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Flucht aus der Ehe
ОглавлениеZum Glück gab es noch eine andere Welt in die Marie-Claire flüchten konnte, wenn Zuhause mal wieder der Haussegen schiefhing. Ihr Elternhaus war der ideale Rückzugsort, denn nur hier, in ihrem alten Zimmer, das über all die Jahre unverändert blieb, fühlte sie sich sicher und geborgen, und sie liebte es direkt von ihrem Bett auf die Kirchturmspitze, mit all ihren Zacken und Zinnen, zu blicken. Bewusst versuchte sie dann den Sprung aus der realen Welt in jene unbeschwerte Jungmädchenzeit von damals zu schaffen, um so ihr Aufgewühlt-Sein zu besänftigen. Ihrer Mutter – die den Blick des Immer-alles-Wissens, gepaart mit einem nachsichtigen Lächeln vor sich her trug – konnte sie nichts vormachen, sie war stets über ihre Eheprobleme im Bilde. Schon gleich zu Anfang ihrer Ehe hatte Marie-Claire ihr verboten sich einzumischen und so blieb es immer nur bei einem warmen Essen, das, wie ihre Mutter es tröstend formulierte: Körper und Seele zusammenhält. Für einen Moment vergrub sie ihr Gesicht im Kopfkissen, sie wünschte sich nichts sehnlichster, als dass diese letzte Nacht nur ein böser Albtraum gewesen wäre, dass sie gleich aufwachen würde und alles wäre wieder gut. Ja, alles, alles, alles, hallte es in ihr nach. Mitten in diesen ersten zaghaften Versuch ihre unglückliche Ehe zu rehabilitieren, drang unvermittelt das Geläut der Kirchturmglocke und erinnerte sie an die knallharte Realität – und verflucht, das Geschehene ließ sich nicht mehr rückgängig machen, die Würfel waren für sie gefallen!
In all den Jahren war es Marie-Claire gelungen über ihre Ehe ein perfektes Lügengebilde zu spannen, stets hatte sie sowohl für Eugens verbale Übergriffe, als auch für seine Handgreiflichkeiten passende Ausreden parat, „nur dieses Mal“, fluchte sie laut, um sich selbst Mut zuzusprechen, „diese Mal bist du zu weitgegangen. Schluss! Aus! Vorbei!“ Ihrem Entschluss entsprechend wollte sie sich aus dem Bett schwingen, doch heftige Schmerzen im Hüftbereich und an Oberschenkeln bremsten sie sogleich wieder ab. Das ganze Ausmaß seiner Brutalität kam erst jetzt und bei Tageslicht zum Vorschein. „Oh mein Gott“, brach es entsetzt aus ihr heraus, als sie Spuren seiner Finger auf ihren Oberarmen entdeckte. Die Grenze des Entschuldbaren hatte er somit definitiv überschritten! „Aus! Aus! Aus!“, sagte sie resolut und kroch mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Bett. Der nächste Schock kam dann beim Anblick in den Spiegel. Um ihr linkes Auge schimmerte ein hellblaues Veilchen das mit Sicherheit in den nächsten Stunden in allen Farben erblühen würde. Ein erstes inneres Beben signalisierte Angst: Angst vor den Folgen einer Trennung, Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Alleinsein. „Nein, das hast du nicht verdient“, knurrte sie kopfschüttelnd ihrem Spiegelbild entgegen, „nein, das nicht!“ Dem Selbstmitleid trotzend wandte sie sich von der Geschundenen im Spiegel ab, stieg ins Duschbecken und drehte die Armatur auf heiß – sehr heiß – um dann in einer dampfenden Wasserwolke unsichtbar zu werden. Wie üblich fing sie mit dem Einseifen an, anfangs wusch sie noch behutsam über die malträtierten Körperstellen doch ganz plötzlich wollte sie nur noch die Horrorstunden der Nacht – die brutale Gewalt eines Psychopathen – entfernen, unter Tränen fing sie an zu schrubben, sie rieb und bürstete so heftig bis der äußere Schmerz den inneren überlagert hatte, auch wenn ihr dabei zum Schreien war, so blieb es nur bei einem stillen Weinen.
Nach Beendigung ihrer psychischen Säuberung, versuchte sie mit einem Concealer und ordentlich Puder das Umfeld ihres Auges zu kaschieren, was sich jedoch als äußerst schwierig erwies, denn das Auge war nicht nur gerötet, sondern auch stark angeschwollen. Da half nur noch Plan B, ihre Kummer-Versteck-Brille mit den blauschimmernden Gläsern musste her, und verdammt, sie hasste dieses Ding! Mit spitzen Fingern griff sie ins Seitenfach ihrer Handtasche, kaum aufgesetzt überkam sie auch schon gleich dieses beklemmende Gefühl der Erniedrigung, des Nichts-Wert-Seins. Vor Jahren, als das Verliebt-Sein in den Alltag überging, Eugen seine Maske fallen ließ und er sein wahres Ich präsentierte, hatte sie sich diese Brille zugelegt. Und ganz plötzlich war die Vergangenheit wieder präsent: Sie sieht wie er sie das erste Mal vor Freunden und Bekannten demütigt, ja, sie mit Worten gezielt mundtot macht. Oh ja, und mit Schrecken erinnert sie sich an das Gefühl der Bloßstellung. Die ganze Nacht hatte sie daraufhin vor Enttäuschung und Scham geweint. „Ja“, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild, einen Grund mehr deinen Entschluss endgültig durchzuziehen, doch dazu benötigte sie erst einmal die Unterstützung ihrer Mutter.
