Читать книгу BonJour Liebes Leben - Rose Hardt - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеCharlotte Grafenberg hatte ihren Wagen in einer Seitenstraße des Waldfriedhofs geparkt, genau an der Stelle, wie sie es nun schon seit einem Jahr tat, seit dem Tag als Gustav Grafenberg hier beerdigt wurde. Es war ein lauer Frühlingstag und es dämmerte bereits. In den Händen hielt sie eine Kerze und eine Streichholzschachtel, es war schon fast zum Ritual geworden, dass sie jeden zweiten Tag eine Kerze an sein Grab brachte. Doch heute stellte sich ihr die Frage warum sie das eigentlich tat. Ja, warum? Unvermittelt blieb sie stehen, sie wusste nicht wieso, aber sie war plötzlich der Routine müde geworden. Gleich neben dem Eingangsportal zum Friedhof entdeckte sie eine Holzbank mit einem kleinen Messingschild auf dem in schwungvoller Schrift geschrieben stand: „Ich habe gelebt und den Lauf, den das Schicksal gegeben, vollendet“ (Lucius Annaeus Seneca). Sinnierend, wie sie das Zitat wohl interpretieren sollte, setzte sie sich seitlich auf die Kante der Bank – wobei ihr das Schild mit dem Spruch nicht ganz geheuer erschien. Im nächsten Moment ging eine ältere Dame ganz nah an ihr vorüber, in ihren Händen trug sie ebenfalls eine Kerze. Die Dame grüßte sie und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, wobei in ihrem Gesicht eine eigenartige Mischung aus Demut, Bitternis und Zufriedenheit lag. Warum lächelt sie dir zu?, ging es Charlotte durch den Kopf. Nur weil ich hier sitze? Oder weil ich wie sie Witwe bin? Erneut las sie das Zitat. Klar!, kam es ihr ernüchternd in den Sinn. Wir führen das gleiche Schicksal mit uns und sie, sie fühlt sich mit dir solidarisch. Nachdenklich sah sie der alten Dame nach und jetzt erst bemerkte sie ihren schleppenden, leicht gebeugten Gang. Mit Sicherheit lastet noch immer ihr ganzes Eheleben: das jahrelange Schuften im Haushalt, Job, Kindererziehung und weiß Gott was noch alles auf ihren Schultern und nur, weil sie vielleicht ihrem Mann, über den Tod hinaus, noch Dankbarkeit zu schulden glaubt, stellt sie ihm tagtäglich eine Kerze auf sein Grab.
Mit bestürzender Deutlichkeit wurde ihr mit einem Male ihr eigenes Leben vor Augen geführt.
Ihr Blick schweifte erneut über das Zitat, dann zur Kerze in ihren Händen und letztendlich wieder zur alten Dame, die unter der Last ihrer Vergangenheit, fast zu zerbrechen drohte. Nein, sträubte sich etwas in ihr, keinesfalls möchte ich mich ihr verbunden fühlen und erst recht nicht die Hälfte meines Lebens hier auf dem Friedhof verbringen. „Nein!“, kam es leise und resolut über ihre Lippen, „alles hat schließlich mal ein Ende“, schob sie zähneknirschend hinterher. Abrupt stand sie auf, strich mit beiden Händen fest über ihre Kleidung und streifte somit ihre Vergangenheit, zumindest symbolisch, ab. Fest entschlossen ein neues Leben zu beginnen marschierte sie mit energischen Schritten zu Gustavs Grab. Sie zündete die Kerze an, stellte sie in die dafür vorgesehene Grableuchte, atmete tief durch und sagte laut: „So, mein lieber Gustav, das ist die letzte Kerze die ich dir bringe – genieße sie also! Das Ende unserer Ehe begann schon zu Lebzeiten, um es genauer zu sagen, mit deinen vielen Affären und hat sich schon viel zu lange hingezogen, als dass es jetzt noch eine Fortführung geben würde. Ab sofort werde ich meine regelmäßigen Besuche einstellen! Nur, damit du Bescheid weißt!“ Danach folgte ein befreiender Seufzer der ihr ganzes Eheleben zu beinhalten schien – endlich war es vollbracht! Nach all den Jahren hatte sie das erste Mal die Stimme gegen ihn, den großen und dominanten Gustav Grafenberg, erhoben. Und gerade als sie ihm gedanklich noch einige klärende Worte hinterherschicken wollte, hörte sie ihren Namen.
„Charly? Ich meine, Charlotte? Bist du es? Bist du es wirklich?“
Charlotte sah sich erstaunt um und entdeckte einen Mann, der in der zweiten Grabreihe hinter ihr stand und erwartungsvoll zu ihr hinsah. Oh, er wird dir doch nicht zugehört haben, schoss es ihr durch den Kopf, in Erinnerung ihrer Worte zog sogleich eine leichte Verlegenheitsröte über ihr Gesicht.
„Doch, du bist es!“, sagte der Mann und schien auch noch sichtlich erfreut sie zu sehen.
Während sie ihn erst einmal kritisch beäugte, ihn systematisch nach Wiedererkennungsmalen abscannte, lief ihr Langzeitgedächtnis bereits auf Hochtouren, verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern. War das etwa …? Nein! … Oder doch? … NIEMALS!
Aber der Mann schien es besser zu wissen. Er hielt die Hand an seine linke Wange, lachte laut und sagte: „Ja verflucht noch mal – du bist es wirklich! Ich fass es nicht. Das Letzte an das ich mich erinnern kann ist deine schallende Ohrfeige bei unserem Abschied.“ Während er sich zwischen den Grabsteinen zu ihr hindurchschlängelte, fügte er augenzwinkernd an: „Wow … und die war nicht von schlechten Eltern.“
Und just in dem Moment, als er vor ihr stand, kam ihre Erinnerung zurück. „Henning … der Henning Bleibtreu?“, fragte sie, und mit dem zweiten Blick in seine dunklen, fast schwarzen Augen spürte sie tief in ihrem Herzen einen kleinen, stechenden Schmerz des Wiedererkennens. Sie wusste nicht wieso, aber unbewusst trat sie sofort einen Schritt zurück, um eine gebührende Distanz zwischen ihnen zu schaffen.
„Ja, genau, der Henning“, antwortete er mit einem schelmischen Grinsen.
„Du Schuft du … na, du traust dich was“, gab sie barsch zurück. Zeitgleich sieht sie vor ihrem geistigen Auge wie sie ihn ohrfeigt. Aber warum? Weshalb hatte sie ihm damals eigentlich eine gescheuert? Bevor sie weiter in ihrer Erinnerungsschatulle stöbern konnte, hatte er das Wort wieder ergriffen.
„Ja, ja … ich weiß, du sagtest damals, dass ich dir nie wieder unter die Augen treten soll. Dabei war alles, aber wirklich alles ganz anders …“
Charlotte unterbrach ihn mit einem kurzen Verlegenheitslachen und sagte: „Ja, jetzt … jetzt weiß ich’s wieder! Ich erinnere mich aber auch, dass du das öfter sagtest“, nachdenklich sah sie ihn an, „hm … ich glaube mich sogar zu erinnern, dass es dein Standardspruch war,“ und mit dieser Aussage kehrte sukzessive ihr Erinnerungsvermögen – samt dem ohnmächtigen Gefühl des Betrogen-Werdens, auch des Gekränkt-Seins – an die damalige Zeit zurück und ohne, dass sie es wollte, schoss eine bissige Bemerkung aus ihr heraus: „Aber sag, mein lieber Henning Bleibtreu, liebst du noch immer die Vielweiberei oder …“
„… ich, meine liebe Charly, ich liebe nur noch Greta“, unterbrach er sie augenzwinkernd, dann steckte er Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und pfiff.
Charlotte sah sich neugierig um, doch es regte sich nichts.
„Greta, komm her“, befahl er nun in einem scharfen Ton.
Endlich kam die besagte Greta hinter einem Grabstein hervorgewackelt. Es war eine in die Jahre gekommene Hundedame, ein grau-brauner und zerzauster Rauhaardackel, der schon beim Anblick Mitleid erregte.
„Darf ich vorstellen, das ist Greta, das einzige Wesen“ mitten im Satz stoppte er, Trauer überzog sein zuvor noch lachendes Gesicht „das mir noch geblieben ist“, fügte er schließlich bedächtig und leise an.
Obwohl Charlotte seinen Stimmungswechsel registriert hatte, musste sie beim Anblick der Hundedame schmunzeln. Ja, keine Frage, Greta war eine bedauernswerte Kreatur. Während ihr Blick zwischen den beiden hin und her wechselte, dachte Charlotte – nicht ganz ohne Ironie: wie ähnlich sich doch Herr und Hund sind, sowohl Hennings Frisur als auch seine Haarfarbe – die zwischenzeitlich mehr grau als braun war – ähnelte Gretas Fell, und beide schienen vom Leben nicht gerade verwöhnt worden zu sein: seine Kleidung war nicht mehr ganz aktuell, der braune Lederblouson wirkte zwar jugendlich, aber stark abgetragen, nur das Hemd war blütenweiß und ließ das Braun seiner Haut noch intensiver erscheinen. Ach Gottchen! Verwaschene Jeans trägt er noch immer, stellte sie nun mit einem süffisanten Lächeln fest. Und je länger sie ihn in Augenschein nahm, desto deutlicher traten Bilder aus der Vergangenheit hervor, mit ihnen erwuchs Rache – Rache für das, was er ihr damals angetan hatte.
„So ist das, lieber Henning“, sagte sie, „wenn Mann sich nicht für eine Frau entscheiden kann“, ihr Blick wechselte zur Hundedame, „dann kommt Mann zwangsläufig auf den Hund. Ihr seid wirklich ein entzückendes Paar!“, fügte sie verächtlich hinzu.
Seinem gedanklichen Tief wieder entrissen, konterte er mit nachsichtigem Schmunzeln: „Ja, ja … ganz die alte Charly … und wie immer sehr charmant! Wenn ich mich recht erinnere, fand ich deinen Zynismus schon damals sehr prickelnd.“ Dann trat er einen Schritt zurück, musterte sie ebenfalls vom Kopf bis zu den Füßen und sagte: „Du, meine liebe Charly, das kann ich dir ja heute sagen, warst die einzige Frau, die mich mit wenigen Worten, manchmal auch nur mit einem herablassenden Blick in den Wahnsinn treiben konnte.“
Sie lächelte erneut und kramte währenddessen noch etwas tiefer in ihrer Vergangenheit, und je intensiver sie in dort stöberte, desto aufdringlicher stolzierten längst vergessene Gefühle durch sie hindurch, erinnerten sie an das, was man damals Liebe nannte.
