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An wen wendet sich diese Broschüre?

Sie arbeiten in einem pädagogischen, medizinischen oder beratenden Beruf, etwa in einer Kindertagesstätte oder als Grundschullehrerin, Hebamme, Familienhebamme, als Kinderkrankenschwester, Familienhelferin, Sozialarbeiterin. Oder Sie sind in der Beratung, zum Beispiel als Gleichstellungsbeauftragte tätig. Oder Sie leisten vergleichbare Arbeit in einer Institution oder betreuen Eltern und deren Kinder im häuslichen Umfeld. Anwendung kann diese Broschüre bei allen Menschen finden, die mit Kindern und Eltern arbeiten, sei es im pädagogischen, medizinischen oder beratenden Bereich.

Missbrauchsgeschehen in Ihrem beruflichen Umfeld

Sie haben professionell gehandelt, nachdem es in Ihrer Einrichtung zu einem Fall von sexuellem Missbrauch oder zu dessen Verdacht kam. Sie haben für das vom Missbrauch betroffene Kind und deren Eltern alles Nötige in die Wege geleitet.

Alles ist getan, doch nun Sie stehen allein da.

Es ist auffällig, dass es kaum Hilfestellungen gibt, die es Ihnen ermöglichen, sich in akuten Situationen oder zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihrer Mitbetroffenheit auseinandersetzen. Diese Broschüre soll helfen, diese Lücke zu füllen und Ihnen Anregungen zu geben, freundlich mit sich selbst zu sein, sich zu akzeptieren und sogar zu lieben, sich nicht zu überfordern und sich zu schonen. Ebenso möchte diese Broschüre den Zusammenhang zu Ihrer eigenen Sexualität aufzeigen und helfen, diesen zu beleuchten. Diese Broschüre regt an, das Geschehen anzuschauen und sich generell mit dem Themenkreis Sexualität und Übergriffigkeit speziell bei Kindern zu befassen und eine Position zur eigenen Sexualität zu beziehen.

Tabuthema Missbrauch

Zeitweise findet ein Missbrauch Eingang in die Medien, aber nur bei besonders spektakulären Fällen. Trotz dieser oft hysterischen Öffentlichkeit ist sexueller Missbrauch noch immer ein Tabuthema.

Das alltägliche Leid von Betroffenen zeigt sich stiller in den Beratungsstellen, bei Psychotherapeuten und in den Frauenhäusern. Es braucht oft lange, bis sich betroffene Erwachsene jemanden anvertrauen. Noch viel schwieriger ist es jedoch für die Kinder, überhaupt Gehör zu finden.

Die meisten Übergriffe ereignen sich im sensiblen Umfeld der Familie oder auf anderen Vertrauensebenen, wie in der Schule oder im Sportverein. Sich eines Missbrauchsgeschehnisses gewahr zu werden, ist eine derart verunsichernde Erschütterung, dass viele mit Ungläubigkeit reagieren. Denn es erscheint undenkbar, dass Eltern, Lehrer oder andere wichtige Personen die Würde und den Körper des Kindes so sehr missachten.

Sie begegnen im Laufe Ihrer Tätigkeit im Betreuungs- und Erziehungsbereich mehr als einem Kind und einem Elternteil, das von sexuellen Übergriffen betroffen oder bedroht wurde. Grund genug, sich mit sich selbst und den eigenen Reaktionen auseinanderzusetzen .

Einfache Übungen, die helfen

Sie finden in dieser Broschüre unterschiedliche Möglichkeiten, sich selbst zu nähern und die eigene Haltung zu dem Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder im beruflichen Umfeld zu beleuchten, etwa über die Körperarbeit, über das Schreiben oder über die künstlerische Gestaltung.

Es sind Übungen die Sie alleine ausführen können, einige eignen sich auch, um im Team genutzt zu werden.

Sie können mit dieser Broschüre auf unterschiedliche Weise arbeiten:

 Sie suchen sich die gedanklichen Anregungen oder die Übungen heraus, die Ihnen spontan zusagen, um zur Ruhe und zum Nachdenken zu kommen.

 Sie können die Körper-Übungen als kurzfristige Erste-Hilfe-Entlastung nutzen.

 Sie können die Schreibübungen nutzen, um sich besser kennen zu lernen und mitunter um sogar Trost zu finden.