Ihre Mutter, die im Zentrum ihrer eigenen Emotionen lebte, hatte sich nach dem spurlosen Verschwinden ihres Vaters, vor nun mehr vierzig Jahren, von der Außenwelt weitestgehend abgekapselt. Marie-Claire war damals gerade mal fünf Jahre und die Erinnerungen an ihren Vater waren nur spärlich bis gar nicht vorhanden. Laurel, ihr zehn Jahre älterer Bruder, hatte ihn danach gnadenlos aus seinem Gedächtnis gestrichen, für ihn war er nicht mehr existent. Das Thema: Vater, war ab dem Zeitpunkt für alle tabu!
Es war am frühen Morgen, der März noch nicht zu Ende, da stand ihre Mutter bereits mit Gummistiefeln, Forke und Spaten bewaffnet im Garten. „Die Mondphase steht günstig“, sagte sie ohne ihre Tochter dabei anzusehen, „bei zunehmendem Mond soll man Pflanzen die nach oben wachsen aussäen.“
Marie-Claire kannte ihre Mutter gut genug, ihr war durchaus bewusst, dass sie ihr Eintreffen in den frühen Morgenstunden bemerkt hatte. Wortlos setzte sie sich auf die kleine Gartenmauer, um ihr bei der Arbeit zuzusehen. Ihre Mutter legte großen Wert darauf, dass das Bewirtschaften des Gartens im Einklang mit dem Mondkalender geschah, daher war es sinnlos sie jetzt mit ihren Problemen belästigen zu wollen.
Mittels einer Forke begann ihre Mutter zuerst einmal die Beete von trockenem Laub und kleinerem Geäst zu befreien, als sie alles zusammen hatte, steckte sie Zeitungspapier unter das Gestrüpp, kramte aus ihrem grünen Arbeitsoverall ein Feuerzeug hervor und zündete das Papier an. Es dauerte nicht lange, da hatten sich die Flammen mit lautem Geknister durch das trockene Gestrüpp geschlängelt, und nur wenige Augenblicke später war alles verbrannt, was übrig blieb war eine helle Rauchwolke die durchs Geäst der alten Kastanie zum Himmel zog. Marie-Claire und ihre Mutter sahen dem Rauch solange nach, bis der Wind ihn verwirbelt hatte. Die restliche Asche würde sie gleich in die Erde einarbeiten, danach würde sie die Beete ausmessen, kleine Stöckchen in die Erde treiben und diese mit einer Richtschnur verbinden – nach ihr würde sich später die Bepflanzung richten. Und so geschah es! Meine Güte, wie vorhersehbar sie war! Ein Leben ohne ihren Garten wäre für sie undenkbar, hatte sie einmal gesagt, und so hatte sie sich, über all die Jahre, ihr eigenes kleines Paradies geschaffen. Eine grüne Oase in der eine Vielfalt von Insekten und Vögeln beheimatet waren. Am Rande der Idylle entdeckte sie schließlich den stillgelegten Ziehbrunnen, und wie eh und je lenkte obenauf eine Pflanzschale, die je nach Jahreszeit bepflanzt wurde, von seiner unnützen Existenz ab. Über den Winter duckten sich Stiefmütterchen schutzsuchend unter ein üppiges Heidekrautgewächs, im Frühling jubelten Narzissen den ersten Sonnenstrahlen entgegen, und im Sommer zierten gefüllte Miniröschen die Schale. Ihr Bruder Laurel hatte ihn, aus welchen Gründen auch immer, Mamas Mausoleum getauft. Bewusst sah sie nun zu dem Brunnen hin und heute wie damals hatte er etwas Geheimnisvolles, ja, wenn nicht sogar etwas Verwunschenes. Kurzum, es war der ideale Spielplatz für kleine Mädchen mit Hang zur Mystik. Damals hatte ihre Mutter ihr verboten dort zu spielen, das Gelände sei viel zu abschüssig und viel zu gefährlich. Und nach heutiger Betrachtung musste sie ihr zustimmen, denn nur wenige Schritte hinter dem Brunnen ging es steil den Abhang zum Fluss hinunter, und wenn sie jetzt bewusst lauschte, konnte sie das gleichmäßige Gurgeln des Wassers im Flussbett hören.
Schließlich, nach stundenlanger Schufterei, stützte sich die mittlerweile Fünfundsiebzigjährige auf ihren Spaten, mit einem befreienden Seufzer und einem zustimmenden Kopfnicken deutete sie an, dass sie mit ihrem Tagewerk zufrieden sei.
Während der ganzen Zeit hatte Marie-Claire auf der Gartenmauer gesessen und ihr dabei zugesehen, die Art und Weise, ja, mit welcher Gelassenheit und Perfektion sie das tat, war am heutigen Morgen – nach dieser für sie schrecklichen Nacht – Balsam für ihre geschundene Seele.
