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Kapitel 2 Himmelfahrtskommando

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Am nächsten Morgen war es soweit, ihre geheime Mission konnte starten! Zuvor noch rasch die Anrufliste ihres iPhones checken – und oh Schreck, wie befürchtet kletterten Eugens Anrufe wie an einer Leiter empor. Seit ihrer Flucht aus der ehelichen Wohnung hatte er fast stündlich versucht sie anzurufen, und allesamt waren es Hilferufe eines feigen Psychopathen. Tja, dachte sie, um zu ihr zu kommen müsste er erst einmal an Ella vorbei, und dazu fehlte ihm schlichtweg der Mumm. Ratzfatz hatte sie allesamt gelöscht, anschließend steckte sie das Ding, ganz nach dem Motto: aus den Augen aus dem Sinn, in die Nachttischkonsole. Wieder ein Schritt in die richtige Richtung. Und bevor ihr Mut sie wieder verlassen würde spurtete Marie-Claire die Treppe hinunter, sicherlich würde ihre Mutter schon in der Küche stehen und auf sie warten – Fehlanzeige! Sie wird dich doch jetzt nicht im Stich lassen?, bibberte sie. Hoffentlich war sie nicht krank? Aber da hörte sie schon schwergewichtige Schritte im Flur. War das ihre Mutter?

Im nächsten Moment wurde die Tür schwungvoll aufgestoßen. Kampfbereit und breitbeinig wie ein Mann stand Ella auf der Türschwelle. Beim Anblick fiel Marie-Claire die Kinnlade runter. Die Füße ihrer Mutter steckten in schwarzen Springerstiefeln und ihr Körper press in einem Overall im Military-Look, um ihre Taille war ein breiter Arbeitsgürtel so eng geschnürt, dass ihr übergroßer Busen bei jedem Atemzug ins Beben geriet – dem nicht genug, am Gürtel waren Hammer, Zange sowie ein Seil befestigt. Großer Gott! Was hatte sie vor?, schoss es ihr durch den Kopf, wobei ihr urplötzlich der kleine freche Carl aus ihrer Schulklasse wieder in den Sinn kam, ihn hatte Ella damals für seine Frechheiten kurzerhand an seinem Schulterranzen am Gartenpfosten vor ihrer Schule aufgehängt. Auch Ellas blutrotgeschminkter Mund signalisierte Aggression und ließ nichts Gutes ahnen, und ihre sonst so gepflegte Kurzhaar-Frisur stand gegelt zu Berge. Die Krönung war jedoch ein rotes Stirnband mit der Aufschrift: fighting machine – ihr ganzes Erscheinungsbild wirkte alles in allem äußerst bedrohlich.

„Ella!“, entsetzte sich Marie-Claire, „wir ziehen nicht in den Krieg, sondern gehen lediglich meine Klamotten holen!“

„Das Leben hat mich gelehrt, dass man bei solchen Männern mit allem rechnen muss“, wobei sie ihrer Tochter ein Pfefferspray in die Hand drückte und sagte: „hier, für alle Fälle.“

Marie-Claire fühlte sich von Ellas Kampfbereitschaft völlig überrumpelt, sprachlos und mit offenem Mund stierte sie die Spray-Dose in ihrer Hand an.

„Na, auf was wartest du noch? Komm schon, bevor ich es mir wieder anders überlege“, anschließend wandte sie ihrer Tochter den Rücken zu und marschierte los.

„Wo zum Teufel hast du diese Kampfkleidung überhaupt her?“, rief sie ihrer Mutter nach wobei sie Mühe hatte mit ihr Schritt zu halten.

„Ah … Flohmarkt“, gab sie im militärischen Ton eines Feldwebels zurück.

Manchmal kam Marie-Claire der Gedanke, dass sie als Kind adoptiert worden sei, denn sie hatte so gar keine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Im Gegenteil zu ihr, war sie von schlanker Natur, zurückhaltend bis scheu, nur Bilder aus Ellas Jugendzeit deuteten auf eine vage Verwandtschaft hin.

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend trottete Marie-Claire hinter ihr her, und nein, es war keine gute Idee ihre kampfwütige Mutter mitzunehmen.

Ella saß bereits in ihrem alten Land Rover und klopfte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad, und als Marie-Claire dann endlich neben ihr saß, sagte sie: „Was ist? Können wir nun endlich los? Oder gibt dir dein Bauchgefühl wieder Rotlicht?“

„Jaaa, wir können!“, entgegnete Marie-Claire genervt, denn ihr war durchaus bewusst, dass sie ohne Ellas Beistand, ohne ihre tatkräftige Unterstützung, aufgeschmissen wäre. Während ihre Mutter, verbissen und zu allem bereit, das große Lenkrad fest umschlossen hielt, nützte Marie-Claire die Gelegenheit und betrachtete sie.

„Was?“, fragte Ella in ihrer schrulligen Art ohne sie anzusehen.

„Also ich komme mir vor wie auf einem Himmelfahrtskommando“, antwortete Marie-Claire, und mit Blick auf ihr Stirnband gerichtet, sagte sie: „Ich hoffe, du weißt was du tust!“

„Darauf kannst du Gift nehmen“, sprudelte die Antwort sogleich aus Ella heraus.

Bis zu Eugens Haus – das er von seinen Eltern geerbt hatte – waren es gerade mal zehn Kilometer und je näher sie kamen, desto unruhiger wurde Marie-Claire. Sie blickte zu ihrer Mutter und oh Schreck, ihr Outfit wirkte alles andere als beruhigend.

Langsam, so geräuschlos wie es der alte Motor des Land Rovers eben zuließ, rollte der Wagen die Einfahrt hoch. Eugen schien nicht da zu sein, denn die Garage stand offen und von seinem neuen Flitzer, einem BMW Z4, fehlte jede Spur.

Ella spähte, wie ein alter Soldat den man für einen Sondereinsatz rekrutiert hatte, zuerst einmal aus dem geöffneten Wagenfenster und erst als sie befand, dass die Luft rein war, konnte ihre geheime Mission starten. „Es kann losgehen“, befahl sie und sprang mit einem gekonnten Satz aus dem hohen Wagen.

Marie-Claire fühlte sich mittlerweile von dem Undercover-Einsatz ihrer Mutter infiziert und klebte regelrecht an ihren Springerstiefeln.

Plötzlich stoppte ein lautes „Guten Morgen“ das seltsam aussehende Gespann.

Wie erstarrt blieben beide Frauen stehen, langsam wandten sie ihre Köpfe der Stimme zu, erleichtert stellten sie dann fest, dass es nur der Nachbar mit seinem Hund war.

„Oha“, flüsterte Marie-Claire, „ausgerechnet Mr. Möchtegern-Detektiv muss uns so sehen!“

„Will heißen?“, knurrte Ella.