„Gut siehst du aus! Wie eine Dame, die es zu etwas gebracht hat“, stellte er bewundernd fest, dabei glitt sein Blick nochmals an ihr herunter, diesmal bewusst langsamer, „sehr gut sogar“, schob er mit einem Augenzwinkern hinterher.
Leichte Röte stieg ihr zu Kopf. Sie wusste nicht wieso, aber sie fühlte sich irgendwie nackt unter seiner Beschauung. „Danke für die Blumen“, antwortete sie irritiert, wobei bereits jede Sehne ihres Körpers leicht vibrierte, auch in ihrem Oberstübchen herrschte bereits Chaos, und zu allem Überfluss gesellten sich nun auch noch poetische Zeilen aus Rilkes Liebes-Lied hinzu:
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
Ja, damals war es ihr Lieblingsgedicht und fast, ja fast wären ihr die Zeilen über die Lippen gesprudelt. Doch im letzten Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie vor Gustavs Grab standen. Großer Gott, ich muss hier weg, schoss es ihr durch den Kopf, wobei die neue Situation ihrem eh schon aufgekratzten Inneren Zündstoff gab.
Doch dem nicht genug. Eine ganze Weile stand er regungslos da und sah sie mit großen Augen verzückt an, er sah sie so an, als ob er sein Glück – sie, endlich, nach all den Jahren wiederzusehen – noch immer nicht fassen konnte.
„Was ist?“, fragte sie und kramte verlegen in ihrer Handtasche. „Warum siehst du mich so an?“, hakte sie schließlich nach, wobei ihr Herz – ganz im Gegensatz zu ihrem Kopf – bereits leise jubilierte.
Mit einem bezaubernden Lächeln antwortete er: „Sieh an, Komplimente verunsichern dich noch immer. Süß!“
Charlotte fühlte sich von ihm, von seiner Art wie er so dastand, auch von dem was er sagte, völlig überrumpelt und so brach es nur schnippisch aus ihr heraus: „Nun, wie du weißt, mein lieber Henning, bekommt jeder das im Leben, was er verdient. Aber was machst du eigentlich hier?“, fragte sie das Thema wechselnd, „wenn ich das überhaupt fragen darf!“
„Du darfst. Was ich hier mache?“, wiederholte er verwundert. „Ja weißt du das denn nicht? Mein Vater verstarb im letzten Jahr und liegt genau hinter …“, mitten im Satz stoppte er, um die Inschrift auf dem Grabstein zu ihren Füßen zu lesen: „Gustav Grafenberg“, fragend sah er sie an. „Wer war Gustav Grafenberg?“
„Er? … Ach, er war mein treusorgender Ehemann. Wobei treusorgend auf viele Arten interpretiert werden kann“, fügte sie ironisch leise, vielmehr für sich an, wobei ihr Gustavs ausschweifendes Liebesleben wieder in den Sinn kam, und just in diesem Moment verspürte sie erneut Rachegelüste – diesmal gegen ihren Ehemann.
Rache, die sie zu seinen Lebzeiten nur gedanklich ausüben durfte, da diese, bevor sie sich zur vollen Blüte entwickeln konnte, schon im Vorfeld durch das diplomatische Geschick ihrer Schwiegermutter heruntergespielt wurde.
Mittlerweile hatte Greta neben Gustavs Grab ihre Notdurft verrichtet. Eine biologische Regung, die Greta in diesem Moment, Pluspunkte einbrachte.
„Brav Greta“, kam es in Anbetracht der immer noch sehr lebhaften Erinnerung an Gustavs Affären und überhaupt an all das was er ihr angetan hatte, über die Lippen, „hm, offensichtlich ist sie ein sehr sensibles Wesen, das Gedanken lesen kann“, ergänzte sie ironisch.
Henning verstand, grinste übers ganze Gesicht und sagte: „Jaaa das ist meine Charly, so wie ich sie damals liebte.“
Diese Aussage brachte sie nun endgültig auf die Palme. Was erlaubt er sich!
Mit vorgespieltem Erstaunen fragte sie: „Oh, wir liebten uns? Nein, das kann nicht sein … das, lieber Henning … das wüsste ich!“
Doch sie wusste, dass es die Wahrheit war. Mit seiner Aussage war alles wieder präsent! Es war als hätte er das Liebesband, das beide einst verbunden hatte, wieder zusammengeführt.
Ein warmes, kribbelndes Gefühl kroch langsam und beharrlich in ihr hoch.
Ich muss hier weg, weg von dem Liebesgesäusel und seinen Anspielungen, weg von längst vergangenen Gefühlen, weg von – dann fiel ihr Blick auf Gustavs Grab – auch weg von ihm, weg von all den verletzenden Erinnerungen.
Nach einer raschen Bekreuzigung des Grabes warf sie den Kopf in den Nacken und eilte Richtung Ausgang.
Ganz offensichtlich hatte sie nun endgültig Hennings Interesse geweckt, denn er folgte ihr auf dem Fuße und war dabei bemüht die Konversation weiter aufrechtzuerhalten. „Und du, Charly“, rief er der Flüchtenden hinterher „du bist also Witwe?“, wobei er nochmals, nur um seine Frage bestätigt zu wissen, zurück zum Grab blickte.
Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt, sah ihn eindringlich an und sagte: „Bilde dir bloß nicht ein, dass wir unsere alte Liebe wieder auffrischen könnten. Nie und nimmer“, anschließend machte sie eine abweisende Geste, um das äußerst sensible Thema, das unaufgefordert ihr Denken und Handeln zu manipulieren versuchte, zu beenden.
Erstaunt und mit einem spitzbübischen Lächeln antwortete er: „So, so, wir liebten uns also doch!“
Ihrer eigenen Worte erneut überführt, wandte sie sich abrupt um, sie eilte den Friedhofsweg hinunter und hatte dabei das Gefühl, dass sein Lächeln ihr hinterherlief.
Von ihrer Empörung nicht im Geringsten beeindruckt, hatte er sich, genüsslich grinsend, an ihre Fersen geheftet.
Mittlerweile war Charlotte an ihrem Wagen angelangt. Während sie mit zitternder Hand in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund suchte, konnte sie aus den Augenwinkeln beobachten, wie Henning langsam um ihren Wagen schritt.
Als er ihn schließlich in aller Ausführlichkeit begutachtet hatte, kommentierte er: „Ahhh … Madame fährt einen Porsche! Respekt, Respekt!“ Es nicht-glauben-wollend umrundete er nochmals das Luxusgefährt, nickte mehrmals bewundernd mit dem Kopf, schenkte ihr dann einen verführerischen Augenaufschlag und sagte: „Meine kleine Charly ist ja eine richtig gute Partie!“
„Ach Henning“, antwortete sie, dabei versuchte sie so gelassen wie nur irgend möglich zu bleiben, „du bist ein unverbesserlicher Macho. Mach dir bloß keine falschen Hoffnungen, so schlecht kann es mir gar nicht gehen, dass ich dir wieder eine Chance geben würde – und im Übrigen, auch wenn wir uns damals liebten, so war ich nie dein! Niemals“, zischte sie.
Woraufhin er erstaunt die Augenbrauen hochzog und lächelte.
Es war dieses besondere Lächeln dem man sich, wenn man es einmal erfasst hatte, nicht mehr entziehen konnte.
Ihre Gefühle ein weiteres Mal bestätigt zog eine leichte Verlegenheitsröte sympathisch über ihr Gesicht.
Was ihn sichtlich zu amüsieren schien. Breitgrinsend sagte er schließlich: „Warte, ich hab etwas für dich“, er griff in seine Jackeninnentasche, zog eine Visitenkarte hervor und überreichte sie ihr mit den Worten: „Hier … nur für alle Fälle.“
Etwas widerwillig, mit spitzen Fingern, nahm sie das Kärtchen entgegen, und als sie es ungeachtet in ihre Tasche stecken wollte, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand: „Hey, du darfst sie gerne lesen – es ist gewiss nichts Unanständiges!“ Im nächsten Moment sah er zur Hundedame und sagte: „Greta komm, wir gehen“, erneut glitt sein Blick an ihr herunter, „wir sind der Lady zu gewöhnlich.“ Anschließend schlenderte er in gemäßigten Schritten davon, wobei Henning bemüht war, das Tempo der alten Hundedame anzupassen.
Charlotte las die Visitenkarte auf der in großen Lettern stand: HENNING BLEIBTREU der MANN FÜR ALLE FÄLLE! Darunter waren Anschrift und Telefonnummer aufgeführt.
„Tsss“ allein sein Nachname Bleibtreu sprach schon Bände und Mann für alle Fälle, das erinnerte sie an den Henning von damals. Na, ganz offensichtlich hat er seine Vorliebe für die Damenwelt zum Beruf gemacht. Doch dann las sie das Kleingedruckte: Geschickte Hände erledigen Ihre Gartenarbeiten. „Tsss Henning und Gartenarbeit!“, grummelte sie vor sich hin, „dass ich nicht lache.“ Mit Sicherheit ist das nur eine Tarnung und in Wahrheit verdient er sein Geld als Lover-Boy? Wie waren noch seine Worte? Ich wäre eine richtig gute Partie! Beim Einsteigen in den Porsche kam ihr ein Gedankenblitz: Vielleicht war er ja ein Heiratsschwindler! Erst neulich hatte sie in der Tageszeitung einen Bericht darüber gelesen, dass der Friedhof der ideale Platz sei, um einsame und betuchte Witwen kennenzulernen. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite, sah ihm nach und dachte, jedenfalls versprüht er noch immer diesen gewissen Charme. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, startete den Motor und ließ den Wagen, bewusst langsam, an ihm vorüberrollen.
Er fühlte sich sogleich animiert und winkte ihr mit einem bezaubernden Lächeln nach.