Pünktlich mit dem zwölften Glockenschlag der Kirchturmuhr, sagte ihre Mutter: „Wir sollten etwas essen. Geh schon mal vor und dreh den Backofen auf zweihundert Grad. Ich pack den Krempel noch zusammen und komm dann nach.“
Marie-Claire tat wie ihr befohlen und als sie die Küche betrat, musste sie, trotz all ihrem Elend, lächeln. Nein, ihrer Mutter konnte man wirklich nichts vormachen, sie wusste, dass sie sich wieder einmal ins Haus geschlichen hatte, denn im Ofen stand nicht nur ihr Lieblingsessen: ein Nudelauflauf mit besonders viel Parmesankäse, auch der Tisch war für zwei Personen eingedeckt. Wie geheißen hatte Marie-Claire den Ofen angedreht, und genau wie früher saß sie nun davor, um dem Auflauf beim Brutzeln zuzusehen, und während sie das tat, dachte sie darüber nach, wie sie ihrer Mutter am Geschicktesten ihre Situation erklären könnte.
Das Mutter-Tochter-Verhältnis war von je her nicht ganz unproblematisch und nicht zuletzt deshalb, weil ihre Mutter ihr eigenes Leben an der Tochter zu korrigieren versuchte, sondern auch deshalb, weil sie gerne über alles die Kontrolle hatte. Das Resultat war vorhersehbar: gleich nach dem ersten Semester an der Uni hatte Marie-Claire das Literaturstudium gegen eine Buchhändler-Lehre eingetauscht, auch ihre Ehe mit Eugen war viel mehr eine Trotzreaktion auf die Ermahnung ihrer Mutter.
Doch jetzt galt es Farbe zu bekennen, endlich zuzugeben, dass sie in allem recht hatte! Aber wie kapituliert man ohne dabei sein Gesicht zu verlieren? Zu weiteren Überlegungen kam sie nicht mehr, denn im nächsten Augenblick polterte ihre Mutter, im Kampf mit dem Stiefelauszieher, gegen die Terrassentür. Murrend, ohne ihre Tochter eines Blickes zu würdigen, betrat sie die Wohnküche. In ihren ausgetretenen Pantoffeln schlurfte sie an ihr vorüber, schielte zum Backofen und sagte: „Gleich fertig, ich spring noch rasch unter die Dusche, danach können wir …“, fügte sie sachlich an.
Marie-Claire nickte und sie wusste, dass es für ihre Eheprobleme keine Ausflüchte mehr geben würde.
Kurze Zeit später stand ihre Mutter raumfüllend in der Küche. Sie öffnete den Backofen, stach mehrmals mit einer Gabel in den dampfenden Auflauf, nickte zufrieden und bugsierte dann die heiß-duftende Köstlichkeit, mit den Worten: „Vorsicht heiß und fettig“, mitten auf den Küchentisch, anschließend schaufelte sie jedem eine Portion auf den Teller, wobei sie beim Verteilen nicht gerade pingelig war.
Marie-Claire brachte keinen Bissen runter, ihre Kehle wurde von ihren Problemen dermaßen blockiert, dass sie nur in ihrem Essen herumstochern konnte. „Aufgewärmt schmeckt der Auflauf noch viel besser“, kommentierte sie schließlich ihre Appetitlosigkeit.
Ohne den Blick von ihrem Teller zu heben, begann ihre Mutter schließlich mit der Inquisition: „Raus mit der Sprache, Marie-Claire, was ist los mit dir?“
„Es ist aus!“, sagte sie wie auf Knopfdruck. „Meine Ehe ist am Ende!“
Ihre Mutter unterbrach ihren Kauvorgang und sah sie mit großen Augen an – sagte aber nichts.
„… aus und vorbei!“, schob Marie-Claire zur Verdeutlichung hinterher, und mit ihrer eigenen Aussage spürte sie eine kleine Erleichterung. Ja, es war vollbracht! Sie hatte den Auftakt zu ihrem persönlichen Drama ausgesprochen.
Mit einem ungläubigen „Ach-Ja-Stöhnen“ legte ihre Mutter die Gabel zur Seite, anschließend nahm sie eine Serviette und tupfte sich in aller Gemütsruhe den Mund ab, doch just in dem Moment als sie ihren Kommentar abgeben wollte, sagte Marie-Claire laut und deutlich: „Es ist endgültig aus!“, wobei sie ihrer Mutter einen angriffslustigen Blick zuwarf.
„Setz die alberne Brille ab“, forderte ihre Mutter sie sogleich auf, „ich will deine Augen sehen.“
Marie-Claire gehorchte, wobei ihr bewusst war, dass weder Puder noch Abdeckstift das mittlerweile voll erblühte Veilchen abdecken konnten.
„Oha“, stieß Ella hervor und presste vor Schreck die Hand auf den Mund. „Mein Gott, Kind“, seufzte sie kopfschüttelnd, „dieses Mal hat er es aber gehörig übertrieben!“
Marie-Claire fühlte sich erneut gedemütigt und setzte sofort die Brille wieder auf.
„Jedes Mal, wenn du dich in deinem Zimmer unter der Bettdecke verkrochen hast, war mir klar, dass das kein gutes Ende nehmen wird. Hab ich dir nicht immer gesagt …“
„Jaaa und genau aus dem Grund werde ich ihn nun verlassen“, fiel sie ihr sogleich ins Wort, denn nur allzu gut kannte sie ihre ausschweifenden Belehrungen.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte Ella etwas ungläubig ihre Tochter, „ja, ja Kind, ich weiß“ seufzte sie mit einer abweisenden Handbewegung.
„Glaub mir, dieses Mal ist es anders“, verteidigte sie sich, wobei sie demonstrativ und mit Nachdruck ihre Gabel so auf dem Teller ablegte, dass es kurz aufschepperte.