„…dass er jetzt nichts Besseres zu tun hat als Eugen anzurufen.“

„Dann sollten wir uns sputen, liebes Töchterlein!“

Übertrieben freundlich, grad so als ob sie kein Wässerchen trüben könnten, winkten sie dem Nachbarn mit einem aufgesetzten Lächeln zu.

Vor der Haustür stoppte Ella, wobei sie ihre Tochter schützend zurückhielt, „gib mir den Hausschlüssel“, befahl sie.

Jetzt wurde es Marie-Claire doch zu bunt, „also Ella“, tadelte sie ihre Mutter, „hör endlich mit diesem albernen Spiel auf! Lass mich, ich mach das schon …“, mutig schob sie ihre Mutter dann zur Seite und schloss die Haustür auf.

Der nächste Schock ließ nicht lange auf sich warten.

Entsetzt stierten beide auf das, was sich vor ihnen präsentierte. Über den gesamten Flur, die Treppe hinauf, bis zur obersten Etage führte eine Spur von Rosenblättern. Beide folgten der blumigen Wiedergutmachungsspur, die, wie könnte es auch anders sein, im Schlafzimmer endete. Auf der Türschwelle stoppten sie und blickten neugierig hinein: auf dem Bett lagen ein Brief und darauf eine langstielige dunkelrote Rose.

Als Marie-Claire direkt drauflosstürmen wollte, hielt ihre Mutter sie am Arm zurück, „willst du ihn nun verlassen oder dich weiter von ihm verprügeln lassen?“, fragte sie mit ernster Miene, „wenn du dich weiter demütigen lassen willst, so kannst du den Brief gerne lesen, ansonsten ignoriere ihn!“

Marie-Claire senkte verlegen ihre Augenlider und schüttelte dabei den Kopf, anschließend eilte sie ins Ankleidezimmer, schnappte sich zwei Koffer aus den oberen Regalen und fing an zu packen. Unkontrolliert stopfte sie alles rein was ihr zwischen die Finger kam.

Ella steckte derweil mit einer bissigen Bemerkung und einem Augenrollen den Brief in die Brusttasche ihres Overalls.

In Windeseile hatte Marie-Claire, mithilfe ihrer Mutter, ihre sieben Sachen zusammengepackt und im Wagen verstaut. Auf der Türschwelle stoppte Ella, mit erhobenem Zeigefinger fragte sie: „Hast du deine Ausweis-Papiere, das Stammbuch, den KFZ-Schein und was sonst noch von Wichtigkeit sein könnte? Und wie sieht’s eigentlich mit den Sparbüchern aus? Was ist mit deinem Schmuck oder sonstigen Wertgegenständen aus eurer Zugewinngemeinschaft?“

„Ich hab alles was ich brauche“, antwortete Marie-Claire und war nun doch sichtlich erstaunt über die, sowohl berechnende, als auch vorausschauende Denkweise ihrer Mutter, von der sie bis dato glaubte, dass sie irgendwo weit hinterm Mond leben würde.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah sie ihre Tochter skeptisch an. „Bist du sicher?“

Für einen Moment überlegte Marie-Claire, dann antwortete sie: „Jaaa“, wobei sie nun doch etwas verunsichert zurückblickte.

„Wirklich!“, hakte Ella nochmals nach.

Marie-Claire nickte stumm. Was sollte sie auch antworten? Ich habe zwanzig Jahre meines Lebens dort zurückgelassen! Nein, ihre Mutter hatte für Gefühlsduselei – wie sie es auszudrücken pflegte – nichts übrig.

„Gut, dann ist unsere Mission hier beendet“, sagte Ella in einem resoluten Ton. „Steig in den Wagen, wir sollten uns vom Acker machen.“

Kaum ausgesprochen trat dann doch noch das Befürchtete ein. Eugen schoss mit seinem neuen Sportflitzer die Einfahrt hoch.

Marie-Claire wusste, wem das zu verdanken war. Sie blickte zum Nachbarhaus und konnte gerade noch erkennen, dass die Gardinen wieder zugezogen wurden. War ja auch kein Wunder, denn Mr. Möchtegern-Detektiv und Eugen saßen Schulter an Schulter im Gemeinderat und hatten nicht nur eine Leiche im Keller.

„Wusst ich’s doch“, spöttelte Eugen, „dass meine über alles geliebte Schwiegermama sich das nicht nehmen lässt“, wobei er Ella von Kopf bis zu den Stiefeln musterte, „und was, bitte schön, soll eigentlich dieser lächerliche Aufzug?“

„Das wirst du gleich erfahren, wenn du nicht sofort den Weg freigibst“, antwortete sie forsch, und um die Ernsthaftigkeit der Lage zu unterstreichen baute sie sich breitbeinig vor ihm auf und legte dabei demonstrativ die Hand auf den Hammer an ihrem Arbeitsgürtel.

„Ach Ella, was soll denn das?“, sagte er mit Blick auf ihre Gestik gerichtet, wobei er als Zeichen seiner Ergebenheit abwehrend beide Hände in die Luft streckte, „hör zu, Ella, ich will keinen Streit, ich möchte nur mit meiner Frau reden.“

„Möchtest du mit Eugen reden?“, fragte Ella barsch, woraufhin ihre Tochter hinter ihr hervorkam, ihn ansah und wortlos den Kopf schüttelte.

„Also“, bestätigte Ella, „du hast es vernommen. Sie wird nur noch über ihren Anwalt mit dir reden.“

„So, wird sie das!“ brüskierte sich Eugen.

„Worauf du dich verlassen kannst!“, gab Ella drohend zurück.

„Bitte, Marie-Claire“, flehte er plötzlich, „lass uns reden“, wobei er verzweifelt in seiner Jackeninnentasche nach irgendetwas kramte. Erleichtert zog er schließlich einen Zettel hervor und hielt ihn unter ihre Nase, „hier … bitte …lies“, sagte er, wobei er mit dem Finger auf einige Sprechstundentermine bei einem Psychotherapeuten tippte. „Ich habe mich entschlossen eine Therapie zu machen … und danach … du wirst sehen, da wird alles anders werden. Das verspreche ich dir! Bitte, Marie-Claire, ich liebe dich doch“, flehte er mit Tränenglanz in den Augen, „bitte, gib mir noch eine allerletzte Chance.“

Ella sah das zweifelnde Gesicht ihrer Tochter, sah ihre zögerliche Haltung und da war ihr bewusst, dass sie eingreifen musste. „Marie-Claire, du machst, dass du in den Wagen kommst – sofort“, befahl sie in einem scharfen Ton.

