden ging.

Plötzlich räusperte sich jemand neben ihr, „Pardon“, entschuldigte er sich, „das ist die schlechte Luft.“

Luisa nickte ihm nur stumm zu, denn aus den Augenwinkeln konnte sie bereits erkennen, dass er ein Sonderling war – einer dieser Typen dem man nicht wirklich zu nahe kommen wollte.

Ihr bestätigendes Kopfnicken nahm er jedoch sogleich zum Anlass weiterzureden. „Wissen Sie“, sagte er, „zeitgenössische Kunst ist ja heutzutage eine Art Religion für Atheisten geworden, sobald der Mensch erkannt hat, dass er nur ein Zufallsprodukt auf dieser Welt ist, muss er sich ablenken.“ Während der aufdringliche Fremde, mit einer unterschwelligen Arroganz, das Gemälde vor ihnen in Augenschein nahm, dachte Luisa: einfach ignorieren, nur nicht antworten, dann wird er schon gehen.

Jedoch unbeirrt von ihrer Zurückhaltung redete er weiter: „dabei ist für viele Akteure der Kunstwelt, die Kunst so etwas wie ein existenzieller Weg geworden, um endlich ihrem verpfuschten Leben wieder einen Sinn zu geben.“ Unvermittelt machte er dann einen Schritt zurück, um sich nun das Bild auf Distanz anzusehen, „viel zu grelle Farben“, kritisierte er mit nachdenklich gespitzten Lippen, „es heißt, dass wir Farben mit Geschmack assoziieren … oder was meinen Sie?“ – wobei sie nun seinen Blick unangenehm im Rücken verspüren konnte.

Luisa sah an ihrer farbenfrohe Kleidung herunter und bereute, dass sie nicht ihr blaues Bänker-Outfit anbehalten hatte – da wäre ihr diese Anmache erspart geblieben!

„Sehen sie den Apfel auf dem Bild“, fuhr er zeitversetzt und mit einem unangenehmen Unterton in der Stimme fort, „er steht in der christlichen Welt für die Versuchung … die Verführung … und die Vertreibung aus dem Paradies …“

Luisa spürte bereits seinen heißen Atem in ihrem Genick, bitte nicht, bibberte sie innerlich, doch zu spät, sein übergroßes Riechorgan hatte bereits leichte Beute in ihr gewittert, „und die Farbe Rot steht für die Liebe“, fuhr er nun leise und schweratmend fort.

Seine Aufdringlichkeit katapultierte Luisa sogleich in die Hilflosigkeit.

Sich seiner Beute schon sicher, stand er plötzlich ganz dicht hinter ihr, langsam wanderte sein Blick über ihre Schultern in ihr Dekolleté, „komm, lass uns gehen“, flüsterte er und schnalzte dabei mit seiner Zunge.

„Hey, zisch ab, fremdes Terrain!“, hörte sie plötzlich Carins Stimme, die ihn wie einen räudigen Straßenköder davon scheuchte.

„Ach, Carin“, kam es erleichtert über Luisas Lippen, „du hast mich gerettet!“

„Keine Sorge, das ist nur ein harmloser Spinner!“, tröstete sie ihre Freundin, man nennt ihn auch Johannes der Täufer, er ist auf fast jeder Vernissage anzutreffen und immer baggert er Frauen mit der gleichen Masche an. „Nicht darüber nachdenken, einfach ignorieren“, sagte sie, „er ist nicht ganz dicht da oben“, wobei sie mit dem Finger an ihre Schläfe tippte.

Carin legte ihren Arm um Luisas Schulter und seufzte: „so, ich glaube ich habe genug“, wobei sie einen kleinen Rülpser nicht mehr unterdrücken konnte, „ups“, lachte sie, „sorry, zu viel Champus – wir können!“

„Gott sei Dank“, seufzte Luisa, „ich dachte schon der Abend geht nie zu Ende.“

„Ja hat es dir denn nicht gefallen?“, fragte Carin mit enttäuschter Miene.