Und plötzlich, sie wusste nicht wie ihr geschah, zogen Bilder, aus längst vergangenen Tagen, an ihr vorüber: ganz deutlich sieht sie, wie er ihr nach jedem Liebesakt einen Kuss gibt und sich bei ihr bedankt. Schmunzelnd dachte sie, ob er noch immer diese perfekte männliche Ausstattung besaß? Ups, jetzt gehst du aber zu weit, ermahnte sie ihr nüchterner Verstand, der ihr auch sogleich den damaligen Trennungsgrund – diese super Blondine, die Brigitte Bardot für Leichtmatrosen – vor Augen führte. Wie war noch gleich ihr Name? „Nein“, fluchte sie und stoppte somit den vorbeiziehenden Bilderstrom. Darüber solltest du dir jetzt wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Außerdem ist das alles lange vorbei. Kopfschüttelnd schob sie die Nachwirkungen dieses kurzen Gedankentrips beiseite – jedenfalls hatte sie es versucht, doch so einfach war das nicht.
Während der ganzen Heimfahrt bemerkte sie, wie Henning sich unaufgefordert ein kleines Plätzchen in ihrem Kopf zu erobern versuchte und immer dann, wenn sie ihn verdrängen wollte, kamen neue Details zum Vorschein. Nein, sie wollte nicht mehr an ihn denken und keinesfalls wollte sie an den Herzschmerz, den er ihr damals zugefügt hatte, erinnert werden. Voller Wut drückte sie das Gaspedal einmal voll durch, sodass der Porschemotor vor Wonne aufheulte, sie in den Sportsitz drückte und ihr ein berauschendes Gefühl von Macht, ja Freiheit gab. Leider war diese Befreiungsaktion nur eine Momentsache, denn ein Lichtblitz erinnerte sie an die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Landstraße – zu spät, viel zu spät, denn der Zeiger auf dem Tacho zitterte auf einhundertfünfzig. „Mist“, fluchte sie und drosselte sofort das Tempo, das gab sicherlich Fahrverbot. Gustav würde ihr jetzt eine Szene machen, aber die Gewissheit, dass er es nicht mehr tun konnte, ließ sie zufrieden schmunzeln. Auch wenn sie nun die Geschwindigkeit dem Limit der Straßenverkehrsordnung wieder angepasst hatte, so hatte ihre Erinnerung an Henning – ihre erste große Liebe – wieder an Fahrt zugelegt. „Tsss … Henning … Henning … Henning“, zischte sie.
Während der restlichen Autofahrt wurde ihr ganz allmählich bewusst, dass er nicht nur in ihrem Kopf wieder aktiv war, sondern auch heftig an ihre Herzenspforte klopfte.
Kurze Zeit später parkte sie den Porsche – der zu Gustavs Lebzeiten, neben seinen Affären, zu seinem Lieblingsspielzeug gehörte – in der Garage. Nachdem die Wagentür mit einem sonoren Klack ins Schloss gefallen war, blieb sie einen Moment neben dem sportlichen Gefährt stehen. In Gedanken sieht sie Henning um den Porsche gehen: sie sieht seine bewundernden Blicke über den Wagen gleiten und mit einem Augenzwinkern bei ihr enden.
„Tsss … gute Partie“, zischte sie, dann trat sie einen Schritt zurück und dachte, eigentlich ist der Porsche viel zu groß, zu protzig und in Anbetracht der Tatsache, dass sie gerade eben geblitzt wurde, auch viel zu schnell für sie, außerdem hatte sie immer das Gefühl, dass der Wagen mit ihr fuhr und nicht sie mit ihm. Sie sollte ihn verkaufen. Ja! Entschlossen wandte sie sich von dem Hochgeschwindigkeits-Geschoss ab und ging mit festen Schritten ins Haus.
„H a l l o … ich bin wieder d a a a!“, rief sie in die Eingangshalle was, wie sie jetzt empfand, eine völlig überflüssige Handlung war. In all den Jahren, in denen sie hier lebte, war es ihr zur lieben Gewohnheit geworden, ihr Kommen auf diese Weise anzukündigen und immer kam von ihrer Schwiegermama Frida ein freudiges Hallo zurück, doch seit ihrer Demenzerkrankung schien die Begrüßung in der Halle auf eine verlorene und einsame Welt zu treffen. Für einen Moment hielt Charlotte inne, bewusst ließ sie nun die Umgebung auf sich wirken. Mit einem Male schien ihr alles fremd, das sonst so Vertraute meilenweit entfernt. Irgendetwas war mit ihr geschehen – nur was? War es der endgültige Abschied von Gustav? Hatte der Gedanke an ein neues Leben nun auch ihrem Umfeld ein neues Gesicht verpasst? Oder war es die Begegnung mit Henning? – Nein, auf gar keinen Fall. Eine Frage die sie sofort wieder verdrängte. Erneut ließ sie ihren Blick durch die prunkvolle Eingangshalle schweifen. Meine Güte, wie groß der Eingangsbereich war, alles, das ganze Drumherum war seit Gustavs Tod eigentlich viel zu groß für sie und die achtzigjährige kranke Frida. Mein Gott, die arme Frida! Was wird nur aus ihr? Wenn sie Gustavs Letztem Willen nachgekommen wäre, so wäre Frida schon längst in einem Pflegeheim – nein, korrigierte sie sich, es war eine Seniorenresidenz mit integriertem Pflegeheim – darauf hatte ihr Sohn besonders großen Wert gelegt. Für seine Mutter nur das Beste! Wie auch immer, sie brachte es einfach nicht übers Herz Frida abzuschieben wie einen unbequemen Gegenstand – schließlich hatte sie ihr viel zu verdanken.
Mitten in ihre Gedankengänge drang unvermittelt Fridas Stimme.
„Ich hab dich gesehen!“, rief sie in singendem Ton. Im nächsten Moment stand Frida neben Charlotte, tippte ihr mit dem Zeigefinger mehrmals auf den Oberarm und sagte: „Ich hab’s genau gesehen!“, danach sah sie sich verstohlen um, legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: „Pssst ich kann schweigen wie ein Grab“, dann trippelte sie zur Terrasse.
Obwohl Charlotte genau wusste, dass Frida seit Wochen schon nicht mehr unbeaufsichtigt aus dem Haus gehen konnte, sie vielmehr nur noch in ihrer eigenen Welt unterwegs war, machte ihr diese Aussage ein schlechtes Gewissen. Im nächsten Moment zog vor ihrem geistigen Auge das Bild von Henning und ihr vorüber – sie beide, vor Gustavs Grab. Stopp! Warum macht dir das ein schlechtes Gewissen? Die Antwort hatte sie gleich parat: Weil die Begegnung mit Henning sie wieder an die Liebe, an das Leben erinnerte.
Ein gellender Aufschrei von Frida entriss sie jäh ihren Gedanken. Charlotte lief dem Schrei entgegen.
„Sieh doch! … So sieh doch!“, empörte sich Frida, „sieh nur!“ Aufgebracht zerrte sie an Charlottes Arm, „so sieh doch, was dieser Kerl getan hat!“ Ihre Stimme und ihre Lippen bebten vor Aufregung und schon im nächsten Augenblick packte sie Charlotte bei der Hand und zog sie über die Terrasse in den Garten.
„Sieh nur … sieh!“ Frida ließ ihre Hand los, trippelte in kleinen Schritten – wie sie es in letzter Zeit öfters tat – zum Buchsbaum, blieb erstaunt stehen und sagte enttäuscht: „Sieh nur, was der Kerl im grünen Anzug getan hat!“ Im nächsten Augenblick schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte. Nein, es war kein Weinen, sondern vielmehr ein Wimmern.
Charlotte ging zu ihr, legte tröstend den Arm um ihre Schulter und fragte: „Aber was, was um alles in der Welt hat WER denn getan?“ Sie verstand Fridas Empörung nicht.
Entsetzt sah Frida sie an, dann verwies sie mit ausgestrecktem Arm auf den Buchsbaum. „Er, der Mann, hat ihm den Kopf abgeschnitten! Sieh doch!“ In kleinen Schritten umrundete sie das Bäumchen, blieb stehen und sagte enttäuscht: „Sieh nur … auch diese Dings, diese Dinger …“, das fehlende Wort ergänzte sie, indem sie ihre Arme anwinkelte und wie ein Vogel flatterte, „… auch sie sind weg! Er war doch immer ein Piepmatz.“ Unvermittelt erhob sie ihre Stimme und rief flehend: „Er, dieser Kerl im grünen Anzug – mit dem Kerl meinte sie den Gärtner, der wöchentlich kam – darf nicht mehr kommen, hörst du?“ Dann kullerten Tränen über ihre Wangen.
Jetzt erst verstand Charlotte was Frida ihr mitteilen wollte, ihr wäre es womöglich noch nicht einmal aufgefallen, da sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Behutsam nahm sie Frida in ihre Arme, wiegte sie und sagte: „Wir machen einen neuen Vogel aus ihm, das verspreche ich dir.“
Nach einer Weile löste Frida sich aus ihren Armen, sah sie befremdlich an, blickte zum Himmel und sagte sachlich: „Es wird dunkel. Gute Nacht“, dann ging sie in normalen Schritten und ganz ohne zu trippeln ins Haus zurück.
Mein Gott! Fridas Demenz wurde von Tag zu Tag schlimmer, und es war beängstigend wie heimtückisch diese Krankheit ihren Geist zerstörte. Charlotte hörte wie Lilo, die gute Seele des Hauses, Frida in Empfang nahm und mit ihr in ihr Schlafgemach ging.
Gustav hatte Lilo, kurz nachdem er von der Krankheit seiner Mutter erfahren hatte, für ihre Betreuung eingestellt – worüber Charlotte ihm mehr als dankbar war.
Ja, im Planen und Organisieren war Gustav unschlagbar. Kurz dachte sie darüber nach, ob seinem Augenmerk je etwas entgangen war – nein, nichts, stellte sie fest. Sein Leben war bis ins kleinste Detail durchstrukturiert, auch die Menschen um ihn herum hatten ihre festen Plätze und hatten sich an seine Regeln zu halten. Wer das tat, wurde auf großzügige Weise belohnt, doch wenn jemand seine Regeln zu boykottieren versuchte, so konnte das mitunter sehr unangenehme Folgen haben. Charlotte hatte das sehr schnell begriffen, als Gegenleistung war es ihr vergönnt, ein Leben in Luxus führen. Ein Leben in Luxus! Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Grundgütiger, nie hattest du ein eigenes Leben! Vor Jahren hast du es aus Bequemlichkeit – gegen all das hier, den Luxus – eingetauscht. Und während ihr Blick über die Rückseite der alten Villa Grafenberg schweifte, resümierte sie ihr Leben.