Zornesröte zog über Eugens Gesicht. „Was mischst du dich eigentlich in unsere Ehe ein?“ erzürnte er sich, und gerade als er im Begriff war auf seine Frau zuzugehen, drängte sich Ella mit vollem Körpereinsatz dazwischen, zog den Hammer aus der Schlaufe und drohte, „noch einen Schritt ... dann … dann …“

„Was dann? … Na! … Was?“ provozierte er, wobei seine Nasenflügel vor Wut bebten.

„Mama, komm, lass uns fahren“, flehte Marie-Claire aus dem Hintergrund, „das bringt doch nichts“, versuchte sie die Situation zu entschärfen.

„Steig endlich in den Wagen und verriegel die Tür von innen“, entgegnete sie wobei die Modulation ihrer Stimme durchaus Militärcharakter hatte.

Marie-Claire wurde blass um die Nase und stieg ein.

Wie zwei Kampfstiere standen sich nun Ella und Eugen gegenüber, wobei der zuvor noch reuevolle Ehemann mittlerweile vor Wut schäumte, und Ella taff wie eh und je, ihre Frau stand.

Eugen schrie ihr etwas ins Gesicht und stieß gleichzeitig mit dem Zeigefinger so fest gegen ihr Brustbein, dass sie kurz ins Wanken geriet.

Woraufhin Ella warnend mit dem Hammer mehrmals in ihre linke Hand schlug.

Die Situation drohte zu eskalieren – und sie, sie hatte ihr iPhone, leichtsinniger Weise, in der Nachttischkonsole verstaut und konnte noch nicht einmal einen Notruf absenden.

Eugen versetzte ihr einen Hieb gegen ihre Schulter, doch dieses Mal behielt Ella, dank ihrer Springerstiefeln, ihre Standhaftigkeit und sie stand wie eingemauert in der Erde da.

Ironisch grinsend umkreiste er die Standhafte und es war nur eine Frage der Zeit bis Ellas Hammer zum Einsatz kommen würde.

Ein weiteres Mal gab er ihr einen Hieb, diesmal gegen ihren Oberarm, woraufhin sie etwas sagte, was er lachend ignorierte, dann marschierte sie auf seinen Wagen los, schenkte Eugen einen triumphierenden Blick, holte mit dem Hammer weit nach hinten aus und schlug seinem Schätzchen, dem neuen BMW Z4, den linken Scheinwerfer zu Bruch, dann sagte sie etwas und ging zum nächsten Scheinwerfer der ebenfalls dran glauben musste.

Eugen ging vor dem Wagen auf die Knie und schlug fassungslos die Hände über seinem Kopf zusammen.

Wortlos und absolut cool kam Ella zum Wagen zurück, stieg ein, schnaufte einmal kräftig durch, startete den Motor und fuhr los.

Marie-Claire war geschockt! Ja, sie war wie gelähmt von dem was sich gerade vor ihren Augen abgespielt hatte, dabei war sie sich nicht sicher, ob sie Ella zu ihrem Mut gratulieren, oder sie für ihre Dummheit ausschimpfen sollte, denn der neue BMW rangierte in Eugens Leben – zurzeit jedenfalls – an erster Stelle. Sie wollte etwas sagen, befand aber, dass es besser wäre die entstandene Dramatik erst einmal gedanklich abkühlen zu lassen.

Zuhause angekommen verschwand Ella, wortlos und augenscheinlich auch vollkommen gelassen, in ihrem Schlafzimmer um den Kampfanzug gegen ihre Alltagsklamotten einzutauschen.

Marie-Claire war das Himmelfahrtskommando und überhaupt die neue Situation auf den Magen geschlagen, sie zog sich in ihr Zimmer zurück, um zum einen ihren Kram zu verstauen, und zum anderen ihr Aufgewühlt-Sein zu ordnen. Mit dem Ersten hatte sie keine Probleme, nur mit der inneren Ordnung da tat sie sich schwer, denn Eugen und ihre Ehezeit ließen sich nicht so einfach in die Schublade des Vergessens stecken. Erneut versuchte sie ihre Gefühle für Eugen zu analysieren und wiederholt suchte etwas in ihr nach Entschuldigungen für sein Verhalten. Penibel genau zogen ausgerechnet jene Bilder vor ihrem geistigen Auge vorüber die sie als glückliches Paar, fröhlich und lachend, zeigten. „Stopp! Stopp!“, rief sie sich selbst kopfschüttelnd zur Räson, wobei sie fest mit beiden Händen gegen ihre Schläfen presste. „So funktioniert das nicht“, fluchte sie zähneknirschend. Verärgert riss sie das Fenster auf, und wenn in diesem Augenblick jemand zu ihr gesagt hätte: spring raus und du wirst gedankenbefreit sein, hätte sie es womöglich getan.

„Na, mein Kind“, drangen die Worte ihrer Mutter zu ihr empor, „hat alles wieder seinen Platz?“

Ihrer Gedanken jäh ertappt, blickte sie erschrocken zu ihr hinunter. „Wenn das mal so einfach wäre“, seufzte sie und fühlte sich unter den Augen ihrer Mutter wieder einmal gläsern.

„Komm setz dich zu mir“, rief Ella ihr zu, „lass dich vom milden Frühlingswind durchlüften“, wobei sie mit der Hand einladend auf die Gartenbank klopfte.

Als Marie-Claire unten ankam, saß ihre Mutter mit geschlossenen Augen in der Frühlingssonne. Hin und wieder huschte ein schelmisches Grinsen über ihre Mundpartie.

„An was denkst du?“, fragte Marie-Claire neugierig.

Langsam zog ein breites Grinsen über Ellas Gesicht, kurz setzte sie zum Sprechen an, brach dann aber wieder unvermittelt ab.

„Nun, sag schon“, animierte sie ihre Mutter und gab ihr einen leichten Seitenhieb mit dem Ellenbogen.

Ella griff unter die Bank, zog ein Pappschild hervor worauf in roter Farbe geschrieben stand: Ich bin ein feiger Frauenschläger! „Allzu gerne hätte ich Eugen an den Gartenpfosten vor seinem Haus gefesselt und ihm dieses Schild um den Hals gehängt.“

„Ella!“, entsetzte sich Marie-Claire, „deshalb also das Seil! Nur gut, dass es nicht dazu kam“, fügte sie kopfschüttelnd an. Dennoch musste auch sie bei der Vorstellung schmunzeln. „Aber mal ganz ehrlich, Ella, hattest du keine Angst vor ihm?“

Ella sah sie an, überlegte und sagte schließlich: „Nein, nicht vor ihm, sondern nur vor der Situation!“

„Wie meinst du das?“

Achselzuckend antwortete sie: „Ich weiß nicht wie ich reagiert hätte, wenn er wirklich handgreiflich geworden wäre.“

„Du meinst …“

„Ach, lass mal gut sein“, fiel sie ihrer Tochter ins Wort, „wir wollen jetzt keine Horrorszenarien kreieren. Versuch ihn zu vergessen. Der Mistkerl ist unsrer Gedanken nicht wert!“, wobei sie ihr einen aufmunternden Blick zuwarf und ihre Hand drückte.