 Sie können sich längerfristig mit dem Thema Sexualität und Übergriffigkeit beschäftigen und so ein Bewusstsein für das Thema entwickeln.

Hilfestellung und Unterstützung

Für Sie sowie für alle Eingeweihten ist die Tatsache schockierend, dass ein Kind sexuelle Gewalt erfahren hat, und alle möchten helfen. Wie den Kindern und deren Eltern geholfen werden kann, dafür gibt es inzwischen – mitunter auch durch Ihre Hilfe – zahlreiche Informationsbroschüren, Angebote und Ansprechpartnerinnen. Doch Sie als betreuendes Fachpersonal werden mit sich allein gelassen.

Dieses Heft soll Ihnen Hilfestellung geben, Ihre Gefühle zu leben, sich aus Ihrem Schockerleben zu befreien. Vielleicht ebnet das Heft auch die Möglichkeit, selbst eine Beratungsstelle aufzusuchen oder psychologische Hilfestellung anzunehmen.

Wann sind Sie von sexualisierter Gewalt mitbetroffen?

Zum Beispiel,

 wenn ein Verdacht in der Kindertagesstätte geäußert wird.

 wenn Sie eine Familie betreuen und wissen, dass der Kindesvater in einer früheren Familie übergriffig gegenüber seinen Kindern worden ist.

 wenn eine Frau oder ein Mann Ihnen während einer Beratung von ihren Erlebnissen in der Kindheit erzählt.

Immer dann, wenn in Ihrem direkten beruflichen Umfeld das Thema berührt wird, sind Sie mitbetroffen, leiden mit dem Kind oder Ihnen kommen möglicherweise Erinnerungen an Ihren eigenen erlebten Übergriff wieder. Sie müssen in irgendeiner Form zum Thema Stellung nehmen.

Übergriffigkeit kennt viele Nuancen, wichtig ist, was Sie als zu nahe, als verletzend erleben. Dieses Empfinden hängt mit Ihrem Lebenslauf und den jeweiligen Erfahrungen zusammen. Deshalb gibt es auch keine allgemeingültigen Empfehlungen dafür, wie mit Verletzungen der individuellen Nähe umgegangen werden kann.

Mit unangenehmen Gefühlen konfrontiert

Das Erschrecken ist normal, wenn Sie gewahr werden, ein Kind mit Missbrauchserfahrungen zu betreuen. Manchmal kommen eigene Erfahrungen des Missbrauchs dazu. Gefühle wie Wut. Scham, Ohnmacht und eine Haltung, wie „Nichts-mehr-wahrnehmen-wollen“ beeinflussen die Arbeit. Möglicherweise kommen Hassgefühle hinzu, etwa auf die Eltern der Kinder oder auf andere Missbrauchenden. Die Auseinandersetzung mit dem Übergriff ist sehr intim. Es ist nicht leicht, sich selbst so nahe kommen.

Wichtige individuelle und professionelle Fragestellungen

In Beratungsgesprächen für Kindertageseinrichtungen fiel auf, dass die Betreuungspersonen sich selbst vergessen vor lauter Sorge um das Kind. Es ist kaum Zeit zu fragen:

 Wie geht es mir, nachdem ich vom Missbrauch eines Kindes erfahren habe?

Dies zu klären, wird meist als nicht so wichtig angesehen, ist doch das Kind Ihrer Meinung nach viel mehr betroffen als Sie. Ein Missbrauch äußert sich nicht nur am Betroffenen sondern hat immer Auswirkungen auf das Umfeld. Sie nehmen in jedem Fall Stellung, auch wenn sie sich nicht für alle deutlich zeigt.

 Wie wirkt mein Verhalten - meine innere Verzweiflung oder Abscheu auf das Kind - auf die anderen Kinder und andere Mitbetroffene?

Sie sind die Person, die den Betreuungskindern hilft, sich ein Bild von der eigenen Person zu machen, die Ihnen zeigt, dass Gefühle wichtig sind. Sie sind ein Vorbild für den Umgang mit schwierigen Situationen, mit offenen Worten, die nicht verletzen und doch die Situationen benennen. Oft glauben Sie, die Kinder zu schützen, indem Sie sie fernhalten von tragischen Geschehnissen. Warum fällt es so schwer zu sagen, ich bin traurig, weil Eltern, Onkel oder andere Personen verletzend mit einem Kind umgegangen sind?