Weiß Gott, es gab Momente, da besaß das Vergangene eine so ungeheure Kraft, dass man glaubt, das Gegenwärtige habe keine Berechtigung und das Zukünftige keine Chance mehr.
In Fridas Zimmer wurde das große Licht gelöscht, lediglich die kleine Nachttischleuchte warf ein dämmriges Licht in den Raum. Gleich wird sie – so wie jeden Abend vor dem Einschlafen – den alten Plattenspieler betätigen und Musik hören. Und da perlten auch schon leise Klänge durch das halboffene Fenster. Vor ihrer Krankheit hatte sie die Musik ihrer Stimmungslage angepasst, doch in letzter Zeit hörte sie nur noch Chopins Regentropfen-Prélude. Vieles hatte Frida zwar vergessen, nur die Musik nicht, sie gehörte nun zu ihrem Leben wie die Sonne zum Tag. „Ach, die gute Frida“, seufzte Charlotte.
In all den Jahren war sie nicht nur mütterliche Freundin, sondern auch eine verlässliche Schwiegermutter, die, wenn sie mal wieder von Gustavs unsäglichen Affären erfahren hatte, es durchaus verstand, ihm ordentlich den Kopf zu waschen, danach hatte sie keine Mühen gescheut den Postillon d’Amour zu spielen. Warum sie diesen liederlichen Draufgänger nicht verlassen hatte, war ganz einfach zu erklären: Sie wiegte sich wohlbehütet und in sicherer Existenz.
Ja, und daran gab es nichts mehr zu beschönigen – sie hatte ihr Leben vertan! Eine Erkenntnis die sie traurig stimmte.
Die Musik verstummte, das Dämmerlicht wurde ausgeschaltet. Sie sah zu Fridas Schlafzimmerfenster und flüsterte: „Gute Nacht, Frida.“ Vielleicht sollte sie Gustavs Letzten Willen doch beherzigen. Aber könnte sie das wirklich? Könnte sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren? Jedenfalls erschauderte sie bei dem Gedanken.
„H a l l o … Frau Grafenberg … h a l l o“, unterbrach Lilo mit lauter Stimme Charlottes Zweifel, „ich geh dann mal. Ihre Frau Schwiegermama ist versorgt, ihre Pillen hat sie genommen, wenn auch nur widerwillig. Ich denke aber, dass sie gleich schlafen wird. Also bis morgen!“ Auf der Türschwelle blieb Lilo nochmals stehen, machte auf dem Absatz kehrt, fasste sich an den Kopf und sagte: „Entschuldigung, aber ich habe ganz vergessen Ihnen zu sagen, dass Ihr Schwager, Herr Grafenberg, hier war, er wollte … was wollte er noch gleich?“, nachdenklich zog Lilo die Augenbrauen zusammen, „ah ja, dass er noch etwas mit Ihnen klären müsse … Papierkram wohl. Jedenfalls soll ich Ihnen ausrichten, dass er morgen früh vorbeikommen wird. Gute Nacht, Frau Grafenberg.“
„Danke, Lilo … und gute Nacht!“ Mit einem tiefen Seufzer sah Charlotte zum Himmel. Im Westen säumte noch ein letzter roter Streifen den Horizont, wohingegen im Osten der Mond die Nacht begrüßte. Alles um sie herum war still. Es schien, als würde die Welt vor Anbruch der Dunkelheit sich noch eine letzte Atempause gönnen. Eigentlich hätte sie jetzt weinen wollen, die Situation, ihre Stimmung, alles war wie geschaffen vor Selbstmitleid zu zerfließen. Aber was würde es nützen, dachte sie. Außerdem war es nie ihre Art gewesen, warum also jetzt damit anfangen.
Während sie zurück zum Haus schlenderte, sinnierte sie weiter über ihr Leben, und ganz ohne ihr Wollen landete sie wieder bei Henning. „Henning“ kam es flüsternd über ihre Lippen. Damals wie heute hatte er es fertiggebracht sie, sowohl mit Worten, als auch mit Gesten zu provozieren und sie hatte in gleichem Maß gekontert. In Erinnerungen schwelgend umspielte ein erstes Lächeln ihren Mund, doch je tiefer sie in ihrer Vergangenheit unterwegs war, desto schmerzhafter war das, was ihr dort begegnete. An der Terrassentür stoppte sie ihre zermürbenden Gedankengänge, zähneknirschend fluchte sie: „Vergiss endlich diesen Weiberheld!“ Fast drei Jahrzehnte war ich mit so einem Exemplar verheiratet, das braucht keine Frau ein zweites Mal. „Wer ist denn schon Henning!“, grummelte sie verärgert vor sich hin. Angetrieben von einer nie überwundenen Eifersucht schlug sie die Terrassentür zu, gleich so, als könne sie ihre Gedanken, ihre Gefühle draußen lassen.
Doch kaum, dass sie im Bett lag, ihre Augen geschlossen waren, war Henning in seiner ganzen Pracht – so wie sie ihn damals kennen- und liebenlernte – wieder präsent. Sie sieht sein Gesicht, sieht den Glanz in seinen dunklen Augen, hört seine Worte und wird von seiner Stimme wohlig berührt, und nein, sie konnte einen längeren Ausflug in jene Zeit nicht unterdrücken. Spontan fiel ihr wieder Rilkes Liebes-Lied ein. Leise zitierte sie die erste Zeile ins Kopfkissen:
„Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?“
Am nächsten Morgen saß sie am Frühstückstisch und noch immer schwebten die Träume der Nacht, eingehüllt in den bittersüßen Duft der Erinnerung, über ihr. „Es ist schrecklich, fast ein wenig ungerecht, wie schnell die Zeit vergeht“, sagte sie zu Frida, die ihr gegenübersaß und routinemäßig in der Tageszeitung blätterte. Kurz lugte Frida hinter der Zeitung hervor, setzte zum Sprechen an, doch dann schienen ihr die Worte zu fehlen und es blieb nur bei einem verlegenen Lächeln. Beschämt vertiefte sie sich wieder in die Tagesthemen – augenscheinlich jedenfalls, denn Charlotte bemerkte, dass sie keine Brille trug. Doch bevor sie sich weiter mit Fridas Gesundheitszustand befassen konnte, läutete es an der Wohnungstür.
Lilo öffnete die Tür und sagte mit übertriebener Höflichkeit: „Guten Morgen, Herr Grafenberg. Welch angenehmer Besuch und sooo früh!“
„Guten Morgen, Lilo. Lilo, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass sie nicht darüber zu urteilen haben, wann ich komme oder gehe … das steht Ihnen nicht zu!“
„Jawohl, Herr Grafenberg“, hörte sie Lilo sagen, die sich im Grunde einen Deut darum scherte, was Ludger Grafenberg zu ihr sagte oder anordnete.
„Einen wunderschönen guten Morgen meine Damen! Ach, ist das nicht ein herrlicher Morgen“, schwärmte er, klatschte dabei in die Hände und rieb sie genüsslich.
„Guten Morgen“, sagte Frida, und ohne ihren Blick von der Zeitung abzuwenden, hielt sie ihm die Hand entgegen.
Wahrscheinlich war ihr wieder entfallen, dass er ihr Sohn war.
Ludger nahm ihre Hand, umschloss sie fürsorglich und sagte: „Guten Morgen, Mutter. Hattest du eine ruhige Nacht?“
Frida verzog keine Miene, stattdessen entzog sie ihm abrupt ihre Hand.
Er erwartete auch keine Antwort, sondern wandte sich sogleich Charlotte zu. Er küsste sie links und rechts auf die Wange, schenkte ihre einen langen und schmachtenden Blick und sagte: „Ganz bezaubernd siehst du heute wieder aus … ja, ganz bezaubernd.“
„Danke, Ludger“, dabei fand sie seinen aufgesetzten Schmus heute besonders unangenehm, und gerade seit Gustavs Tod waren seine Bemühungen um sie weder zu überhören noch zu übersehen. „Was führt dich so früh am Morgen her?“, fragte sie sachlich, um ihm keinen Nährboden für weitere Avancen zu bieten.
Was er natürlich bemerkte. Leicht pikiert über ihre Reserviertheit antwortete er: „Wir müssen reden! Außerdem benötige ich noch dringend einige Unterlagen für die Steuererklärung …“
„Ja, ja! Nun setz dich erst einmal“, unterbrach sie ihn, „und trink in aller Ruhe einen Kaffee mit uns, danach können wir immer noch über das Geschäftliche reden.“
„Meine liebe Charlotte“, sagte er wichtigtuerisch, „die Angelegenheit ist äußerst dringlich. Die Verlängerungsfrist endet nächste Woche“, echauffierte er sich, „und das Finanzamt, meine Liebe, versteht keinen Spaß ...“
„… gleich nach dem Frühstück gehen wir in Gustavs Büro“, unterbrach sie ihn erneut, „da kannst du dir die entsprechenden Unterlagen raussuchen.“
Lilo war zwischenzeitlich mit einem Kaffeegedeck gekommen. „Für Sie, Herr Grafenberg“, sagte sie und stellte das Gedeck so unsanft auf den Tisch, dass es kurz aufschepperte, woraufhin sie auch gleich einen strafenden Blick von ihm erntete. „Kaffee steht da“, fügte sie knapp an, wobei sie mit der Hand auf die Kaffeekanne verwies, dann warf sie den Kopf zur Seite und machte sich geschwind wieder in die Küche.
Charlotte konnte gerade noch einen Lacher unterdrücken, griff nach ihrem großen Kaffeebecher und schlürfte – wohlwissend ihre Häme gut dahinter versteckt – genüsslich an dem heißen Milchkaffee.
Kopfschüttelnd kommentiere Ludger: „Also ich finde diese Lilo ist eine unverschämte Person. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, so solltest du dich von ihr trennen. Wenn es dir recht ist, ich meine … ich will mich ja nicht aufdrängen“, sagte er sich einschmeichelnd, „so kann ich gerne für einen adäquaten Ersatz sorgen.“
„So, findest du!“ Wieder so ein gut gemeinter Ratschlag, dachte sie leicht genervt und setzte die Tasse, gemäß ihrem Empfinden laut auf der Untertasse ab.