„Ah, nenn mir einen einzigen Grund warum ich dir das gerade jetzt glauben soll?“
Achselzuckend antwortete Marie-Claire: „Weil es so ist und weil, weil“, stotterte sie, „weil ich jetzt erst dazu bereit bin!“
„Und nun? Wie soll’s weitergehen?“, fragte ihre Mutter stirnrunzelnd wobei sie ihre Tochter nun etwas genauer ins Visier nahm.
„Naja, ich wollte dich fragen ob ich, also nur vorübergehend, so lange hierbleiben kann, bis ich eine eigene Wohnung gefunden habe.“
„Alles Geldverschwendung“, antwortete Ella barsch, „das Haus ist groß genug für uns beide und soweit ich mich erinnern kann, hast du nur eine Aushilfsstelle“, fügte sie überspitzt an, wobei ihre Mimik genau das widerspiegelte, was sie über den Job ihrer Tochter dachte.
„Jaaa, aber nicht mehr lange“, gab Marie-Claire prompt zurück.
Ihre Mutter unterbrach erneut ihren Kauvorgang und sah sie erwartungsvoll an.
„Ab dem nächsten Monat wird eine Ganztagsstelle in der Buchhandlung frei“, fügte sie erklärend und mit einem schnippischen Unterton an, „eine Mitarbeiterin wechselt aus familiären Gründen die Stadt. Ich habe mit meinem Chef bereits gesprochen und der, der ist äußerst angetan von dem Gedanken, dass ich die Stelle übernehmen werde“, wobei sie ihre Nase triumphierend empor streckte.
Skeptisch beäugte Ella ihre Tochter, „hast du was mit ihm?“, schoss es dann unverblümt aus ihr heraus.
„Mit wem?“, fragte sie überrascht, wobei eine leichte Röte bereits verräterisch über ihr Gesicht zog.
„Na, mit deinem Chef – dem Buchhändler!“
Völlig perplex sah sie ihre Mutter an.
„Wusst ich’s doch, dass dieser Marc Haber dahintersteckt“, schob sie enttäuscht hinterher. „Tsss, das ist mal wieder typisch für dich.“
„Meine Güte Ella!“, empörte sich Marie-Claire – Immer wenn es zu ernsten Diskussionen zwischen ihnen kam, nannte sie ihre Mutter beim Vornamen.
„Na, ist doch wahr!“ verteidigte sich Ella kopfschüttelnd, „musst du dich denn gleich von einer Abhängigkeit in die nächste stürzen! Ich verstehe das nicht! Ich verstehe dich nicht!“
„Man kann einfach nicht mit dir reden“, gab Marie-Claire enttäuscht zurück, „immer wenn es um das Thema Männer geht, wirst du übellaunig! Ach, weißt du was, Ella, vergiss es! Ich werde in eine Pension ziehen.“ Abrupt sprang sie auf, zu schnell für ihre Blessuren im Hüftbereich, der heftige Schmerz verzerrte kurz ihr Gesicht, doch über all die Jahre hatte sie gelernt gute Miene zum bösen Spiel zu machen, eingeschnappt warf sie den Kopf in den Nacken und eilte zur Tür.
„Bleib hier und setz dich!“, befahl Ella in einem scharfen Ton, „und lass das alberne Theaterspiel. Benimm dich endlich einmal wie eine erwachsene Frau.“
Marie-Claire stutzte einen Moment, dann gehorchte sie und kam mit gesenktem Haupt an den Tisch zurück – so wie früher als Kind, wenn sie von ihrer Mutter getadelt wurde.
Für einige Minuten herrschte Funkstille zwischen den beiden.
Ella nützte die Zeit, setzte den Wasserkessel auf die Herdplatte und begann mit ihrer Tee-Zeremonie – das tat sie immer, wenn sie am Grübeln war – sie nahm die Teekanne vom Bord über dem Ofen und gab vier gehäufte Löffel Schwarztee hinein, mit Bedacht stellte sie dann zwei Tassen, aus feinstem Chinaporzellan, sowie das kleine Silberschälchen, das mit verschiedenen Zuckersorten bestückt war, auf ein Serviertablett. Während der gesamten Zeit hatte sie keinen Mucks von sich gegeben, ihre volle Konzentration galt nur der Zubereitung des Tees, erst als sie das heiße Wasser in das Teekännchen goss, durchbrach sie das Schweigen und sagte: „Die Teeblätter müssen wie Ballerinen im Wasser tanzen, nicht sprudeln, denn nur so können sie ihre ganzen Aromen entfalten.“
Marie-Claire nickte gehorsam, auch wenn sie ein wenig verärgert über die Gelassenheit ihrer Mutter war, so tat sie ihr am heutigen Morgen – nach dieser grauenvollen Nacht – dennoch gut. Ihre Beständigkeit, ihre Routinen und ihre Selbstsicherheit die sie an den Tag legten, wirkten äußerst beruhigend auf ihr aufgewühltes Innenleben.
Ja, mit ihr im Rücken, konnte ihr niemand etwas anhaben.
Dieses Gefühl hatte ihr schon als Kind Sicherheit vermittelt, und plötzlich musste sie schmunzeln, denn auch Eugen hatte vor Ella Respekt. Kurz dachte sie darüber nach warum Ella so war, wie sie war. Aber wahrscheinlich wird man so, wenn man vierzig Jahre alleine lebt, zwei Kinder großzieht und für den Lebensunterhalt selbst sorgen muss.