Marie-Claire nickte stumm, zeitgleich zogen vor ihrem geistigen Auge die Bilder des Morgens vorüber und mit ihnen wurde ihr übel, denn sie wusste nicht wie Eugen auf die Sachbeschädigung seines neuen Sportflitzers reagieren würde.

Das Thema geschickt wechselnd sagte Ella: „Laurel kommt.“

„Laurel kommt!“, wiederholte Marie-Claire freudig überrascht.

Laurel, ihr zehn Jahre älterer Bruder, war Flugbegleiter und tauchte nur sporadisch, und wenn sein Dienstplan es zuließ hier auf. Seit dem spurlosen Verschwinden ihres Vaters hatte sie zu Laurel ein besonderes Verhältnis. Als Kind hatte sie ihm ihre kleinen und später, als junge Erwachsene, ihre großen Sorgen anvertraut: er war Freund, Ratgeber und Beschützer an den sie sich jeder Zeit anlehnen konnte – ja, bis Eugen in ihr Leben trat, ab da war alles anders: Eugen reagierte mit Eifersucht und tat alles um sie von ihrem Bruder fernzuhalten.

„Er kommt mit der Frühmaschine und wird pünktlich zum Frühstück hier sein“, fügte Ella mit strahlenden Augen an.

Chef bemerkte sogleich ihre Euphorie und saß mit einem gezielten Sprung auf ihrem Schoß.

„Keine Angst“, tröstete Ella den kleinen Kerl, „du wirst Laurel mögen.“

Der Kater machte es sich bequem und bat mit einem leisen Miauen um ein wenig Zärtlichkeit – die er auch bekam. Und Ella schien es sichtlich zu genießen den kleinen pelzigen Kerl zu kraulen, er wiederum, dankte es ihr mit einem zufriedenen Schnurren.

Schweigend saßen sie in der wärmenden Frühlingssonne und sahen dem Erwachen der Natur zu. Sie ließen den lieben Gott einen guten Mann sein und entspannten sich so gut sie konnten – außer dem kleinen Kater, er folgte seinem Instinkt und beobachtete, mit vorgetäuschter Gelassenheit, die Blaumeisen die mit ihrem Nestbau beschäftigt waren und eifrig im Kirschbaum umherflatterten. Die Welt war für den Moment und für alle in Ordnung.

Marie-Claire fiel am frühen Abend todmüde ins Bett, sie schlief auch sofort ein, doch gegen zwei Uhr war die Nacht zu Ende – sie und ihre Gedanken waren hellwach. Vor ihrem geistigen Auge wiederholt sich das Himmelfahrtskommando: sie sieht Eugen, sieht die vielen Rosenblätter die über den Boden bis ins Schlafzimmer verteilt lagen, sieht wie Ella mit dem Hammer die Scheinwerfer seines neuen Sportflitzers zerschlägt und wie er fassungslos davor kniet, doch dann, wie von Teufelshand gelenkt, schlossen sich andere Bilder an, Bilder aus glücklichen Tagen mit Eugen. Mit schmerzendem Herzen wälzt sie sich von einer Seite zur anderen. Jetzt nur keine alten Gefühle durchs Hintertürchen lassen, ermahnte sie sich selbst – doch keine Chance, das komplette Bildmaterial hing in einer Endlosschleife fest. Verärgert sprang sie schließlich aus dem Bett, schlüpfte in ihren Morgenmantel und schlich hinunter in die Küche, um ihr Aufgewühlt-Sein mit heißer Milch und Honig zu besänftigen. Auf künstliches Licht konnte sie verzichten, denn der Vollmond leuchtete durch Tür- und Fenstergläser, ansonsten spendeten Uhren von Mikrowelle und Elektroherd genug Helligkeit um sich zurechtzufinden. Ein wenig später stand sie mit dem wohltuenden Heißgetränk am Küchenfenster. Chef schien auf Beutefang zu sein, unbeweglich, mit gespitzten Ohren und aufrechtstehendem Schwanz, stand er mitten auf dem Gartenweg, wobei sein Schatten überdimensional groß und furchteinflößend hinter ihm lag. Plötzlich schoss er aus dem Stand heraus ins Kräuterbeet. „Oha!“, stieß Marie-Claire erstaunt hervor und beäugte neugierig das Geschehen. Kurze Zeit später tauchte er mit seiner Beute im Maul wieder auf, mit erhobenem Kopf und voller Stolz marschierte er Richtung Hauseingang. Auweia, dachte Marie-Claire schmunzelnd, wahrscheinlich wird ihre Mutter dieses Geschenk mit einem Lächeln entgegennehmen und ihn dafür mit einer extra Portion feinstem Katzen-Ragout belohnen. Wie auch immer, sie gönnte Ella ihren neuen vierbeinigen Lebensabschnittsgefährten, der ihr ein Stück weit ihre Einsamkeit nahm. Mit einem kleinen bitteren Seufzer, das vielmehr ihrer eigenen Lebenssituation galt, ging sie wieder zu Bett, und als sie endlich den ersehnten Schlaf gefunden hatte, wurde sie von einem furchtbarer Traum aufgesucht:

Eugen steht weinend vor ihrem Bett und während er sie anfleht zu ihm zurückzukommen, lässt er Rosenblätter auf sie fallen. Sie ringt nach Luft und will sich von den Blättern befreien, doch plötzlich entdeckt sie überall Blut. Ein zynisches Lachen dringt aus seiner Kehle, denn er hat die zerschlagenen Autoscheinwerfer seines Wagens unter die Rosenblätter gemischt. Mit Händen und Armen wild um-sich-schlagend schreit sie: „Geh weg, lass mich“, doch Eugen kennt kein Pardon, er demütigt sie und sagt ihr wie lebensunfähig sie ohne ihn sei. Zu allem Übel springt nun auch noch der Kater auf ihre Brust …

Sie muss husten und ist wach, dabei stellt sie fest, dass es nur ein Traum war! Doch der nächste Schock ließ nicht lange auf sich warten. Chef saß wirklich auf ihrem Bett, mit seinen grünen Katzenaugen strahlt er sie an. „Wo ist deine Beute?“, entsetzte sich Marie-Claire, dabei entdeckte sie etwas das zuckend auf ihrer Brust lag, „igitt“, schrie sie angewidert auf, „mach, dass du rauskommst.“ Fassungslos und nur für den Bruchteil einer Sekunde, stierten beide einander an, dann schnappte der missverstandene Kater seine Beute und suchte das Weite. Mit einem Satz und sich vor Ekel schüttelnd, sprang auch sie aus dem Bett.