„Ja, meine Liebe, du bist jetzt“, kurz lachte er auf, „wie soll ich’s formulieren“, fürsorglich tätschelte er ihre Hand, „so ganz ohne männlichen Beistand und solche Individuen, wie diese, diese Lilo“, sagte er abwertend, „sind bekannt dafür, dass sie ihre Grenzen überschreiten. Gerade aus meinem Berufsalltag, na, da könnte ich dir so einige Geschichten erzählen – und die, die nahmen kein gutes Ende.“
„Lieber Ludger, was würde ich nur tun, wenn ich dich nicht hätte“, spöttelte Charlotte.
„… dann würde es uns richtig gutgehen“, ergänzte Frida laut und streckte dabei den Kopf hinter der Zeitung hervor, anschließend sah sie sich suchend um und rief: „Lilo, wo ist mein Sohn?“
Lilo kam herbeigeilt, „Frau Frida, was ist denn geschehen?“
„Haben Sie meinen Sohn gesehen? Wo ist er?“
„Ihr Sohn? Aber da ist doch Ihr Sohn!“, erstaunte sich Lilo.
Alle sahen zu Ludger.
„Nein, das ist nicht mein Sohn, das ist nur der Besuch, und der, der möchte gehen!“ Mit Nachdruck legte sie die Tageszeitung auf den Tisch, warf Ludger einen mürrischen Blick zu und schüttelte dabei energisch den Kopf.
„Aber Mutter, ich bin doch auch dein Sohn!“, echauffierte sich Ludger, „ich bin‘s doch … Ludger! Erkennst du mich denn nicht mehr?“, enttäuscht, dass seine eigene Mutter ihn nicht mehr erkannte, wurde er ganz blass um die Nase.
Mittlerweile hatte sich Lilo der alten Dame angenommen, „alles ist gut, Frau Frida, wir werden gleich einen Spaziergang zum Friedhof machen und bei der Gelegenheit besuchen wir Ihren Sohn“, ergänzte sie hämisch grinsend, und während sie sich bei der alten Dame unterhakte, sagte sie schnippisch: „und der Besuch geht wann er will! Nicht wahr, Herr Grafenberg“, anschließend warf sie triumphierend den Kopf in den Nacken.
„Eine äußerst impertinente Person“, knurrte Ludger in den Bart, „aber so was von …“ Die Blässe war aus seinem Gesicht entschwunden, stattdessen glühten jetzt seine Wangen vor Wut.
Und obwohl auch Ludger ihr Sohn war, schien Frida ihn aus ihrem Gedächtnis verbannt zu haben. Vielleicht war es damit zu begründen, dass Gustav, als Erstgeborener, mit dem Vornamen seines Vaters ausstaffiert wurde, oder weil er das Ebenbild ihres verstorbenen Mannes war.
Bei Ludgers Anblick musste Charlotte erneut an sich halten.
„Wenn Gustav noch am Leben wäre“, fügte er zähneknirschend an“, so hätte er diese Lilo längst rausgeschmissen.“
„Ah … Gustav … Gustav!“, empörte sie sich, „Gustav ist nicht mehr unter uns, und nur, dass du es weißt, ER gehört ab sofort der Vergangenheit an – Punkt!“
Für diesen Ausspruch erntete sie einen strafenden Blick. „Also ich muss mich doch sehr wundern, Charlotte, dein Mann ist gerade mal ein Jahr unter der Erde und du …“
„Jaaa! Er ist seit einem Jahr mausetot und ich, ich lebe!“ – Jetzt war Beherrschung angesagt. Um keine Diskussion vom Zaun zu brechen, sagte sie: „Ich denke, mein lieber Ludger, wir sollten ins Büro gehen, da kannst du dir Unterlagen raussuchen. Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und marschierte schnurstracks zu Gustavs Arbeitszimmer.
Er folgte ihr wie ein gehorsamer Dackel. „Duuu, Charlotte, wie du weißt, handle ich nur in guter Absicht …“
Unvermittelt blieb Charlotte stehen. „Ja, ja ist schon gut“, seufzte sie genervt, „ich weiß, dass du deinem Bruder versprochen hast auf mich aufzupassen, das hast du bereits des Öfteren erwähnt“, abrupt und mitten im Satz schwieg sie, denn ihr war durchaus bewusst, dass sie auf Ludgers Hilfe angewiesen war. „Mein lieber Ludger“, fuhr sie aus einem Seufzer fort, „ich bin dir wirklich sehr, sehr dankbar, dankbar für alles, was du nach Gustavs Tod für mich getan hast und auch immer noch tust … das musst du mir glauben, aber“, kurz hielt sie inne, um ihre Wortwahl sorgfältig auszuwählen, „sieh mal, im Trauerjahr war ich nie wirklich alleine, immer war jemand da, mal ganz abgesehen von Frida. Doch jetzt brauche ich etwas mehr Zeit für mich. Verstehst du was ich meine? Ich muss meinem Leben wieder einen Sinn geben. Ich muss es neu ordnen!“
Auch wenn er sie nun mit seinem berühmt-berüchtigten Dackelblick ansah, so war Vorsicht geboten, denn im Hintergrund lauerte ein listiger Fuchs, der nur darauf wartete im richtigen Moment zuzuschnappen.
Für einen Moment dachte er stirnrunzelnd darüber nach, was sie gerade gesagte hatte, dann antwortete er: „Meine liebe Charlotte, das verstehe ich durchaus, aber …“
„Ohne Wenn und Aber“, stoppte sie ihn, und mit dieser resoluten Antwort öffnete sie die Tür zum Büro. Muffige, abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Seit Gustavs Tod betrat sie nur noch selten den Raum, es sei denn um irgendwelche Akten herauszuholen. Während sie das Fenster mit einem Ruck öffnete, fragte sie reserviert: „Weißt du in welchem Ordner die Unterlagen sind?“
Was für eine überflüssige Frage! Die zwei Brüder hielten doch wie Pech und Schwefel zusammen. Sie wussten alles voneinander – oder? Wusste Ludger auch über Gustavs Affären Bescheid?
Ein Gedankengang der ihr sogleich über die Lippen sprudelte: „Wusstest du eigentlich von den Affären deines Bruders?“
Worte, die ihn wie Wurfgeschosse am Kopf trafen, fast wäre ihm beim Aufprall die Kinnlade runtergefallen, doch im letzten Moment blies er die Backen auf und beim Ausatmen sagte er: „Weißt du Charlotte, das war …“
„alles ganz anders, als ich denke! Ich weiß“, beendete sie seine Ausrede barsch, „gib dir keine Mühe, Einzelheiten interessieren mich eh nicht. Ich möchte nur eine ehrliche Antwort von dir.“ Mit großen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an.
Verlegen senkte er seinen Blick, blies nochmals die Backen auf, und während er die Luft ausblies, nuschelte er, „jaaa wobei ich ihm immer gesagt habe, dass ich das nicht für gut finde …“
„So, hast du das!“
„Jaaa! Wie oft habe ich ihm gesagt, dass ich dich für eine wunderbare Frau halte und du das nicht verdienst“, achselzuckend fügte er noch an, „was sollte ich denn tun, er war mein älterer Bruder und gegen Ratschläge – wie du selbst weißt – immun!“
Wieso nur konnte sie ihm das nicht glauben?
Jedenfalls hatte ihre Frage ihn sichtlich in Verlegenheit gebracht, er vergrub die Hände tief in seinen Hosentaschen und unter seinem Jackett konnte man die Windungen seines Oberkörpers sehen, gerade so, als wäre ihm seine eigene Haut zu eng geworden. Nein, sie gab ihm keine Antwort mehr, stattdessen ließ sie ihn, samt seinem schlechten Gewissen, alleine. Für Charlotte war die Untreue ihres verstorbenen Mannes längst kein Thema mehr.
Sie hatten sich, wie es so schön heißt: über die Jahre zusammengerauft, die dunklen Beziehungszeiten gemeistert und sich irgendwann arrangiert.
Okay, dachte sie, dein schlechtes Gewissen, mein Lieber, darfst du gerne bei mir abarbeiten. Sie blieb auf der Türschwelle stehen und sagte: „Im Übrigen, ich möchte den Porsche verkaufen. Könntest du mir dabei behilflich sein? … Ach ja, noch was, gestern Abend wurde ich auf der Landstraße geblitzt, könntest du dich auch darum kümmern?“
„Gustavs Porsche?“, fragte er erstaunt. Die Frage schien zunächst im Raum zu rotieren bevor er in der Lage war sie zu realisieren.
„Jaaa! Oder hast du etwas dagegen?“, fügte sie stirnrunzelnd an.
Ludger zog zunächst nachdenklich die Augenbrauen zusammen, doch schon im nächsten Augenblick überzog ein selbstgefälliges Grinsen sein Gesicht, zögerlich antwortete er: „Ich könnte, ich meine … wenn nichts dagegen spricht, so könnte ich den Porsche kaufen!“ Nachsinnierend spitzte er seine Lippen, dann brach es aus ihm heraus: „Ja, ich kaufe ihn“, mit dem Ausspruch war sein Entschluss Fakt. Und nach dem Strahlen seiner Augen sah er sich bereits in dem sportlichen Gefährt hocken, sah sich mit gemäßigtem Tempo, sodass ihn auch alle sehen konnten, durch die Innenstadt fahren.
Verblüffung stand in Charlottes Gesicht, doch wenn sie es sich recht überlegte, hätte sie diese Entscheidung vorhersehen können. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatte er schon immer versucht Gustav nachzueifern: alles was er hatte, wollte auch er, und seit seinem Tod, beschlich sie zuweilen das Gefühl, dass es für ihn Zeit wäre, Gustavs Platz – hier im Hause und an ihrer Seite, womöglich noch in ihrem Bett – einzunehmen. Ein Gedankengang, der sogleich für eine Gänsehaut sorgte. Igitt, igitt nein! Und überhaupt, er und sie – unmöglich! Stattdessen versuchte sie gedanklich, Ludger und den Porsche zusammenzubringen. Sie sieht den drahtigen Ludger – ein jung gebliebener Sechziger, im elegant-klassischen Jackett, mit offenstehendem Hemd, dem passenden Halstuch sowie blankpolierten Schuhen und seinem selbstgefälligen Grinsen – im Porsche sitzen. Eigentlich fand sie ihn ja ganz attraktiv, wenn da nur seine Pedanterie nicht wäre. Sein übertriebener Hang zur Genauigkeit konnte jede Frau zur Raserei bringen. Vermutlich war er deshalb auch Single. Auch seine Frisur – die gegelten Haare mit den Kammspuren und dem immer perfekten Seitenscheitel – sagte schon sehr viel über seine Pingeligkeit aus. Dabei fiel ihr Blick auf sein volles dunkles Haar, das noch kein einziges graues Haar aufwies, aber wer weiß, vielleicht war es ja nachgefärbt. Ihr Blick vertiefte sich in seinen Haaren. Man neigte immer dazu hineinfassen zu wollen, um endlich einmal die Perfektion aus ihm herauszuholen. Ein Wunschgedanke, bei dem Charlotte unvermittelt schmunzeln musste, denn ihre beste Freundin, Doro von Sickingen, hatte das bei einer Geburtstagsfeier und im betrunkenen Zustand mal versucht – oha, da war aber was los! Ja doch, Ludger passte in den Porsche. Mit hundertprozentiger Sicherheit würde er den kleinsten Mückenschiss mit einem seiner weißen Stofftaschentücher – die allesamt mit seinen Initialen versehen waren – wegpolieren. Ein Fantasiegebilde das sie fast ausgesprochen hätte, doch im letzten Moment hielt sie inne und sagte nur: „Schön, dann halte Gustavs Porsche in Ehren!“
Er klatschte in die Hände, zwinkerte ihr zu und sagte freudestrahlend: „Gut, dass wir das schon mal geklärt hätten“, wobei er sich genüsslich die Hände rieb, gerade so, als wäre er seinem Ziel ein Stückchen näher gekommen.