Ihre Mutter saß ihr nun wieder gegenüber, sie goss den Tee durch ein Sieb in die Tassen und machte dazu ein nachdenkliches Gesicht. „Kind“, seufzte sie schließlich, „wenn du das nicht aus eigener Kraft schaffst, wirst du nie ein selbständiger Mensch werden. Meine Lebenszeit reicht nicht mehr aus, um dir immer wieder schützend zur Seite zu stehen.“
„Was soll ich denn tun?“ entgegnete Marie-Claire achselzuckend, „ich bin nun mal nicht die starke Frau die du bist. Ich brauche eine starke Schulter an die ich mich anlehnen kann.“
Ella schüttelte den Kopf, „dabei habe ich immer geglaubt es reicht aus es dir vorzuleben. Tsss, aber das ist ja dann wohl völlig in die Hose gegangen“, entgegnete sie enttäuscht. Verärgert darüber ließ sie ein Stück Zucker in ihre Teetasse plumpsen, sodass einige Tropfen auf den Tisch spritzten. „Da haben Frauen über Jahrhunderte um die Gleichberechtigung gekämpft und dann so was!“, gemäß ihrem Unmut fegte sie mit der flachen Hand die Teetropfen vom Tisch.
„Es kann nicht jeder so cool sein wie du!“, konterte Marie-Claire eingeschnappt.
Ella schlürfte an ihrem Tee und sah sie über den Rand ihrer Tasse an. „Gut“, gab sie dann klein bei, „Eins zu Null für dich! Hast du deinen Kram dabei?“
„Nein, aber da hätte ich gleich die nächste Bitte …“
„Die da wäre?“
„Ich möchte nicht mehr alleine ins Haus zurück. Würde es dir etwas ausmachen mit mir zu kommen?“, fragte sie zögerlich und mit dünner Stimme, „also nur für alle Fälle.“
„Hm … und wann soll die geheime Mission starten?“, fragte Ella sachlich.
„Gleich morgen früh, wenn Eugen aus dem Haus ist. Ich möchte nicht, dass er da ist, wenn ich meinen Kram zusammenpacke“, fügte sie leicht überspitzt an, „und außerdem wäre es sehr hilfreich, wenn du mir beim Packen behilflich sein könntest.“
„Wofür so eine coole Mutter doch gut sein kann“, spöttelte sie.
„Das ist lieb von dir“, antwortet Marie-Claire mit einem dankbaren Lächeln.
Sie kannte ihre Mutter gut genug und wusste, dass unter der harten Schale ein weicher Kern steckte. Nie und nimmer würde sie ihre Kinder im Stich lassen, ganz egal was auch passieren würde.
Ein leichtes Kratzen an der Terrassentür beendete abrupt das Thema. Es war eine silbergraue Katze die um Einlass bat.
„Seit wann hast du denn eine Katze?“, wunderte sich Marie-Claire.
Ella eilte sogleich zur Tür, um das bittende Tier hereinzulassen. „Das ist Chef! Chef darf ich vorstellen, das ist meine Tochter, Marie-Claire!“ Die Katze blieb kurz stehen, sah sie an, miaute und wandte sich dann eilig dem Fressnapf zu.
„Chef! Was für ein eigenartiger Name“, bemerkte Marie-Claire und rümpfte dabei die Nase, „wieso nennst du sie Chef? Und wo hast du sie überhaupt her?“
„Zum Ersten ist sie ein Kater, zum Zweiten weil er der Chef hier ist, und zum Dritten hat er sich sein neues Zuhause selbst ausgesucht. Katzen sind da sehr eigenwillige Wesen“, fügte sie mit einer Selbstverständlichkeit an, als ob sie schon immer Katzen gehabt hätte. „Tagelang scharwenzelte er im Garten umher, bis er eines Morgens mit einer Wühlmaus, die mir zuvor den halben Garten umgegraben hatte, vor meiner Tür saß, und da wusste ich, dass wir zusammengehören.“
Marie-Claire musste unvermittelt auflachen und sagte: „Ja, ja eigenwillige Geschöpfe finden immer einander!“
Ella fasste ihre Bemerkung als Kompliment auf, grinste und gab Chef eine zusätzliche Portion feinstes Katzen-Ragout.
Ella war etwas blass um die Nase und hatte sich am frühen Nachmittag in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, um, wie sie selbst entschuldigend anmerkte, sich von der anstrengenden Gartenarbeit am Morgen auszuruhen.