Dem nicht genug stand plötzlich ihre Mutter mit dem Schürhaken auf der Türschwelle. „Komm her du Widerling?“, drohte sie, „wo hast du dich versteckt du feiger Frauenschläger du …?“

„Ella! Was um Himmels willen machst du hier?“, entrüstete sich Marie-Claire. „Glaubst du nicht, dass du jetzt zu weit gehst? Das war doch nur dein Kater!“

„Nichts ist unmöglich“, erwiderte Ella barsch, und bevor sie ging spähte sie trotzdem noch in jede Ecke.

Für Marie-Claire war die Nacht beendet. Und bevor übellaunige Gedanken sich wieder einnisten konnten, beschloss sie die Zeit sinnvoll zu nutzen, und so war der Albtraum für sie gleichsam der Startschuss ihre räumliche Trennung von Eugen auch rechtlich anzugehen, dabei gab es so viele Dinge zu beachten, dass sie um eine To-Do-Liste nicht herum kam. Beim Listen-Aufbau dachte sie auch an Marc Haber – ihren Chef. Sie kannten und vertrauten sich bereits seit zehn Jahren, wobei ihre Beziehung immer rein beruflich war, nie gab es irgendwelche private Berührungspunkte, bis zum letzten Karneval vor einigen Wochen, ab da war alles anders. Sie lehnte sich zurück und ließ jene Zeit Revue passieren.

Eugen war mit seinen Schülern auf einer Abschluss-Klassenfahrt zum Skilaufen in den Alpen. Am Abend zuvor waren sie noch zu einem Geburtstagsessen bei einem seiner ehemaligen Studienkollegen eingeladen. Es war eine kleine elitäre Gesellschaft die Genugtuung dabei fand, ihre Mitmenschen herablassend zu behandeln. Eugen mischte kräftig mit und mit steigendem Alkoholpegel hatte er sich auf sie – seine eigene Frau – eingeschossen. Es ging um ihr abgebrochenes Studium, ihre ach so anspruchsvolle Tätigkeit in der Buchhandlung und ihre Kinderlosigkeit. Mit wenigen, aber gezielten Worten hatte er es fertiggebracht sie zu einem hübschen Anhängsel zu degradieren. Noch heute fühlt sie die mitleidigen Blicke der Anwesenden und spürt wie sich ihr Magen dabei zusammenkrampft.

Am nächsten Tag war Rosenmontag und die Buchhandlung hatte nur in den Vormittagsstunden geöffnet. Eine Kollegin äußerte zuvor die verrückte Idee, sich zu maskieren, dabei sollte jeder das Kostüm tragen, das der eigenen Lebenssituation entspräche, und da sie selbst frisch geschieden und auf Männerfang war, war es nicht verwunderlich, dass sie als männerverschlingender Vamp ankam: obenrum offenherzig, untenrum kaum mehr als eine Handbreit Rock überm Po, dazu Netzstrümpfe und Strapse. Marc Haber war in das Kostüm eines Clowns geschlüpft: er trug eine übergroße rotbraun-karierte Jacke, eine rote Schlapperhose, viel zu große Schuhe, dazu eine rot-gelockte Perücke mit einem grünen Hütchen, in seinem Gesicht, das hübsch traurig geschminkt war, leuchtete eine rote Nase, der Clou jedoch war die Sonnenblume an seinem Revers, und immer wenn er den traurigen Clown mimte, ließ sie ihr Köpfchen ebenfalls traurig hängen. Marie-Claire war nur widerwillig in ihr altes Bienenkostüm geschlüpft – ihr war weder nach Faschingstreiben noch nach irgendwelchen Albernheiten zumute. Schuld war Eugen, der es am Abend zuvor wieder einmal geschafft hatte ein Stück weit mehr ihr Selbstbewusstsein zu demontieren. Marc Haber und ihre Arbeitskollegin taten alles um sie aufzumuntern – doch nichts half, erst in der Nacht, als der Clown mit traurigem Gesicht und hängender Sonnenblume vor ihr stand, machte es bei ihr Klick und ihr Herz öffnete sich ihm. Das war der Moment wo Clown und Bienchen zusammenfanden.

Seit dieser Zeit huschte das Bienchen, einmal wöchentlich und in der Mittagspause, zu einem Schäferstündchen in seine Wohnung. Er nannte sie liebevoll Bienchen und sie mein trauriger Clown – beide genossen ihre traute Zweisamkeit. Für Marie-Claire war diese kleine Amour fou ein Haltegriff um nicht in die Tristesse abzugleiten, wogegen sie bei Marc etwas unschlüssig war. Marc lebte seit seiner Scheidung alleine und sehr zurückgezogen. Als sie ihn einmal nach seiner Ex-Frau und nach dem Trennungsgrund gefragt hatte, hatte er nur enttäuscht mit den Achseln gezuckt. Danach hatte sie es unterlassen unliebsame Fragen zu stellen, und so profitierten beide voneinander. Jeder nahm sich seine Portion an Geborgenheit, Liebe und ungezwungenen Sex.

Erste Sonnenstrahlen fielen auf ihre To-Do-Liste. Der neue Tag war erwacht und es drängte sie zu ihrem Clown, ihr war nach Wärme, Nähe und Geborgenheit. Und um dem langsam wiederkehrenden Schmerz im Hüftbereich entgegenzuwirken, schluckte sie vorsorglich nochmals zwei Schmerztabletten, anschließend schlüpfte sie in ihren Jogginganzug, schnappte sich Jacke und Turnschuhe und schlich dann auf Zehenspitzen durch den Flur. Vor dem Schlafzimmer ihrer Mutter stoppte sie, vorsichtig lauschte sie an der nur leicht angelehnten Tür, und nach ihrem lauten Luft-Schnapp-Schnarchen zu urteilen schien sie noch den Schlaf der Gerechten zu schlafen. Um sie nicht zu wecken huschte sie mit angehaltenem Atem die Treppe hinunter, wobei sie geschickt die knarzenden Stufen überging. Mit einem kaum hörbaren Klack fiel die Haustür hinter ihr in Schloss.

Marc wohnte gleich über der Buchhandlung. Um Tratsch und Gerede in der Nachbarschaft zu vermeiden, parkte sie ihren Wagen in einer Seitenstraße. Während sie die Eingangstür aufschloss, betätigte sie gleichzeitig den Klingelknopf, denn keinesfalls wollte sie unangemeldet bei ihm erscheinen. Als sie die Treppe hochkam, streckte er bereits den Kopf durch den Türspalt und beäugte etwas skeptisch den allzu frühen Besuch.

„Guten Morgen, Marc“, sagte sie, zeitgleich setzte sie ihre Kummer-Versteck-Brille ab. Das Veilchen um ihr Auge war mittlerweile vom dunkelblauen Violett ins schimmernde Gelbgrün gewechselt.