Hinter vorgehaltener Hand flüsterte Luisa: „also eines weiß ich mit Sicherheit: Kubismus ist nichts für mich.

„Barockmalerei ist da wohl eher dein Ding“, lachte Carin.

„Pssst“, machte Luisa, „nicht so laut. Na, wenigstens kann man da etwas erkennen!“

„Ja, aber so was von“, schmunzelte Carin, „da muss ich immer an unser Rubensgirl: Paulinchen, denken“, wobei sie mit den Händen einen wohlportionierten Frauenkörper nachformte und sich dabei sehr witzig vorkam.

Kopfschüttelnd sagte Luisa: „Du bist unmöglich! Weißt du das? Außerdem bist du betrunken. Komm, lass uns ein Taxi ordern.“

„Moment, ich muss mich noch verabschieden …“

„Nix da, wir machen heute mal den Abgang auf polnisch“, flüsterte Luisa und schupste Carin Richtung Ausgang.

„Okay, okay, okay aber nur, wenn‘s bei dir noch einen Absacker gibt.“

Aus dem Absacker wurden zwei Stunden, sie leerten eine Flasche Rotwein und redeten dabei über Gott, die Welt, den Sex und die Männer. Carin schwelgte irgendwann in Erinnerung an ihre Schulzeit und schwärmte von einem Florian aus ihrer siebten Klasse. „Mein Gott, der Florian“, seufzte sie, dann ließ sie sich mit einem milden Lächeln und einem verträumten Blick rücklings auf die Couch fallen.

„Wir hatten einen Tom“, bemerkte Luisa naserümpfend, wobei einige Szenen aus jener Zeit vor ihrem geistigen Auge vorüberzogen.

Und wenn sie heute darüber nachdachte, so fand sie ihn nur deshalb so toll, weil die anderen Mädels ihn unwiderstehlich fanden – eigentlich fand sie ihn blöd.

„Damals ging es den Jungs doch nur um Sex“, bemerkte Luisa sich erinnernd.

„… und den Mädels ums Verliebt-Sein“, fügte Carin hinzu. „Erst viel, viel später merkt man worauf es im Leben wirklich ankommt: es kommt auf die Liebe an“, hauchte Carin, „die uneigennützige und wahre Liebe“, dann nahm sie ein kleines Kissen, drückte es auf ihr Herz und schwelgte weiter in Erinnerungen.

Luisa sah nun erwartungsvoll zu ihr hin.

„Damals, als ich meine Lehre in einer Londoner Rechtsanwaltskanzlei begonnen hatte, ist mir Steven – er war der Sohn des Chefs – über den Weg gelaufen, es hat Klick gemacht und ich war sofort verliebt in ihn. Ja, ja die Liebe“, seufzte sie, dabei drückte sie das Kissen noch ein wenig fester an ihr Herz.

„Du hast nie viel über dein Eheleben berichtet. Warum eigentlich nicht?“, hakte Luisa nach.

„Aus Scham! Wer gibt schon gerne Niederlagen zu.“ Nach einem kurzen nachdenklichen Schweigen fing sie zu erzählen an: „Wir waren frisch verheiratet und sooo verliebt“, schwärmte sie, „doch das Glück war nur von kurzer Dauer. Einige Wochen später erlag Stevens Vater einem Herzinfarkt und Steven musste die Kanzlei übernehmen. Tja, und damit fing das ganze Drama an: er stürzte sich in die Arme der Justitia und wurde zum Workaholic. Irgendwann stieg er dann in das Leben der High-Society ein, es folgten Geschäftsessen mit Großkapitalisten, wilde Partys, Segelturns und Golf-Reisen, und dann kam was kommen musste: Frauen, Frauen und nochmals Frauen, dazu reichlich Alkohol! Auch, wenn ich damals gewollt hätte, ich hätte ihn nicht einfach verlassen können, denn er liebte seine Kinder abgöttisch und sie liebten ihn, also harrte ich einige Jahre aus. Tsss … und trotz seines exzessiven Lebensstils wuchs die Kanzlei. Ja, und eines Tages, als er von einem angeblichen Geschäftsessen – in einer Parfümwolke – nach Hause kam, habe ich ihm eine Szene gemacht und ihm angedroht ihn mit den Kindern zu verlassen“, nachsinnierend an jene Zeit hielt sie kurz inne, „daraufhin hat er mich geohrfeigt, mich gewürgt und mir gedroht, er sagte: wenn du mir die Kinder nimmst bist du tot!“ In Erinnerung löste sich eine erste Träne aus ihren Augen, „am nächsten Morgen fand ich dann auf dem Frühstückstisch einen Zettel worauf stand: „Wenn du gehen möchtest, nur zu, ich werde dich nicht aufhalten! Mein Ältester, er stand kurz vor der Volljährigkeit, stand hinter mir und sagte: „Du musst deinem Leben endlich einen Sinn geben, Mum, kümmere dich nicht um uns, wir kommen durch. Dann umarmten wir uns und weinten.“