Stirnrunzelnd und skeptisch beäugte sie sein Verhalten und sie konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht selbst auf die falsche Spur gesetzt hatte – eine Spur, die ihn auf der Zielgeraden zu ihr führte.
„Tja, wo waren wir noch gleich stehengeblieben? Ach ja, das Knöllchen! Selbstverständlich kümmere ich mich auch darum, sei unbesorgt, Charlottchen!“ Grinsend und träumend stand er noch eine Zeitlang da.
„Ludger? Wolltest du nicht die Unterlagen für die Steuererklärung raussuchen?“
„Wie? Ah richtig“, antwortete er. Aus seinem Tagtraum erwacht, klatschte er nochmals in die Hände, grinste wie ein Honigkuchenpferd und sagte mit einem leicht kindischen Unterton in der Stimme: „Na, wo sind denn die kleinen Ordner? Ahhh da sind sie ja!“
Charlotte verdrehte genervt die Augen. „Viel Spaß! Ich gehe dann mal, du kennst dich ja hier bestens aus“, fügte sie überspitzt an.
Während sie zurück zur Terrasse ging, fiel ihr Blick auf den großen Spiegel in der Eingangshalle. Sie blieb stehen, um ihr Spiegelbild etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Sie betrachtete es so, als würde sie eine gute Freundin begutachten.
Die Frau die sie sah, war Anfang fünfzig und ihr Gesamtbild war von angenehmer Erscheinung: die dunkelbraunen, halblangen Haare hatten immer noch Glanz und Schwung, ein paar Fältchen um Mund und Augen sprachen für eine lebenserfahrene Frau, die rehbraunen Augen und der volle Mund für Sinnlichkeit, und die kleine Hüftrolle – kurz griff sie zu – war zwar überflüssig, konnte man aber gut kaschieren, die Beine waren – dank regelmäßiger Fitness – wohlgeformt, dann kam der Griff zum Busen, sie rückte den Büstenhalter zurecht, um das Dekolleté samt dem Inhalt etwas kritischer zu beäugen …
„Darf ich dich am Wochenende zum Essen ausführen?“, flüsterte Ludger aus dem Hintergrund, wobei ein erotischer Touch in der Modulation seiner Stimme nicht zu überhören war.
Erschrocken fuhr sie zusammen. „Ludger! Stehst du schon lange hier? Du weißt, dass ich das auf den Tod nicht ausstehen kann“, fluchte sie. Sofort trat sie einen Schritt zur Seite und drückte ihren Körper schutzsuchend an die Wand.
In geschmeidig-tänzelndem Gang trat er auf sie zu, lächelte und antwortete: „Lange genug, meine Liebe, um mir bewusst zu werden, dass du eine hinreißend schöne Frau bist“, und schon im nächsten Moment glitt sein schmachtender Blick langsam, um auch ja nichts auszulassen, an ihr herunter. „Das Leben, meine liebe Charlotte, ist viel zu kurz um es alleine zu verbringen.“ Dann kam er noch etwas näher – und ja, da war er wieder, dieser treue Dackelblick, den er seit Gustavs Tod perfekt drauf hatte – lasziv lässig stützte er seinen Ellenbogen gleich neben ihr an die Wand, legte den Kopf in seine Handinnenfläche und pustete ihr sanft eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
Gerade noch sah sie, wie seine zum Kuss gespitzten Lippen in Richtung ihres Mundes kamen …
Ohhh tu’s nicht!, schoss es ihr verzweifelt durch den Kopf, zugleich tauchte sie unter ihm weg, und nein, sie wollte auf gar keinen Fall weiter auf sein Liebesgesülze eingehen. „Wolltest du dich nicht um die Steuern kümmern?“, lenkte sie geschickt von der äußerst delikaten Situation ab. Anschließend machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand so schnell sie nur konnte in Richtung Terrasse.
Hinter ihr folgten noch belanglose Mitteilungen wohl verpackt in zärtlichem Geflüster: „Um den Porsche, meine Liebste, sowie um die finanziellen Sachen kümmere ich mich, ebenso um das Knöllchen! Ach ja, und das mit dem Essen, das kannst du dir gerne überlegen. Ich würde mich jedenfalls sehr um ein wenig mehr Entgegenkommen deinerseits freuen.“ Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss.
„Tsss meine Liebste“, äffte sie ihm nach, und was heißt hier eigentlich ein wenig mehr Entgegenkommen? Na, das hättest du wohl gerne!
Als sie später mit einem Kaffee auf der Terrasse saß, dachte sie immer wieder und kopfschüttelnd über die Unverfrorenheiten ihres Schwagers nach. Er und sie? Igitt, igitt! In Erinnerung an sein erotisches Geplänkel wurde ihr speiübel.
Plötzlich drang ein glockenhelles „Guten Morgen“ mitten in das noch sehr lebhafte Szenario, gleichzeitig vernahm sie eilige Schritte auf dem Kiesweg seitlich des Hauses. Es war Doro von Sickingen, ihre langjährige Freundin und ehemalige Arbeitskollegin.
Doro ist mit Leib und Seele Immobilienmaklerin und sie ist eine der besten ihrer Zunft: eben weil sie ehrlich, korrekt und zuverlässig ist – was nicht immer die Attribute eines Maklers sind. Ihre Botschaft lautet: „Nur ethische Werte haben langfristig Erfolg“. Sie liebt es hochpreisige Objekte weltweit zu verkaufen, danach hat sie großes Vergnügen die Provisionen gewinnbringend anzulegen. Ein Mann für sie, der müsste jedenfalls noch gebacken werden – hatte sie einmal behauptet. Und wie jeder Mensch hatte sie nicht nur kleine Fehler, sondern ihre ganz speziellen Unausgewogenheiten!
Lachend, sich dabei tanzend im Kreise drehend, stand sie mit einer Champagnerflasche in der Hand jubelnd auf der Terrasse: „Jaha … jaha … heute habe ich mal wieder einen super Abschluss gemacht!“, im nächsten Moment küsste sie Charlotte auf ihr Haupt, stellte die Flasche auf den Tisch und sagte: „Weißt du wie viel sechs Prozent von fünfhunderttausend sind? … Schlappe dreißigtausend! Ich habe beim Verkaufsabschluss einer Immobilie dreißigtausend verdient! Ist das nicht genial – nein, ich bin genial!“, jubelte sie weiter. Und wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich selbst geküsst. Bevor Charlotte antworten konnte, ließ sie den Champagnerkorken knallen, sodass das edle Getränk wie eine Fontäne emporschoss. Den ersten Schluck nahm sie sogleich aus der Flasche, wofür sie auch sofort eine Entschuldigung parat hatte. „Ja, meine Güte, nun guck nicht so verdutzt! Solche Abschlüsse sind nicht alltäglich!“
Charlotte lachte, „Doro, das freut mich für dich, dann lass uns auf deinen Erfolg anstoßen – aber bitte mit Gläser!“ Als sie ein wenig später zurückkam, saß Doro da und weinte.
Ja, auch das war Doro! Zuerst himmelhochjauchzend dann wieder zu Tode betrübt.
„Hey, was ist geschehen, ich dachte, du freust dich über deinen finanziellen Zuwachs?“ Tröstend legte sie die Hand auf die Schulter ihrer Freundin.
„Eben drum, aber was nützen mir solch horrende Abschlüsse, wenn ich die Freude nicht mit jemandem teilen kann?“
„Aber dafür hast du doch mich!“, scherzte Charlotte.
„Ha, ha … du erlaubst, dass ich später lache.“
Charlotte streifte ihr scherzeshalber von hinten nach vorne über den Kopf und meinte: „Wie war noch gleich dein Spruch? Ah warte, ich hab’s: Genieße die Nacht mit einem Mann, doch wenn der Morgen grüßt, sollte dich nichts mehr an ihn erinnern.“
Ein wenig pikiert, dass sie von ihrer Freundin nicht ernst genommen wurde, warf Doro den Kopf in den Nacken und ordnete ihre Haare.
„Was ist eigentlich mit diesem, diesem … wie hieß er noch gleich?“, versuchte Charlotte von ihrer unsensiblen Bemerkung abzulenken, wobei sie schon gleich ins nächste Fettnäpfchen stampfte.
Doro ignorierte ihre Frage zunächst, stattdessen goss sie schwungvoll das perlende Getränk in die Gläser, sodass der Schaum dekadent über den Rand schäumte.
„Diether! Der Mistkerl heißt Diether!“, wobei sie das „th“ langgezogen aussprach. „Hör mir bloß mit diesem Typen auf“, und gemäß ihrem Ärger fegte sie mit der flachen Hand den Champagnerschaum von der Tischplatte.
„Oh, wie das?“, fragte Charlotte nun sichtlich interessiert.
„Männer!“, zischte sie. „Der hatte es doch nur auf meinen Namen von Sickingen abgesehen!“, fügte sie überspitzt an, dann schnäuzte sie verächtlich und laut ins Taschentuch.
„Ach was!“, antwortete Charlotte und dachte, okay, wieder einmal eine missglückte Beziehung.