„Oh, mein armes Bienchen!“, rief Marc erschrocken auf, „was ist denn mit dir geschehen!“, wobei eine Mischung aus Mitleid und Entsetzen sein Gesicht zeichnete.

Und just mit seinem Empörungsausruf gab’s auch für ihre Tränen kein Halten mehr.

„Das kann so nicht weitergehen“, echauffierte er sich, „das kann und werde ich nicht länger mit ansehen.“ Behutsam nahm er dann sein zitterndes Bienchen in die Arme.

Schniefend sagte sie schließlich: „Ich habe Eugen verlassen!“

Erstaunt sah er sie an: „Ist das dein Ernst? Du hast ihn also wirklich verlassen?“, hakte er ungläubig nach.

„Ja“, sagte sie mit piepsiger Stimme und laufender Nase, wobei sie etwas hilflos in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch kramte, „dieses Mal, ja, dieses Mal ist er definitiv zu weit gegangen.“

„Na endlich hast du es geschafft!“, seufzte Marc. Sichtlich erleichtert über ihren Entschluss, zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und überreichte es ihr. „Mein armes kleines Bienchen“, tröstete er sie weiter, „alles wird wieder gut, glaub mir.“

Marie-Claire schnäuzte kräftig hinein und fühlte sich, für den Moment jedenfalls, verstanden.

„Gleich nach dem Frühstück, werde ich dir das Gästezimmer herrichten“, schlug er vor.

„Nein, nein“, unterbrach sie ihn sofort, „es ist besser, wenn ich vorerst bei meiner Mutter wohne, alles ist dann unverfänglicher.“

Er ging etwas auf Distanz und sah sie fragend an.

„…wegen der Scheidung … und so“, antwortete sie.

„Ahhh … und so!“, wiederholte er enttäuscht.

„Naja, meine Mutter ist der Auffassung ich sollte mein Leben zuerst einmal selbst in die Hand nehmen, bevor ich mich wieder in eine Beziehung stürze.“

Verdutzt sah er sie an, „ja weiß sie denn über uns Bescheid?“, fragte er.

Sie schnäuzte erneut ins Taschentuch und antwortete: „Glaub mir, meiner Mutter kann man nichts vormachen, sie sieht einen an und weiß genau was in einem vorgeht.“

„Ah verstehe, verstehe“, nickte er mit hochgezogenen Augenbrauen, „aber wenn ich dir behilflich sein kann, bei was auch immer, hab keine Scheu mich zu fragen!“

„Danke, das ist sehr lieb von dir und ich weiß das auch sehr zu schätzen“, antwortete sie mit einem gequälten Lächeln, „aber mir genügt schon, wenn du mich hin und wieder in die Arme nimmst, so wie jetzt, mich drückst und mich einfach nur so nimmst wie ich bin.“

„Liebend gerne mein Bienchen“, hauchte er. Dann umarmte und küsste er sie – und dieser Kuss war fordernder und intensiver als alle Küsse die sie zuvor getauscht hatten.

Plötzlich hatte sie alle Mühe sich von ihm zu lösen, und genau diese Art von Umklammerung versetzte sie nun in Panik. „Marc bitte, ich muss zurück bevor meine Mutter aufwacht. Außerdem kommt mein Bruder Laurel mit der Frühmaschine, und dann gibt es noch ganz viel zu bereden, du weißt … wegen der Scheidung und so …“, stammelte sie.

„Och Bienchen, das sind mir zu viele und so’s! Außerdem hast du mir noch nicht einmal erzählt was geschehen ist.“

Kopfschüttelnd, aus Scham über das Geschehene den Blick gesenkt, drückte sie ihn auf Distanz. Zum jetzigen Zeitpunkt war sie nicht in der Lage mit ihm über ihren Missbrauch zu reden, was sie benötigte war Abstand.

Eindringlich sah er sie an, „was hat dir der Kerl bloß angetan?“, fragte er sichtlich besorgt.

Sich erinnernd kullerten erneut Tränen über ihre Wangen, ihr war als würden die ehelichen Misshandlungen geballt in ihrer Kehle stecken und sie zum Schweigen bringen.

„Es ist besser, wenn ich jetzt gehe“, kamen die Worte schließlich stockend über ihre Lippen.

„Okay, Bienchen, du musst mir aber versprechen, dass wir uns bald wieder sehen, es muss ja kein Schäferstündchen sein“, versuchte er sie aufzumuntern, „vielleicht können wir uns nur sehen, zusammen einen Kaffee trinken und dabei reden, oder ins Kino gehen, oder sonst was unternehmen“, sagte er mit einem milden Lächeln.

„Marc, bitte, sei mir nicht böse, lass mir Zeit.“

„Alle Zeit die du brauchst, mein Bienchen“, entgegnete er. Wobei in der Modulation seiner Stimme bereits ein Quäntchen Hoffnung auf ein Wiedersehen lag.

Marie-Claire fühlte sich irgendwie unwohl, ja, geradezu von seiner Fürsorge überrumpelt, sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und eilte die Treppe hinunter. Am unteren Treppenabsatz blieb sie stehen, drehte sich zu ihm um und sagte: „Apropos Zeit, es ist dir doch recht, dass ich einige Tage Urlaub nehme!“

„Kein Problem“, antwortete er mit seinem schönsten Lächeln, wobei er ihr einen Luftkuss zuwarf, sie fing ihn auf und warf ihn, wenn auch mit einem gezwungenen Lächeln, wieder zurück.

Als sie später auf der Rückfahrt zu ihrer Mutter war, dachte sie über Marc nach. Sein plötzliches Drängen auf ein Wiedersehen passte ihr zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht. Ihr stand so gar nicht der Sinn nach Liebesgeplänkel oder gar einer festen Beziehung. Aber zu weiteren Vertiefungen kam sie nicht mehr, denn vor der Einfahrt zu ihrem Elternhaus parkte ein Taxi, ihr Bruder Laurel kletterte heraus und eilte mit seinem Piloten-Köfferchen Richtung Haus. Nun hatte sie ein Problem. Während sie sich den Kopf zerbrach, wie sie unbemerkt wieder ins Haus kommen könnte, stand Laurel bereits vor der Haustür und kramte fluchend in seinen Jackentaschen nach dem Hausschlüssel.

Just in dem Moment als Marie-Claire neben ihm stand, riss ihre Mutter die Tür auf.

„Da bist du ja, mein Junge!“, begrüßte Ella freudestrahlend den Weltenbummler. Dann sah sie zu Marie-Claire und fragte erstaunt: „Wo kommst du denn jetzt her?“

„Ich?“, antwortete sie völlig perplex, wobei sie verlegen mit dem Zeigefinger den Sitz ihrer Kummer-Versteck-Brille korrigierte.