 Was geschieht, wenn Sie Gefühle zeigen?

Ist es für Sie schwer, auszuhalten, dass Sie ein Ereignis, das Sie tief erschüttert hat, nicht verhindern konnten, und nichts im Vorfeld bemerkt haben? Als Gegenreaktion werden Sie vielleicht noch aktiver, um sich gut zu fühlen. Die Grundstimmung der Traurigkeit werden Sie damit nicht überdecken. Die Kinder merken, dass Sie betroffen sind und glauben, Sie trösten zu müssen. Sie sind dann besonders aufmerksam. Sie bringen Ihnen etwas mit, ein Gummibärchen, ein Bild.

Und noch immer können Sie nicht sagen, was Sie so traurig macht. Das verunsichert auch das Kind. Wo soll das Kind mit seinen Ängsten hin? Wie können Sie in Liebe eine Situation benennen, die Sie nicht verhindern konnten, die Sie verletzt hat und hilflos macht?

 Kann ich immer Vorbild sein?

Vorbild sein geht nur, wenn Sie selbst für sich herausgefunden haben, wo Sie stehen, und welche Grenzen Sie wann und warum ziehen wollen. Dies wird besonders deutlich, wenn sich ein übergriffiges Ereignis einstellt. Sicher ist, Sie werden nicht immer vorbildlich handeln können. Manchmal holt Sie Ihr eigenes Leben ein, eine selbst erlebte Übergriffigkeit. Manchmal sind Sie so schockiert, etwa wenn Sie den Täter kennen. Ihr Handeln muss auch nicht immer richtig sein, es muss lediglich erkennbar sein, Kinder, Eltern und Mitarbeiterinnen sollten es verstehen können. Dazu ist es nicht wichtig, Ihr Leben offenzulegen, es genügt, wenn Sie Ihre Standpunkte mitteilen.

Unguter Kreislauf

Warum ist es so wichtig, sich mit der eigenen Verletzlichkeit auseinanderzusetzen? Unbearbeitet besteht die Gefahr, den Umgang mit Sexualität oder Teilen davon zu tabuisieren. Sie werden sich bei diesem Thema zurückziehen, sich einigeln. Sie hoffen, etwa als Erzieherin, dass die Kinder nichts davon merken. Dass Sie es vermeiden, sich dem Thema Sexualität zu stellen, hat Auswirkungen auf die Kinder, die dadurch den Bereich Sexualität gesondert von ihrer sonstigen Körperlichkeit erleben werden. Die Kinder werden Sie entweder seltener mit dem Thema Sexualität, Körperlichkeit konfrontieren, oder Sie im Gegenteil ganz besonders in diesen Bereich herausfordern, durch Worte oder auch dem Bedürfnis, Ihnen ständig körpernah zu sein. Sie verändern das Selbstwertgefühl der Kinder und machen es möglichen Tätern leichter, sich den Kindern erneut zu nähern. Täter haben ein gutes Gespür für die Nöte und Schwächen der Kinder und nutzen diese Not aus. Es entsteht unter Umständen folgender Kreislauf:

Missbrauch → Mitbetroffenheit → keine Bearbeitung → Tabuthema Sexualität → verändertes Selbstwertgefühl der Kinder → möglicher erneuter Übergriff gegen das Kind

Mit Offenheit aus der Spirale des Mitleidens

Mit der Bearbeitung der Übergriffigkeit erreichen Sie eine Gesprächsoffenheit. Sie können das Thema Sexualität mit den Kindern, den Eltern und den Kolleginnen besprechen. Sie beziehen eine Position zur eignen Sexualität und gleichgültig, wie diese aussieht, ist sie für die anderen aussagefähig. Sie setzen die Grenzen, was für Sie zulässig ist. Das ist eine Vorbildfunktion für die Kinder und stärkt durch die Nachahmung ihr Selbstwertgefühl. Es macht die Kinder weniger verwundbar. Die Bearbeitung kann den Kreislauf positiv gestalten:

Missbrauch → Bearbeitung → Gesprächsoffenheit → eigene Position finden → Grenzen setzen → Stärkung des Selbstwertgefühl der Kinder durch Vorbildfunktion → mögliche Verhinderung erneuter Übergriffigkeit

Wo bleibe ich?

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