Manchmal beschlich sie das Gefühl, dass Doro vor zu viel Nähe auf der Flucht war. Des Öfteren hatte sie sich die Frage gestellt, warum das wohl so war. Sie tippte mal auf eine enttäuschte Liebe vor langer, langer Zeit.
„Jaaa wieder so einer“, seufzte Doro, „jetzt weißt du warum ich alleine bin.“
Charlotte gab sich dennoch überrascht und ließ sich auf den Gartenstuhl fallen, „und ich dachte schon, das wäre mal ein potenzieller Heiratskandidat!“
„Heiratskandidat! Tsss, dass ich nicht lache“, antwortete Doro und hatte nun sichtlich Mühe ihre aufgestauten Emotionen unter Kontrolle zu halten.
„Los, erzähl schon. Ich bin ganz Ohr“, forderte Charlotte die Unglückliche auf.
Während Doro das Champagnerglas in ihrer Hand drehte, sprachen Mimik und Körperhaltung schon Bände. Ihre eh schon markanten Konturen verhärteten sich; das blaue Blut der Adelsdynastie strammte ihren Körper aufrecht. Wie eine unnahbare Göttin saß sie plötzlich da. Wieder einmal hatte sie ihr berühmtes Panzerkorsett strammgezogen, danach konnte sie nichts und niemand mehr verletzen! – Naja, so schien es jedenfalls.
Als sie sich wieder vollkommen unter Kontrolle hatte, erhob sie das Glas, beobachtete die aufsteigenden Champagnerperlen und sagte mit bewusst ruhiger Stimme: „Nun, eines Tages rief mich Diether an und sagte, dass er etwas Wichtiges mit mir zu bereden hätte – war ja wohl klar was. Jedenfalls stand er am nächsten Abend mit feierlichem Gesicht und einem Strauß Rosen vor meiner Tür …“
In Erinnerung an jenen Abend musste die Dame von Adel sich selbst zur Contenance zwingen.
„… und wie du dir sicherlich vorstellen kannst“, fuhr sie schließlich fort, „hatte ich mir gedanklich schon ein Traumgebilde aufgebaut: ich sah mich bereits als strahlende Braut ihm entgegengehen, alle meine Immobilienobjekte hatte ich nach einem passenden Nest für uns durchstöbert … tsss … doch was macht dieser Windhund?“, zischte sie plötzlich kopfschüttelnd.
„Na, was denn?“, fragte Charlotte ungeduldig.
„Naja, meine Hoffnung hatte er zwar erfüllt, doch seine Vorstellung von einer Ehe war mit meiner nicht kompatibel!“
„Aha …!“, kommentierte Charlotte.
Doro überhörte geflissentlich ihren Ausruf und schon im nächsten Moment zog erneut ein Wechselspiel von Gefühlen über ihr schönes Gesicht: Zuerst war es eine Mischung aus Enttäuschung und Trauer, dann Abscheu und Ekel, doch dann verengten sich gefährlich ihre Augen. Hinter ihrer hohen Stirn brodelte es mächtig. Sie schien im Geiste ihre beliebte Wutpeitsche aufzunehmen, um nun auf alles, was männlich war, draufzuschlagen. Ja, auch das war Doro!
„… er sagte“, fuhr sie schließlich zähneknirschend fort, „dass ich mein Single-Leben so weiterführen könne wie bisher. Er wäre ja ein moderner Mann, ein Befürworter der offenen Ehe – was auch immer er darunter verstand. Breitgrinsend fügte er noch an, dass mein Name von Sickingen …“, und um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen, klopfte sie mit der Hand mehrmals auf ihre Brust, „tsss … ich kannʼs immer noch nicht glauben, eine Zierde auf seiner Visitenkarte wäre! Kannst du dir das vorstellen?“, empörte sie sich laut. „Anschließend sprach dieser Mistkerl laut und deutlich seinen Vornamen Heinrich-Diether inklusive meines Nachnamens von Sickingen aus. Ich dachte, jetzt ist er völlig übergeschnappt … grrr … dieser blasierte, aufgeblasene Gockel mit seinem übersteigerten Selbstbewusstsein, dieser Möchte-gern-von-Adel-Sein … grrr“, ihre Wut trieb sie vom Stuhl hoch und im Laufschritt um den Tisch, wobei sie adelsunfeine Flüche vor sich hin knurrte. So schnell wie sie aufgestanden war, saß sie auch wieder am Tisch und erzählte, das für sie Unfassbare, weiter: „Nun, und als krönenden Abschluss setzte er noch eins drauf. Lapidar meinte er, dass mein Name von Sickingen geradezu prädestiniert wäre, um Werbung für seine Sportfilialen zu betreiben, naja“, sagte sie achselzuckend, „mein Traumbild von Hochzeit und dem ganzen Gedöns, war danach lautlos in sich zusammengebrochen.“
Charlotte legte tröstend die Hand auf ihren Arm. „Das tut mir sehr, sehr leid für dich!“ Nun, was sollte sie auch sonst sagen.
Beide erhoben gleichzeitig ihre Gläser, nahmen einen kräftigen Schluck und spülten Diethers Unverfrorenheit mit einem Ruck runter.
Erst nach einer ganzen Weile stieß Doro einen kleinen Seufzer des Bedauerns hervor und sagte: „Wo er doch ein so guter Liebhaber war!“
Charlotte musste bei dieser Aussage laut lachen und meinte augenzwinkernd: „Na, dann würde ich ihn ganz nach deinem Motto als Liebhaber behalten und sofort danach hinauskatapultieren“, daraufhin erhob sie ihr Glas und prostete ihrer Freundin aufmunternd zu.
Entrüstung stand in Doros Gesicht. „Was hast du heute eingenommen? Diese lockeren Sprüche kommen dir doch sonst nicht über die Lippen?“
Achselzuckend antwortete Charlotte: „Nun, ich habe Gustav die Kündigung ausgesprochen und jetzt“, seufzte sie erleichtert, „jetzt fühle ich mich zum ersten Mal befreit. Zum Wohlsein!“ Anschließend kippte sie das edle Getränk in ihre Kehle.
„Wie geht das denn?“, wunderte sich Doro, „er ist doch tot!“
„Stimmt! Aber ich hatte mich noch nicht von ihm verabschiedet, in meinen Gedanken hielt ich ihn noch immer fest - doch jetzt ist‘s vorbei. Er ist er endlich über die Brücke ins Jenseits gezogen!“
Kopfschüttelnd, mit ungläubigem Blick entgegnete Doro: „Was du wieder redest. Gib‘s zu … du hast etwas eingeworfen.“
„Nein“, lächelte Charlotte. „Die Erkenntnis ist mir gestern am späten Nachmittag auf dem Friedhof gekommen. Ausschlaggebend war eine alte Frau. Seit Gustavs Beerdigung beobachte ich sie und als ich ihr so nachsehe, wie sie, von der Last des Lebens niedergedrückt, zum Grab ihres Mannes geht, sehe ich mich, Jahre später, selbst in dieser Frau, und ganz plötzlich hat es bei mir klick gemacht!“
„Na, besser spät als nie!“; antwortete Doro wie aus der Pistole geschossen. „Sei froh, dass dieser Ehebrecher, dieser Dauerfremdgeher, der noch nicht einmal vor … ich meine, dass er endlich über die Brücke ist und dich dein Leben leben lässt“, korrigierte sie noch schnell ihre Wortwahl – beinahe hätte sie ihre beste Freundin auf eine Fährte mit fatalen Folgen gesetzt.
Nach einem kurzen Nachsinnieren über Doros Worte fragte Charlotte: „Wie? Was soll das heißen? Der noch nicht einmal vor … was willst du damit andeuten? Weißt du etwas was ich vielleicht wissen sollte?“
Verlegen wandte Doro ihren Blick hinaus zum Garten: „Du heiliges Kanonenrohr“, lenkte sie geschickt vom Thema ab, „was ist denn mit dem Buchsbaum passiert? Welcher Banause hat den so verstümmelt?“ Im nächsten Moment stand sie auf und ging über die Terrasse zu dem traurig aussehenden Gewächs hin.
Charlotte ließ vom Thema ab und folgte ihr. „Das? … Das war die Vertretung unseres alten Gärtners, er hatte wohl seine Schere nicht richtig im Griff. Tja, auch die arme Frida war ganz entsetzt über die stümperhafte Arbeit“, seufzte sie. „Ich muss ihn unbedingt anrufen, dass er den Buchsbaum wieder in seine ursprüngliche Form bringt.“
„Apropos, wie geht‘s Frida?“, fragte Doro mit besorgter Miene, „ich hab sie seit Gustavs Beerdigung nicht mehr gesehen.“
„Die arme Frida“, antwortete Charlotte kopfschüttelnd, „ihre Krankheit wird von Tag zu Tag schlimmer. Einfach unvorstellbar! Noch vor einigen Wochen war sie mit dem Auto unterwegs und eines Tages, ja, da fand sie den Weg nicht mehr zurück. Sie muss Stunden orientierungslos umhergefahren sein. Schließlich hat ein Passant sie weinend im Wagen vorgefunden, die Polizei alarmiert und die, die hatte Frida dann nach Hause gebracht. Nicht auszumalen, was alles hätte passieren können.“
„Meine Güte“, sagte Doro zutiefst gerührt, „das ist ganz schön brutal.“
„Und wie! Es ist, als ob eine Gehirnkammer nach der anderen sich schließt. Ihre geistige Klarheit, auch ihre Sprache haben … hm … wie soll ich’s formulieren?, sie haben Löcher bekommen – ja, so könnte man es ausdrücken.“ Nachdenklich und bitterlächelnd fügte sie an: „doch dann gibt es noch diese hilflose, ja, unschuldige Seite an ihr, eine Seite die man nicht übersehen kann. Verstehst du, was ich meine?“
Mit zusammengezogenen Augenbrauen nickte Doro: „Ja, ich denke schon.“
Eine Weile standen sie sprachlos einander gegenüber, um dieser scheußlichen Krankheit Gelegenheit zu geben, sich zu verflüchtigen.
„Naja“, seufzte Charlotte, „in bestimmten Situationen denke ich, dass es vielleicht besser wäre, wenn …“ nein, sie konnte das Wort Pflegeheim nicht aussprechen, es wollte einfach nicht über ihre Lippen.
„Du meinst, dass du Gustavs Wille doch nachkommen solltest?“, ergänzte Doro.