Laurel sah zu ihr hin und erkannte schon gleich an ihrem verzweifelten Gesichtsausdruck, dass sie Hilfe benötigte, stellvertretend antwortete er für seine Schwester: „Sie hat mich vom Flughafen abgeholt weil, weil ich in meiner Schusseligkeit den Hausschlüssel verlegt habe und dich, liebes Mütterlein, nicht aufwecken wollte!“

„So, hat sie das!“, entgegnete Ella barsch und bestrafte Marie-Claire mit einem argwöhnischen Blick.

„Ja, ja“, stimmte sie ihrem Bruder erleichtert zu, „so war das.“

In jenem Augenblick war es wieder wie früher, wenn Laurel ihr ein Alibi geben musste.

„Dann kommt mal rein“, befahl sie in ihrer rauen aber doch sehr herzlichen Art.

„Mein Gott, Mütterchen, was ist das denn wieder für eine Begrüßung“, scherzte Laurel. Im Nu hatte er Ella umarmt und sie kurz in die Höhe gehievt, „hey, hast du wieder zugenommen?“, fragte er augenzwinkernd und griff dabei beherzt in ihre Hüftrolle.

Ella juchzte auf, „du frecher Kerl du, lass das!“

Laurel wusste wie Ella anzupacken war und küsste dabei ihre hochroten Wangen.

Marie-Claire schüttelte den Kopf, ihr war absolut nicht nach Flachsen, in ihr brodelte eine angespannte bis depressive Stimmung.

„Na, Schwesterherz“, sagte Laurel, „und welche Laus ist dir am frühen Morgen über die Leber gehüpft?“, woraufhin er sie scherzeshalber in die Seite knuffte.

Erst als sie ihre Brille von der Nase zog, wurde er still, entsetzt sah er sie an, dann sagte er: „Holla die Wald-Fee! Welches Scheunentor kam dir denn diesmal entgegen?“, worüber er nur verständnislos mit dem Kopf schütteln konnte.

Ella klatschte in die Hände, so wie früher, wenn beide keine Ruhe gaben. „Lasst uns zuerst frühstücken, danach können wir über alles reden“, fügte sie an, wobei sie ihrer Tochter einen strafenden Blick zuwarf – war auch sonnenklar warum – denn wie konnte sie es wagen, sich mit ihren Problemen, zwischen das Mutter-Sohn-Duo zu drängen.

An diesem Morgen hatte die Mutter ihrem geliebten Sohn alles aufgetischt was sein Herz begehrte: Es gab Rührei mit kross gebratenem Frühstücksspeck, eine Auswahl an ofenfrischen Brötchen, Pfannkuchen mit Schokoladencreme sowie frisches Obst.

„Wow, da lacht des Sohnes Herz! So ein Frühstück gibt’s nur bei Muttern“, wobei er ihr wiederholt ein Küsschen auf die Wange drückte.

Somit war das Thema: Marie-Claire und ihr Ehe-Desaster vorerst außen vor – was Marie-Claire im Grunde auch gar nicht so unrecht war.

Während sie ausgiebig frühstückten erzählte der gutgelaunte Flugbegleiter von seiner Arbeit. Voller Euphorie berichtete er über ferne Länder, er schwärmte sowohl von pulsierenden Metropolen, als auch von traumhaften Landschaften in den entlegensten Gegenden, dazu gab’s – eigens für seine über alles geliebte Mutter – kleine Anekdoten die ihr hin und wieder ein Lächeln und manchmal sogar ein Gibt’s-doch-gar-nicht entlockten.

Keine Frage, wenn Laurel heimkam und seiner Mutter die Welt in den schillerndsten Farben, gespickt mit den ungewöhnlichsten Geschichten, zu Füßen legte, strahlte sie übers ganze Gesicht – dann war Ella glücklich.

Marie-Claire gab sich zwar interessiert, jedoch war sie in ihrer eigenen Gedankenwelt unterwegs und die war alles andere als schillernd. Mit dem Vorwand Kopfschmerzen zu haben zog sie sich, mit kalten Kompressen fürs malträtierte Auge, auf ihr Zimmer zurück. Kaum, dass sie auf dem Bett lag, war sie auch schon eingeschlafen. Erst am späten Nachmittag wurde sie durch ein zaghaftes Klopfen an ihrer Tür geweckt.

Laurel hatte die Tür einen Spaltbreit geöffnet, steckte den Kopf hindurch und fragte: „Kann ich reinkommen?“

Marie-Claire nickte, reckte und streckte sich aus dem Schlaf. „Ich muss wohl eingeschlafen sein“, gähnte sie, „wie spät ist es?“

„Fast fünf“, antwortete er, dann setzte er sich zu ihr aufs Bett, sah sie besorgt an und fragte: „Wie geht’s meiner kleinen Schwester?“

Kurz dachte sie über seine Frage nach, dann antwortete sie: „Ich fühle mich wie ein gerupftes Huhn, das zitternd und ängstlich darauf wartet, dass jemand kommt und es wärmt.“ Laurel grinste und wie immer hatte er eine passende Antwort parat: „Och, so appetitlich wie du aussiehst, wird sich sicherlich ein Gourmet finden der dem Hühnchen ein Mäntelchen umlegt.“

Sie sah ihn groß an, dann fing sie zu lachen an, doch nach und nach ging ihr Lachen in ein Weinen über, zwischen ihrem Schluchzen sagte sie: „Du bist genau das, was ich jetzt brauche!“

Brüderlich legte er ihren Arm um sie, „was hältst du davon, wenn wir beiden Hübschen heute Abend um die Häuser ziehen? Wir lassen es so richtig krachen!“ Und noch bevor sie sich eine Ausrede überlegen konnte, hatte er seinen berühmten und äußerst charmanten Ein-nein-gibt’s-nicht-Blick aufgesetzt, „in einer Stunde ziehen wir los“, sagte er augenzwinkernd, „zuerst gehen wir eine Kleinigkeit essen, danach machen wir die Altstadt unsicher.“

Marie-Claire war überrascht, und noch bevor sie einen Piep von sich geben konnte, war ihr Bruder mit den Worten: see you later, aus dem Zimmer entschwunden.

Ein wenig später stand Marie-Claire unschlüssig und mit gemischten Gefühlen vor dem geöffneten Kleiderschrank, ungewollt verlor sich dann ihr Blick zwischen den vollgestopften Regalböden im Nirgendwo …

Die Geschundene und Angreifbare in ihr sagte: bleib hier, lecke deine Wunden und komme erst mal wieder zur Ruhe; doch die Starke entgegnete: nur Mut, ein Abend unter netten Menschen wird dir guttun und dich aufmuntern – aber irgendwie hatte dieser mickrige Trost den Charakter einer herzzerreißenden Klage.

