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l. Kapitel

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Die Küche sah prächtig aus fand Luise, und es roch köstlich. Seit Tagen hatte das kleine Mädchen der Mutter geholfen, alles für Weihnachten vorzubereiten. Die Betten waren frisch bezogen und die Stuben ausgefegt. Weitaus am meisten war in der Küche zu tun gewesen. Der Hase für den Festtagsbraten musste in Wein, gewürzt mit Nelken, Pfeffer und einigen Lorbeerblättern eingelegt werden. Zöpfe und Lebkuchen wurden gebacken, und was Luise am heissesten liebte: Badener Chräbeli.

Auf dem Gänterli dampfte ein Apfelkuchen. Der war für das Abendessen bestimmt. Jetzt brannte das Feuer im grossen Ofen nur um zu wärmen. Riesige Buchenscheite knackten. Einzig der Schein der Flammen erhellte den immer dunkler werdenden Raum. Die Kleine liebte die Küche am meisten zur Zeit der Dämmerung. Tagsüber war sie angefüllt mit Geschäftigkeit, aber in den Abendstunden zeigte sie ihr wahres Gesicht. Luise hätte es nicht in Worte fassen können, aber sie spürte, dass die Küche das Herz des Hauses war, das ihr mit seinen dicken Mauern und dem tief heruntergezogenen Dach Geborgenheit schenkte – Heimat war.

Ihr Blick wanderte über die rauen, unverputzten Steinmauern auf denen die Schatten der zuckenden Flammen einen seltsamen Tanz aufführten. Die eiserne Ofentür stand einen Spalt breit offen, damit das Feuer, eben erst von der Mutter neu entfacht, genug Zug hatte. An derselben Wand stand auch der Kochherd mit seinen zwei Pfannenlöchern und dem grossen Wasserschiff aus Messing. Darüber der mächtige Rauchfang, in dem an eisernen Haken Würste, Speck und Schinken hingen. Der Raum hätte düster wirken können. Doch durch die freundliche Einrichtung strahlte er Behaglichkeit aus. Der Tisch, die Bänke und der behäbige Geschirrschrank waren aus hellem Eichenholz. Auf den offenen Borden stand das weisse, mit blauen Blumen bemalte Geschirr. Auf dieses war Luises Mutter Verena besonders stolz. Ebenso auf das ererbte, versilberte Besteck. Solch schöne Dinge waren selten in einem Försterhaus. Nicht nur in der Küche, überall in dem bescheidenen Haus war zu spüren, dass hier eine Hausfrau waltete die das Schöne liebte, und die es verstand mit wenigen Mitteln ein gemütliches Heim zu schaffen.

Am frühen Mittag hatte Luise mit ihrer Mutter Büschel von Tannen- und Föhrenzweigen über die Türen gehängt. Jetzt, wo es im Raum immer wärmer wurde, verströmten sie ihren harzigen Geruch. Die Zweige hatte Vater Joseph von seinem Morgengang durch den Wald mitgebracht, zusammen mit einem kleinen Tannenbaum. Zum ersten Mal in ihrem Leben sollte die kleine Luise einen Weihnachtsbaum bekommen. Mutter Verena hatte bei einem Gang in die Stadt von dem neuen Brauch gehört, zu Weihnachten einen Baum mit Kerzen zu schmücken. Da sie immer darauf sann, ihrer Kleinen Freude zu machen, fasste sie sich ein Herz und erzählte ihrem Mann davon. Natürlich war sie sich bewusst, dass es ein eher unbescheidenes Ansinnen war. Kerzen waren teuer und es grenzte an Leichtsinn, an einem Abend gleich mehrere davon abzubrennen. Sie stiess bei Vater Joseph auf offene Ohren. Er hatte bereits am Chlausmarkt im Städtchen diese seltsamen Dinger aus Draht gesehen, in die man Kerzen stecken konnte, um sie an einem Zweig zu befestigen. Er würde ein paar davon besorgen. Er hätte noch ganz andere Dinge getan um seine geliebte Frau und sein Luischen glücklich zu machen.