„Ja und nein“, druckste Charlotte, „doch so lange Lilo, die gute Seele, sich so rührend um sie kümmert, bleibt Frida hier, hier in ihrer vertrauten Umgebung. Und überhaupt, schließlich habe ich ihr viel zu verdanken. Ich würde es als Verrat an ihr ansehen. Sie war mir immer eine führsorgliche Schwiegermutter, mehr noch, sie war mir eine gute Freundin, die mir in all den Jahren, mit Rat und Tat zur Seite stand. Sie war mir eine große Stütze, gerade dann, wenn Gustav mal wieder einer seiner unsäglichen Affären hatte.“ Beschämt, auch unangenehm berührt von jenen Erinnerungen, senkte sie ihren Blick und ging zum Tisch zurück.
„Stütze!“, echauffierte sich Doro lautstark, „also ich hör‘ wohl nicht richtig“, sie folgte ihrer Freundin auf dem Fuße, wobei sie im Geiste wieder ihre beliebte Wutpeitsche fest umschlossen hielt. „Bei allem Verständnis, meine Liebe, aber du solltest die Kirche im Dorf lassen. Tsss … Stütze“, wiederholte sie kopfschüttelnd. Verärgert ließ sie sich auf den Gartenstuhl fallen, schnappte die Champagnerflasche und kippte das edle Getränk in die Gläser. „In erster Linie, meine liebe Charlotte, war sie Gustavs Mutter und insofern nur um sein Wohl sowie seinen Seelenfrieden bemüht – glaub mir. Aber sag, Charlotte, warst du wirklich so naiv?“, schob sie aufgebracht hinterher.
Perplex sah Charlotte zu ihrer Freundin. „Was ist plötzlich wieder in dich gefahren? Ich wusste immer über seine diversen Frauengeschichten Bescheid“, verteidigte sie sich, „und wenn ich ihn hätte verlassen wollen, so hätte ich es getan. Basta!“
„Nie im Leben hättest du das getan – never!“, fügte Doro besserwisserisch an und streckte dabei ihr schmales, adeliges Näschen arrogant in die Höhe.
„Also ich bitte dich, Doro, nur weil du schlechte Erfahrungen mit den Herren der Schöpfung gemacht hast, brauchst du mich nicht anzupflaumen, und erst recht nicht lass ich mir von dir, mein gerade erst wieder aufgebautes Ego, demontieren!“
In solchen Situationen hasste sie Doro, hasste sie für ihre destruktive Art die sie dann hervorkehrte.
Für einen Augenblick saßen sie wie Katz und Maus einander gegenüber. Jede fand sich sowohl in der Position der Katze auf dem Sprung, als auch als schutzsuchendes Mäuschen in einer Ecke kauernd.
Ein Zustand, der gottlob, nur von kurzer Dauer war.
Doro machte, ganz wie es ihrem Charakter entsprach, den ersten Versöhnungsschritt und sagte: „Ah, bevor ich es wieder vergesse, da fällt mir gerade ein, wenn du Lust hättest, könntest du, in meinem Auftrag, eine Immobilie in Südfrankreich besichtigen – ganz so wie früher“, dabei zwinkerte sie Charlotte zu und meinte: „auf dein Augenmerk war schließlich immer Verlass.“
Charlotte war von dem Angebot so überrascht, dass sie vergaß weiter sauer auf sie zu sein. Erstaunt hakte sie nach: „Wie jetzt? Ist das dein Ernst?“
„Sehe ich so aus, als ob ich scherze?“ Erleichtert, dass ihr Ablenkungsmanöver geglückt war, prostete Doro ihrer Freundin zu. „Stößchen auf dein neues Leben. Dann werde ich dir in den nächsten Tagen eine Adresse zukommen lassen. Okay?“, fügte sie mit ihrem schönsten Augenaufschlag an.
Ja, auch so war Doro, mal beherrscht, mal exaltiert, doch immer wieder versöhnlich, und wahrscheinlich hielt gerade deshalb ihre Freundschaft schon so lange.
Charlotte spürte eine leichte Beklemmung aufsteigen, die sogleich eine Maschinerie in ihrem Kopf in Gang setzte: Ich muss … ich sollte … ach … und könnte sie Lilo mit Frida wirklich alleine lassen? Was wäre wenn? Schließlich trägt sie die Verantwortung! – Nein! Kurzerhand stoppte sie dieses Gedankenkarussell das immer mehr Zweifel und Fragen zu produzieren schien und sie in einem rasanten Tempo wieder zurück in den Alltag, in das triste Allerlei zu schubsen drohte. Es ist dein Leben das vor dir liegt und vielleicht deine letzte Chance, ermahnte sie schließlich ihr nüchterner Verstand, also, nur Mut! Dann wich die Beklemmung und sie jubelte laut: „Jaaa … ich werde es tun!“, und diesem Glücksgefühl folgte ein befreiendes Lachen.
„Na, das ist doch mal eine Ansage!“, antwortete Doro in Begleitung eines zufriedenen Seufzers, „dann kann ich gleich Monsieur Renoir Bescheid geben, dass du kommst. Du musst wissen, dass Pierre, ich meine Monsieur Renoir, der Eigentümer des zu veräußernden Objektes ist, und ja, er ist ein wunderbarer Mensch“, schwärmte sie, wobei in ihren Augen schon wieder dieses unmissverständliche Strahlen lag. „Ach, was rede ich, du wirst ihn kennenlernen und ihn mögen, davon bin ich felsenfest überzeugt!“
Ah sieh an, schoss es Charlotte durch den Kopf, verzichtete aber auf eine bissige Bemerkung.
Sie redeten, planten, tranken Champagner und alberten bis in die späten Nachmittagsstunden, wobei das brisante Thema: Männer, absichtlich nicht mehr aufgegriffen wurde. Mit einer herzlichen Umarmung sowie Doros Standardspruch: Und immer schön lächeln, dann wird dir die Welt zurücklächeln, gingen sie auseinander.
Als Charlotte wieder alleine war, legte sie sich zufrieden im Gartenstuhl zurück, lächelte und dachte über Doros Spruch nach. Sie lächelte aber auch deshalb, weil eine neue Welt ihre Pforten für sie geöffnet hatte. „Hallo Welt, ich komme“, sagte sie laut. In diesem Moment hätte sie Luftsprünge machen können und sie war mutig genug, erste fantastische Gespinste um ihr neues ich zu weben: Vor ihrem geistigen Auge sieht sie sich als Immobilienmaklerin durch ferne Länder reisen, sieht sich durch traumhafte Villen schreiten und mit den interessantesten Menschen plaudern. Jetzt hielt sie nichts mehr auf dem Stuhl, sie lief auf der Terrasse auf und ab, dabei war sie so sehr mit ihren neuen Lebensplänen beschäftigt, dass alles um sie herum nicht mehr existierte.
Irgendwann mischte sich ein heftiges Wortgefecht zwischen ihre zurechtgesponnene und bunte Traumwelt. Frida und Lilo diskutieren lautstark miteinander. Sie hörte, wie Frida trotzig und zum wiederholten Male Lilos Anweisungen widersprach, auch wenn Charlotte nicht verstand um was es bei dem Disput ging, so war die Modulation ihrer Stimmen schon hinweisführend. Plötzlich schepperte es, es folgte ein spitzer Aufschrei von Lilo, zwei Sekunden war es still, dann schepperte es erneut.
Charlotte lief mit klopfendem Herzen dem Krach entgegen.
Frida stand wie paralysiert vor den Scherben zweier sündhaft-teuren chinesischen Bodenvasen.
Lilo presste vor Schreck, um auch nicht mehr aufzuschreien, die Hand vor den Mund. „Frau Frida!“, sagte sie schließlich entsetzt, „oh mein Gott … ein Vermögen liegt auf dem Boden!“
Charlottes Blick fiel auf die Porzellanteile die über den Boden verstreut lagen, dann zu Lilo und zu guter Letzt zu Frida, die völlig hilflos, wie ein verstörtes Kind, vor den Trümmern stand und gar nicht begriff, was überhaupt geschehen war.
Für einen Moment stockte Charlotte der Atem, und innerhalb von nur wenigen Sekunden löste sich ihre zurechtgesponnene Traumwelt auf, die Pforte zu ihrer neuen Welt rückte in die Unerreichbarkeit und infolge dieser Erkenntnis sank sie innerlich zusammen.
Lilo gewann zuerst wieder die Kontrolle über die Situation. „Frau Frida, nicht traurig sein, das waren doch nur dumme Vasen in denen niemals Blumen standen.“
„Niemals?“, echauffierte sich Frida, sogleich hielt sie suchend Ausschau und rief: „Wo ist Gustav? Er … er soll das wegmachen“, wobei sie eine entsprechende Geste mit den Händen machte.
Charlotte und Lilo tauschten fragende Blicke.
Schließlich hakte sich Lilo bei Frida unter und sagte tröstend: „Wir beide gehen jetzt in die Küche, trinken Tee und essen dazu leckere Kekse.“
Frida gehorchte.
Charlotte ging in die Hocke, betrachtet den Scherbenhaufen, dachte an Fridas geistigen Verfall und sah ihre neuen Lebenspläne zwischen den filigranen Porzellanteilen langsam entschwinden.
Sie wollte doch immer für Frida da sein, durchfuhr sie ein schmerzlicher Gedanke, und jetzt, wo sie auf ihre Hilfe angewiesen war, konnte sie doch nicht so egoistisch sein und verreisen.
Behutsam hob sie einige der Scherben auf, drehte sie nachdenklich in ihren Händen und legte sie dann vorsichtig wieder zurück. Vielleicht könnte ein Experte sie zusammen kleben? Doch dann bemerkte sie, wie klein und zersplittert die Teile waren. Nein, die Vasen waren rettungslos verloren!
Wie dein Leben! Und wenn du jetzt nicht endlich deinen eigenen Weg gehst, wird es für immer zu spät sein!
Eine Prozession missvergnügter Gedanken setzte sich langsam in Bewegung und drohte sie langsam zu demontieren. Im nächsten Moment gingen ihr Lilos Worte durch den Kopf. Wie recht sie doch hat, dachte sie kopfschüttelnd, es waren doch nur dumme Vasen! „Ja, und für mich“, murmelte sie, „für mich keinen Grund, meine Träume und Pläne wieder zu verwerfen.“ Kurzerhand schob sie ihre zermürbenden Gedanken zur Seite, nahm Besen und Schaufel zur Hand und fegte die Scherben zusammen.