Und erst als Laurel von draußen an ihre Zimmertür klopfte und trällerte: „Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen“, huschte ein bitteres Lächeln über ihr Gesicht und sie war wieder im Hier gelandet. „Bin gleich soweit“, entgegnete sie, dann kam die Frage aller Fragen: die Kleiderfrage! Von früher wusste sie, dass sie bei ihrem Bruder auf alles gefasst sein musste. „Okay“, murmelte sie und entschied sich zu einem klassisch-sportlichen Outfit. Sie schlüpfte in ihre Jeans, dazu ihre neue goldfarbene Spitzenbluse die viel Haut zeigte – ursprünglich hatte sie dieses verführerische Etwas für ihren nächsten Hochzeitstag gekauft – ein Gedanke der ihren Magen schmerzhaft zusammenkrampfte.

„Wie lange braucht das Mädel denn noch!“, nervte Laurel vor der Tür.

„Jaaa“, entgegnete sie, kurzentschlossen warf sie ihren cognacfarbenen Kaschmir-Blazer um, schnappte ihre Handtasche und stieg beim Hinausgehen in ihre bronzefarbenen Stiefeletten. Noch ein letzter kritischer Blick in den Spiegel. Zum Glück war die Anschwellung um ihr Auge, dank der vielen kalten Kompressen, weitestgehend zurückgegangen, mit ein wenig Concealer, sowie ihrer Kummer-Versteck-Brille, würde man kaum mehr etwas bemerken. Dann verfiel sie wieder in ihr altes Muster: sie betrachtete ihr Spiegelbild mit Eugens Augen. Ja, er würde dir jetzt ein Kompliment machen, dachte sie, denn er liebte es, wenn ihr blondes schulterlanges Haar sich schmeichelnd um ihr Gesicht schmiegte. „Geht gar nicht“, fluchte sie bei näherer Betrachtung, abrupt griff sie nach Bürste und Gel und bearbeitete ihre Haarpracht solange bis aus der mädchenhaften Frau im Spiegel eine derbe Schönheit wurde.

„Können wir endlich los?“, fragte Laurel ungeduldig wobei er seinen Kopf neugierig durch den Türspalt steckte.

„Zu Befehl“, salutierte sie, „ah, noch eine Sekunde bitte“, kurzentschlossen schlich sie ins Bad ihrer Mutter, stibitzte sich dort einen knallroten Lippenstift und malte ihre Lippen damit an.

Auch wenn Ella keinen Wert auf Schminke legte, so hatte sie dennoch ein Faible für Lippenstifte, wobei sie die Farbe kirschrot bevorzugte.

„Eugen findet rotgeschminkte Lippen ordinär“, gab sie erklärend an, als sie Laurels fragenden Blick bemerkte.

„Oha“ antwortete er, dann musterte er sie von Kopf bis zu den Füßen, grinste und sagte: „und vor Frauen mit dynamischen Haarfrisuren graut ihm wahrscheinlich erst recht.“

„Lassen wir das Thema. Na, wie findest du mein Outfit“, fragte sie das Thema wechselnd.

„Aber Holla!“, rief er aus, „nur nicht mit den Reizen geizen, hübsch hast du dich aufgebrezelt, und wenn ich nicht dein Brüderlein und auch nicht schwul wäre, würde ich mich doch gleich in dich verlieben“, scherzte er, wobei er auf sie zuging, ihr so die Hand reichte, dass sie eine Pirouette drehen musste.

„Vielen Dank für die Blumen“, entgegnete sie, und während ihr Blick an ihm herunterglitt, sagte sie: „das Kompliment kann ich postwendend an dich zurückgeben.“

Sein äußerst geschmackvoller Kleiderstil fand schon immer ihre Bewunderung. Zu einer gutsitzenden Jeans trug er ein hellblaues maßgeschneidertes Seidenhemd, das sowohl seinem gebräunten Teint, als auch seinen graumelierten Haaren schmeichelte; dazu kombinierte er ein dunkelblaues Sakko, das er leger über seinen Schultern trug. Das Highlight waren jedoch die cremefarbenen Schuhe aus Schlangenleder. Und gerade als sie zu den Schuhen einen Kommentar abgeben wollte, sagte er kopfschüttelnd: „Nein, nein, nicht was du denkst, sie stammen aus einem Second-hand-Shop und waren ein absolutes Schnäppchen!“

Unvermittelt musste sie auflachen, denn was seine Knausrigkeit, in puncto Klamotten anging, hatte er sich keinen Deut geändert.

Laurel klatschte in die Hände, „let’s go baby“, befahl er, und wie früher polterten sie plappernd die Treppe hinunter und stürmten in die Wohnküche.

Ella hatte Besuch, es war Max, ein ehemaliger Schulfreund und Nachbar.

Max war in seinem früheren Arbeitsleben Polizeibeamter, vom Hörensagen muss er wohl ein scharfer Hund gewesen sein. Auch wenn er nicht gerade gesprächig war, so war er dennoch ein guter Zuhörer – jedenfalls hatte Ella das immer behauptet. Nach seiner Pensionierung und nach dem Tod seiner Frau, hatten die beiden ihre nachbarschaftlichen Beziehungen intensiviert – Max half wo eben Not am Manne war.

Die beiden saßen am Küchentisch, hatten die Köpfe zusammengesteckt und taten dabei sehr geheimnisvoll.

„Na, welche Leiche müsst ihr denn dieses Mal verschwinden lassen?“, kam es Laurel spaßeshalber, mit einem Touch Zynismus versehen, über die Lippen.

Max und Ella fühlten sich sogleich ertappt, verstummten und blickten gleichzeitig entsetzt auf.

Keep cool war nur ein Joke!“, korrigierte Laurel seine anzügliche Bemerkung.

Max nahm sofort korrekte Haltung an und setzte seine altbewährte Polizeimiene mit Schauder-Effekt auf; ja, und Ellas Versuch zu lächeln, endete irgendwie in einer hilflos-komischen Grimasse.

„Wir ziehen mal um die Häuser“, sagte Laurel augenzwinkernd, „und versuchen dem Alltag ein schöneres Gesicht zu geben.“ Auf der Türschwelle stoppte er, mit vorgetäuschter Ernsthaftigkeit, sowie erhobenem Zeigefinger sagte er: „Und ihr, ihr macht mir keine Dummheiten!“ Er fand das selbst so witzig, dass er sich vor Lachen krümmen musste. Mit einem „let’s go Schwesterherz“, schob er Marie-Claire schließlich zur Tür hinaus.

Max fühlte sich angegriffen, schüttelte verärgert den Kopf und grummelte dabei etwas Unverständliches in seinen Bart. Ella verkniff sich jeglichen Kommentar und beäugte die nächtliche Unternehmungen ihrer Kinder mit einem leichten Argwohn.

Ellas Geheimnis

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