Luisa legte tröstend die Hand auf ihre Schulter.

Carin lachte und weinte zugleich, „tja, Traummänner fallen eben nicht vom Himmel, alles hat zwei Seiten im Leben!“

„Wem sagst du das“, sagte Luisa und dachte dabei an Carl.

Carin trocknete ihre Tränen und fragte: „Was ist eigentlich mit deiner Ehe?“

„Wieso? Was soll denn mit meiner Ehe sein?“, stutzte Luisa.

„Na, weil du früher mehr über Carl und über eure Gemeinsamkeiten geplaudert hast. Nun, und in letzter Zeit ist Funkstille.“

„Carl hat … er ist … ach, ich weiß es doch auch nicht, er sagt, dass er Zeit brauche“, kam es zögerlich über Luisas Lippen, wobei ihre eigenen Worte sie melancholisch stimmten.

Carin setzte sich aufrecht, legte ihre Arme um sie und sagte: „Ach Schätzilein, komm, lass dich einmal ganz feste drücken.“

Nach einer Zeit des freundschaftlichen Kuschelns drückte Luisa ihre Freundin wieder auf Distanz, „kannst du mir sagen was ich tun soll? Ich liebe ihn noch immer, außerdem haben wir uns das Versprechen gegeben in guten wie in schlechten Zeiten zusammenzuhalten.“

Carin rutschte etwas auf Abstand, ihre Mimik wurde ernst, dann sagte sie: „Ich habe Carl mit einem Mann gesehen!“

„Klar“, antwortete Luisa, „seine Geschäftspartner sind überwiegend Männer – ist so üblich in den Gewerken mit denen er zu tun hat.

„Nein, nicht so …“

„Was meinst du mit nicht so?“, fragte sie verdutzt.

„Grrr … hätte ich doch bloß nichts gesagt“, fluchte Carin, „vielleicht ist auch alles ganz anders. Also vergiss einfach was ich gesagt habe.“

„Du meinst Carl ist anders!“, lachte Luisa, „nein, nein, da musst du etwas falsch interpretiert haben! Glaub mir, Carl ist durch und durch ein Hetero – schließlich muss ich es ja wissen, denn ich bin seit fünfundzwanzig Jahren mit ihm verheiratet und wir haben noch immer …“

„… Sex!“, ergänzte Carin, „bist du dir sicher?“

Luisa musste lange überlegen, wann sie das letzte Mal Sex hatten, und in der Tat, das waren schon einige Monate her.

Plötzlich ging die Tür auf und Carl stand im Wohnzimmer. „Hallo ihr Zwei“, im nächsten Moment stand er hinter den beiden, er gab Carin die Hand und sagte: „na, lange nicht gesehen!“

Wie aus einer fremden Welt entstiegen stierten die beiden Frauen ihn an. Und nach dem vorangegangenen Gespräch sahen sie ihn nun mit ganz anderen Augen.

„Ist was?“, fragte er, „warum stiert ihr mich so an? Ahhh, verstehe: Frauengespräche. Bin wohl im falschen Augenblick gekommen. Lasst euch nicht stören. Bin schon wieder weg! Gute Nacht!“ Im nächsten Moment war er auch schon auf dem Weg nach oben.