Marie-Claire streifte währenddessen unkontrolliert durch ihr Elternhaus, nichts nahm sie wahr, weder den Kater der ihr auf Schritt und Tritt folgte, noch ihre Umgebung. Ihr war als würde die Welt nicht mehr richtig rund laufen, als hätte man ihr die Orientierung genommen. Sie trudelte durch ein Chaos undefinierbarer Gefühle, dazwischen tauchten immer wieder Bildfetzen der letzten Nacht auf, Bilder die sie erschauderten und gleichzeitig lähmten, es waren Bilder die Eugen als Monster zeigten: sein sonst so ausgewogenes Gesicht – in das sie einst so verliebt war – hatte sich in eine wütende Grimasse verwandelt, verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht, was, um alles in der Welt, hat dich bloß so werden lassen?, dachte sie, dabei versuchte sie sich zu erinnern, wann zum ersten Mal die Übergriffe anfingen, und wann aus dem charmanten, zuvorkommenden und hilfsbereiten Kavalier ein unnachgiebiger Despot, ein Frauenschläger, schlimmer noch, ein Vergewaltiger wurde? Was war mit ihnen geschehen? Was mit ihrer Ehe? Zusammengekauert saß sie nun auf ihrem Bett und dachte darüber nach. Zuerst waren es nur verbale Angriffe, beiläufig in den Alltag eingestreute Demütigungen, erst im Laufe der Jahre wurde Eugen handgreiflich, mal war es ein festes Knuffen gegen den Oberarm, mal in die Seite, doch immer wieder hatte er sich für sein Fehlverhalten entschuldigt. Einmal, als sie bei einem Handgemenge den Treppenabsatz hinuntergestürzt war und sich dabei das Schienbein brach, kam er unter Tränen und mit einem riesigen Blumenstrauß an, um sich bei ihr zu entschuldigen. Danach hatte sie lange Zeit Ruhe, bis zu jenem letzten gemeinsamen Urlaub im Sommer. In ausgelassener Stimmung hatten sie an der Hotelbar gesessen und mit anderen Hotel-Gästen geplaudert. Ein charmanter Herr hatte ihr im Laufe des Abends, und mit steigendem Alkoholpegel, immer wieder Komplimente gemacht, nichts Anrüchiges, einfach nur nette Worte die ihr schmeichelten, jedoch Eugen zur Raserei brachten. In aller Deutlichkeit sieht sie nun diese Szene vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen: sie sieht wie ihr wütender Ehemann auf den angetrunkenen Gast losgeht, ihn vom Hocker zerrt und ihn auffordert sich mit ihm zu prügeln, der Mann lacht aus Verlegenheit und versucht ihn mit Entschuldigungsfloskeln zu besänftigen – leider vergebens. Eugen hatte unvermittelt und zum Entsetzen aller Gäste einfach zugeschlagen, woraufhin der Mann entsetzt seine blutende Nase hielt und fluchtartig die Bar verließ. In jenem Augenblick wurde ihr bewusst, dass Eugen auf nichts mehr reagieren würde, und wenn seine Betriebstemperatur einmal auf Aggression und Streit stand, war es angebracht ihm aus dem Weg zu gehen. In einem unbedachten Moment, gerade als er dabei war seinen Barhocker wieder aufzustellen, nützte sie die Gelegenheit zur Flucht, doch er war schneller und streckte sie zu Boden, anschließend hatte er sie mit üblen Beschimpfungen vor die Tür geschleift – sie spürte noch einen dumpfen Schlag im Gesicht, dann war‘s dunkel. Das erste, was sie danach schemenhaft erkennen konnte, war ein Frauengesicht mit besorgter Miene. Die fremde Frau, die ungewollt Zeugin dieser erniedrigenden Szene wurde, kühlte ihre Schläfen mit Eiswürfel und sagte: „Kleines, wenn ich dir einen guten Rat geben darf, so schick diesen Typen dorthin wo der Pfeffer wächst, solche Männer wie er, werden sich niemals ändern.“
Mein Gott, dachte Marie-Claire kopfschüttelnd, wie recht sie hatte! Und seit dieser Zeit kam es immer wieder zu Handgreiflichkeiten, immer wieder musste sie herhalten, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Gründe gab’s genug, ganz egal ob es ein aufmüpfiger Schüler aus seiner Klasse war, Eltern die seine Lehrmethoden kritisierten, oder Stänkereien im Lehrerkollegium. So auch am Tag zuvor, wo er wieder einmal Luft ablassen musste. Das fing schon damit an wie sie ihren Wagen in der Einfahrt parkte, später zogen sich dann die Nörgeltiraden: Wieso dies? Weshalb jenes? Warum das denn?, querbeet durch den ganzen Tag, und so hielt sie es ganz nach dem japanischen Sprichwort der drei Affen: nichts (Böses) sehen, nichts hören, nichts sagen! So gut wie es eben möglich war, versuchte sie ihm aus dem Weg zu gehen – das Unvermeidliche ließ sich jedoch nicht aufhalten. Während sie im Bad war, hörte sie ihn zähneknirschend fluchen: „Ja ist das denn die Möglichkeit! Ausgerechnet dieser Dumpfbacke! Der denkt wohl, nur weil sein Vater Rechtsanwalt ist, könne er sich alles erlauben ...“ Durch den Türspalt konnte sie erkennen, dass er im Bett seine E-Mails checkte, und so wie sie es interpretierte musste es wohl um eine angestrebte Klage eines Schülers gehen. Oh, sie hasste es, wenn er sein iPad mit ins Bett nahm, er sich solche Hiobsbotschaften reinzog und danach den Choleriker hervorkehrte. Genervt von seinem Geschimpfe war sie in ihr kuscheliges Schlapper-Nachthemd aus grauem Jersey-Stoff geschlüpft, sie zog ihre warmen Wollsocken an und huschte, in der Hoffnung nicht gesehen zu werden, aus dem Bad direkt unter die Bettdecke. Ihr war nach Schlaf und absoluter Ruhe. Leider hatte sie die Rechnung ohne Eugen gemacht. Kurzerhand hatte er ihre Bettdecke zurückgeschlagen und entsetzt das Bild angestarrt das sich ihm präsentierte. Und plötzlich wurde sie – in ihrem weiten altbackenen Großmutterhemdchen – so wie er es abfällig bemerkte, zum Angriffspunkt. Er verhöhnte und demütigte sie, er bombardierte sie mit Worten die ihr den Atem raubten. Doch dann geschah etwas, was sie niemals für möglich gehalten hätte. Zum ersten Mal während ihrer Ehe war sie über sich hinausgewachsen. Lautstark und in aller Deutlichkeit hatte sie ihm ihre Meinung über sein Verhalten gesagt, sie hatte ihm angedroht ihn zu verlassen, wenn er sich nicht ändern würde – das war’s! Danach hatte er sie im Schlafzimmer eingeschlossen, sie geschlagen, beschimpft und als Höhepunkt seiner Machtdemonstration vergewaltigt.