„Gute Idee“, bemerkte Carin, „ich glaube ich sollte meine müden Glieder ebenfalls ins Bettchen bringen“, auf der Türschwelle blieb sie nochmals stehen, sie schenkte Luisa einen langen Blick und sagte: „Vergiss einfach was ich gesagt habe, sicherlich war‘s ein Irrtum. Gute Nacht. Und bis Montag.“

Mit dem Schließen der Tür fing es in Luisas Kopf zu rattern an. Na und, sie hat Carl mit einem Mann gesehen! Was soll daran verwerflich sein? Das hat doch gar nichts zu bedeuten. Schließlich hat sie ihn heute Morgen auch mit einem Mann gesehen! Auch das war harmlos – oder etwa nicht? „Verfluchter Mist, wenn er nicht bald mit mir redet werde ich noch verrückt!“, knurrte sie und flüchtete ins Bad.

Ein wenig später lag sie neben Carl im Bett, sein Atem war ruhig und gleichmäßig. Es war eine helle Vollmondnacht und ihr Blick folgte den Konturen seines Gesichts. Während sie ihn betrachtete, fragte sie sich, wem dieser Mann – der gerade neben ihr in seinen Träumen versank – noch einen Platz einräumte? War es eine andere Frau? Oder gar ein anderer Mann? Dass die Wege der Liebe vielfältig und mitunter verschlungen waren, war ihr schon immer bewusst, doch zu ergründen, über welch unwegsames Gelände die geheimen Wege der Seele ihres Mannes führten, stand nie in Frage. Zärtlich streifte sie über seinen Kopf ohne ihn dabei berühren zu wollen. Ob sie wohl noch ein Plätzchen in seinen Träumen hatte? Plötzlich überkam sie das Bedürfnis sich an ihn zu kuscheln – so wie früher. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, rutschte sie unter seine Decke, er drehte sich zu ihr um und legte sein linkes Bein und seinen linken Arm über sie – genauso wie er es früher immer tat, und so verbrachten sie die restliche Nacht.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, lag sie noch immer in der gleichen Position in seinem Bett, aber wo war Carl? Sofort war die Angst ihn zu verlieren wieder vordergründig, sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und lauschte in die Stille. Aus der Küche drangen kleine spitze Geräusche, sicherlich war er dabei das Frühstück vorzubereiten – die Gelegenheit mit ihm zu reden, schoss es ihr durch den Kopf. Im Nu war sie aus dem Bett. Völlig steif vom unbequemen Liegen stand sie ein wenig später im Bad. Die ganze Nacht hatte sie sich kaum gewagt zu rühren, sie wollte dieses warme Geborgenheitsgefühl mit Carl so lange wie nur irgend möglich festhalten. „Mein Güte“, durchfuhr es sie beim Anblick ihres Spiegelbildes, du solltest mehr schlafen und weniger trinken. Mit zitternden Fingern tastete sie über ihre Augenringe, sie spitzte ihre Lippen und kontrollierte dabei die kleinen Fältchen um ihren Mund.

„Wir werden alle nicht jünger“, sagte Carl der nun auf der Türschwelle stand und sie beobachtete, „kommst du? Das Frühstück ist fertig!“

„… und deshalb hast du dir auch eine Jüngere gesucht – oder wie?“, fuhr sie ihn erschrocken an.

Und wie immer, gab er sich gelassen und überhörte ihren Angriff.

Als sie später die Küche betrat und sie den schön gedeckten Frühstückstisch sah, hätte sie weinen mögen, denn sie wusste, dass das der Auftakt zu etwas war, was sie nicht mehr beeinflussen konnte.

Wortlos fingen sie an zu frühstücken. Luisa sah zu wie er sein Frühstücksei aß, fast ohne zu kauen hatte er es verschlungen, ebenso sein Toastbrot.

Irgendwann sah sie ihn direkt an, „ist das jetzt unsere Henkersmahlzeit?“, fragte sie.

Er wusste nicht was er tun oder sagen sollte, er senkte verlegen seine Augenlider und saß für eine ganze Weile bewegungslos und stumm da.

„Nun brich mir endlich das Herz“, fuhr sie ihn an, „die Stille, die Ungewissheit ist doch für uns beide unerträglich.“

Mit Tränenglanz in den Augen sah er sie nun an, „ich liebe dich“, sagte er mit bebender Stimme, „aber ich kann nicht mehr mit dir zusammen leben.“

Dies war nun also das Unglück ihres Lebens – ihre Liebe – die sie für den Stützpfeiler ihres Lebens gehalten hatte, war nichts als ein Trugschluss, eine Spiegelung im Wasser.

„Wie kannst du mich lieben, aber nicht mehr mit mir leben wollen?“, fragte sie entsetzt, „das verstehe ich nicht. Ich verstehe dich nicht.“

Carl saß noch immer regungslos da und starrte sie an. In seinen Augen stand pure Verzweiflung.

„Kenne ich sie?“, fragte Luisa, „ist sie jünger? Ach, was frage ich, natürlich ist sie jünger!“

Kopfschüttelnd sah er sie an, dann schlug er die Hände vors Gesicht und sagte: „Wenn es doch nur so einfach wäre.“

Plötzlich fiel es Luisa wie Schuppen von den Augen. Sie erinnerte sich an Carins Worte: ich habe ihn mit einem Mann gesehen. Der Gedanke daran war so ungeheuerlich, dass es sie sogleich in die Senkrechte trieb, „es ist keine Frau!“, fuhr sie ihn an. „Stimmt’s oder habe ich Recht!“

Ihre eigenen Worte bohrten sich tief in ihr Herz.

„Bitte sag, dass das nicht wahr ist!“

Langsam zog er die Hände von seinem Gesicht, „es tut mir unendlich leid, glaub mir …“ dann konnte er nur noch schweigend mit den Achseln zucken.

„Nein, nein!“, entsetzte sie sich, „du bist doch nicht so einer, „nein“, wiederholte sie kopfschüttelnd, „das hätte ich doch fühlen müssen! Nein, auf gar keinen Fall“, lachte sie bitter auf, „ich kann mich doch nicht so in dir getäuscht haben!“

Für einen Moment stierten sie einander wie Kaninchen und Schlange an.

Dann stürmte sie auf ihn zu, packte ihn bei den Schultern und rüttelte ihn, „Carl, komm zu dir! Bitte sag, dass das nicht wahr ist! Hörst du! Wir haben uns doch eine Zukunft aufgebaut, das kannst du doch nicht so einfach zerstören! Dazu hast du kein Recht! Mein Gott, C a a a r l !“, schrie sie.

Er saß nur da und starrte sie mit leeren Augen an.

Ein kurzer gellender Schrei löste sich aus ihrer Kehle, zeitgleich fegte sie mit ausgestrecktem Arm über den Tisch – es schepperte, klirrte und krachte. Niemals in ihrem Leben fühlte sie sich so verletzt, so angreifbar wie in diesem Moment. Sie sackte zusammen und kniete nun auf dem Boden, und während ihr Blick sich zwischen den Scherben verlor, stand Carl auf und ging, sie spürte noch seine Hand die zärtlich über ihren Rücken glitt, dabei war ihr, als würde er gleichsam ihr Herz mitnehmen. Wie ein Häufchen Elend saß sie bewegungsunfähig vor den Scherben – vor den Scherben ihres Lebens.

Irgendwann hörte sie Carl sagen: „Es ist besser, wenn ich vorübergehend in die Wohnung über meinem Büro ziehe …“

„Das kannst du mir nicht antun! Du kannst mich doch nicht so zurücklassen“, hörte sie sich selbst mit fremder Stimme sagen: „Nicht so … Carl!“

Doch er wollte sie nicht mehr hören und schon gar nicht trösten. Auf leisen Sohlen schlich sich die Liebe ihres Lebens zur Tür hinaus.

Im Schatten der Erinnerung

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