Die Zeit danach hatte sie in einem Art Schock-Zustand verbracht und erst, als er am frühen Morgen das Haus verlassen hatte, war sie wieder sie selbst.
Und im Gegensatz zu seinen sonstigen Misshandlungen, hatte er sich dieses Mal nicht entschuldigt, auch kein Süßholz als Wiedergutmachung-Taktik geraspelt, sondern er ist wortlos gegangen, auch die Haustür fiel geräuschlos ins Schloss, gerade so, als ob es das Normalste auf der Welt wäre seine Frau zu demütigen, zu schlagen und zu vergewaltigen. Nach dieser Begebenheit hatte sie für einen Augenblick darüber nachgedacht ihn anzuzeigen – doch was sollte sie den Polizeibeamten sagen? Mein Mann, ein Gymnasiallehrer und angesehener Bürger der Stadt, der Hilfsorganisationen leitet, Mitglied im Gemeinderat ist, hat seine eigene Frau geschlagen und anschließend vergewaltigt. Vergiss es, ermahnte sie ihr nüchterner Verstand, sie würde sich selbst nur nochmals erniedrigen, sich der Lächerlichkeit preisgeben und ihrem Mann weitere Angriffsflächen bieten. „Großer Gott“, flehte sie leise, „bitte hilf mir von ihm wegzukommen.“ Nein, ihre Ehe war nur noch eine schöne Fassade mit irreparablen Schäden.
Irgendwann in den frühen Abendstunden hörte sie ihre Mutter in der Küche hantieren, feine spitze Geräusche deuteten darauf hin, dass sie die Geschirrspülmaschine am Ausräumen war. Endlich Abwechslung, dachte Marie-Claire, doch als sie die Küche betrat, war die Arbeit erledigt und einige belegte Brote standen auf dem Tisch.
„Geht es dir wieder besser?“, fragte Marie-Claire.
„Alles im grünen Bereich“, antwortete Ella in ihrer gewohnt schrulligen Art, „eine deutsche Eiche fällt nicht so leicht.“
Mit Blick auf die Brote gerichtet fragte Marie-Claire: „Und du, isst du nichts?“
„Ich hab ein Brot aus der Hand gegessen und dazu ein Bier getrunken. Das reicht.“
„Warst du in letzter Zeit mal beim Arzt und hast dich durchchecken lassen?“
Entsetzt sah ihre Mutter sie an. „Nun übertreib mal nicht, nur weil ich heute nach der Gartenarbeit, bums und alle war, muss ich nicht gleich krank sein“, gab sie barsch zurück.
„Naja, ich meine“, druckste sie, „vielleicht könnte ich dir ja bei der Gartenarbeit oder auch im Haushalt behilflich sein!“
„Du!“, dabei sah Ella ihre Tochter ungläubig an, fasste nach ihren äußerst gepflegten Händen – die noch nie mit einem Spaten oder ähnlichem Gartengerät in Berührung gekommen waren – und sagte: „Lass mal gut sein, solange ich japsen kann, werde ich das selbst erledigen.“ Mit besorgter Miene sagte sie: „Kümmere du dich mal lieber um deine Ehe und um dein zukünftiges Leben, da hast du vorerst genug zu tun.“
„Ach Ella“, seufzte sie, dabei umarmte und küsste sie ihre Mutter, „auch wenn du so ein grantiges Mütterchen bist, so liebe ich dich dennoch.“
„… iss ja gut“, gab sie verlegen zurück und stieß sie wieder auf Distanz.
Marie-Claire setzte sich an den Tisch, neigte den Kopf leicht zur Seite, sah ihre Mutter lieb an und fragte: „Bleibt es morgen früh dabei? Begleitest du mich?“
„Hab ich je mein Versprechen nicht gehalten?“
Marie-Claire dachte plötzlich an eine Begebenheit aus ihrer Schulzeit, lächelte und sagte: „Erinnerst du dich noch an Carl, den Jungen aus meiner Klasse …?“
Beide sahen zunächst stumm einander an, doch als dann beide die gleiche Szene vor Augen hatten, mussten beide schmunzeln.
Der kleine Carl hatte es darauf angelegt Marie-Claire zu ärgern: mal versteckte er ihre Sportsachen, mal ihre Schulhefte, ein anderes Mal musste ihr Taschengeld dran glauben, doch als er sie eines Tages in eine Pfütze schubste und ihren Kopf solange in die Brühe drückte, dass sie fast erstickt wäre, da hatte er es übertrieben.
Ihre Mutter hatte ihn daraufhin zur Rede gestellt, und zur Verdeutlichung ihrer Worte, hatte sie ihn, mithilfe seines Schulterranzens, an einem der Gartenpfosten neben dem Eingangsportal des Schulgebäudes aufgehängt.
„Meine Güte“, lachte Marie-Claire unvermittelt auf, „dem hast du es damals aber gegeben, noch heute sehe ich ihn am Gartenpfosten hängen und zappeln!“
Jetzt musste auch Ella lachen, „ja, ja,, entgegnete sie, „der kleine Carl war äußerst widerborstig, er spuckte und trat, doch als er dann so hilflos an dem Pfosten hing, ging ihm sein kleines Hinterchen auf Grundeis.“
„Hast du ihn später befreit?“
„Nein“, grinste sie in Erinnerung, „ich hatte eine Vereinbarung mit dem Pedell getroffen, denn auch er hatte noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, er ließ ihn so lange hängen bis er Besserung gelobte. Naja, jedenfalls hatte er dich danach in Ruhe gelassen.“
„Hm, ich hoffe doch nicht, dass du mit Eugen genauso verfährst“, witzelte Marie-Claire.
Ihre Mutter sah sie mit ernster Miene an und sagte: „Bei ihm würde mir mit Sicherheit etwas Besseres einfallen, glaub mir“, und somit war der anfängliche Galgenhumor so schnell entschwunden wie er gekommen war.
Während Marie-Claire ihre Brote aß, beobachtete sie ihre Mutter die gedanklich mal wieder in ihrer Vergangenheit unterwegs war. Schon als Kind hatte sie darüber gerätselt was ihr da wohl durch den Kopf gehen mag.
Zuerst saß sie ganz still und mit gesenktem Blick da, hin und wieder huschte ein Zucken über ihre Mundpartie, manchmal kam es aber auch vor, dass sie ihre Lippen fest zusammengepresst hielt und in dieser Position eine Zeit lang verharrte, danach schüttelte sie den Kopf, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte: „So genug der Grübelei!“
Marie-Claire schrak zusammen und fragte: „Warum machst du das? Was spukt dir dann im Kopf herum?“
Entsetzt sah sie ihre Tochter an. „In meinem ganzen Leben habe ich niemandem Rechenschaft ablegen müssen und ich werde auch jetzt nicht damit anfangen“, gab sie barsch zurück. „Wann sagtest du starten wir unsere geheime Mission?“, wechselte Ella geschickt das Thema.
„Jaaa, ist ja schon gut. Gegen sieben, ich denke das ist eine gute Zeit.“ Als sie abrupt aufstehen wollte, wurde sie erneut von ihren Hämatomen im Hüftbereich abgebremst, „autsch“, kam es schmerzverzerrt über ihre Lippen.
Sofort eilte Ella zum Kühlschrank, nahm aus dem Tiefkühlfach ein Kühlbeutel hervor und befahl: „So, und damit gehst du nun zu Bett und kühlst deine Blessuren. Ich bringe dir gleich noch ein Schmerzmittel.“
Marie-Claire gehorchte dieses Mal gerne. Ein wenig später stand ihre Mutter mit zwei Schmerztabletten und einem Glas Wasser an ihrem Bett. „Hier mein Kind, danach wird es dir besser gehen“, sagte sie, anschließend strich sie zärtlich über ihre Wange und sagte: „du hast etwas Besseres verdient als diesen Schläger. Versprich mir, dass du nie mehr zu ihm zurückkehren wirst“, anschließend beugte sie sich über ihre Tochter und küsste sie auf die Stirn.
Plötzlich hatte Marie-Claire Tränen in den Augen, denn tröstende Worte von ihrer Mutter zu hören hatten Seltenheitswert. „Ich verspreche es“, antwortete sie „großes Indianerehrenwort“, wobei sie drei Finger auf ihr Herz legte und ihr dankend zulächelte.
„Gute Nacht mein Kind, schlaf gut.“
„Danke für alles. Gute Nacht“, entgegnete sie.
Nachdem Marie-Claire alleine war, zog sie das Plumeau über ihren Kopf und weinte, ob es nun die mitfühlenden Worte ihrer Mutter waren, oder ob es vor Selbstmitleid war, das vermochte sie in diesem Augenblick nicht zu deuten – ihr war nach Weinen und es tat ihr gut.
In den frühen Morgenstunden wachte sie mit einem Zittern am ganzen Körper auf, ihr Unterbewusstsein drangsalierte sie ununterbrochen mit Falschmeldungen. Immer wieder sagte etwas in ihr: Du musst zu Eugen zurück. Er hat das nicht so gemeint! Er braucht dich! Er liebt dich doch! Wenn sie ihn verlassen würde, so würde das ein schlechtes Licht auf ihn, als Lehrer und Vorbild in der Schule werfen – jedenfalls hatte er ihr das immer eingetrichtert. Und als krönenden Abschluss sieht sie wie er weinend vor ihr kniet, sie mit seinem treuen Dackelblick ansieht und seine Entschuldigungen wie Liebesbekundungen aufsagt.
„Nein, nein Eugen nie mehr wirst du mir das antun!“, brach es laut aus ihr heraus, zeitgleich öffnete sie ihre Augen, um dem manipulierenden Bilderstrom in ihrem Kopf ein Ende zu setzen. „Lieber Gott“, flehte sie, „bitte gib mir die Kraft ihn zu verlassen.“ Kaum ausgesprochen ertönten laut und markdurchdringend die Kirchenglocken, sicherlich eine Ermahnung Gottes, schoss es ihr durch den Kopf, denn dass ausgerechnet sie den Herrgott um Hilfe bat, wo ihre Ehe noch nicht einmal mit seinem Segen geschlossen wurde, grenzte schon an Blasphemie.