Nun war die Mutter dabei das Bäumchen zu schmücken. Luise musste in der Küche warten. Sie lauschte auf das Knarren der hölzernen Dielen unter den leichten Schritten der Mutter in der Stube nebenan. Ein Schauer ging über den Rücken des Kindes. Bald würde es soweit sein. Die Zeit wurde ihr lang. Sie kletterte auf die Küchenbank um aus dem Fenster zu schauen. Der Schnee schien alle Laute zu verschlucken. Das Licht war schon ganz matt und es erschien dem Kind, als ob die Bäume näher an das Haus gerückt wären, um Schutz zu suchen.

Endlich stapfte der Vater vom Walde her durch den Schnee, würdevoll begleitet von seinem bereits etwas kurzatmigen Dackel. Das Mädchen seufzte freudig auf: Jetzt würde Weihnachten werden. Luise horchte darauf, wie der Vater den Schnee von den Schuhen stampfte und dann ins Haus trat. Eilig rutschte sie von der Bank und sprang hinaus in die Diele, direkt in die Arme des grossen hageren Mannes, bevor er auch nur seinen feuchten Umhang ausziehen konnte. „Hei Du Wildfang, lass mich erst einmal heimkommen!“ lachte er. Aber seine Abwehr war nur gespielt. Er liebte Luise abgöttisch. Das einzige Kind, das ihm noch geschenkt worden war, als er die Hoffnung Vater zu werden, längst aufgegeben hatte.

Sie war ein so anmutiges, feines Wesen. Ganz anders als die Bauernkinder in der Umgebung, dachte er mit heimlichem Stolz. Sie war zartgliederig. Ihr schön geformter Kopf sass auf einem schlanken Hals. Ihre Bewegungen hatten nichts Ungelenkes, waren eher die eines scheuen Waldtieres. Sie hatte ein schmales Gesicht mit einem kecken Näschen und das kleine Kinn verriet bereits Stärke. Der Blick ihrer leuchtend dunkelbraunen Augen richtete sich geradewegs auf die Menschen und es war gar nicht immer leicht, ihm stand zu halten. Um ihre Lippen spielte meistens ein kleines Lächeln.

Sie war ein glückliches Kind.

Der Vater strich seinem Liebling die dunklen Locken aus dem erhitzten Gesicht. Zusammen traten sie in die warme, vom Feuer erhellte Küche, überholt von Hubertus, der an ihnen vorbeidrängte, um sich mit unanständigem Eifer über den Fressnapf herzumachen. Vater Joseph schnürte seine schweren Stiefel auf. Luise trug sie auf die Matte neben dem Herd und brachte die warmen Endefinken. Der Vater sollte es warm und trocken haben. Der Mann im grünen Lodenkleid griff nach der Laterne, schraubte den Docht hoch und entzündete mit einem glühenden Span das Licht. Aus einem grauen Krug schenkte er sich ein Glas Apfelmost ein und setzte sich damit an den Tisch. „Was meinst du, Elfchen, ob deine Mutter bald soweit ist?“ Luise rutschte ganz nah zu ihrem Vater. Der verstand den Wink und hob sie auf seine Knie. Beide genossen es, die lebendige Wärme des anderen zu spüren. Das orangefarbene Licht der Laterne, die weichen Schatten die es auf die Wände warf, das schwere Schnaufen des Hundes - alles schien sich zu einem warmen Mantel aus Ruhe und Geborgenheit zu verweben. In diesen eingehüllt sassen sie still und liessen sich von dem tiefen Frieden ergreifen, in dem ihrer beider Wesen wurzelte. Manchmal fühlten sie es wie jetzt, als vertieftes Echo äusserer Stille, manchmal war es wie eine Antwort auf etwas, das ihrem eigenen Sein entstieg.

Die Tür ging auf und die Mutter kam herein mit einem zufriedenen Lächeln: „Da sind ja meine beiden Träumer! Es hat zwar erst Betzeit geläutet, aber ich denke wir essen heute ein bisschen früher. Oder wollt ihr noch warten?“ Sie nahm Seife und Handtuch um sich am Brunnen vor dem Haus die Hände zu waschen. Luise ging an der warmen Hand ihres Vaters hinterher, denn ohne saubere Hände gab es kein Essen. Die Mutter stellte die schönen Teller, die sie zur Hochzeit von ihrer Gotte geschenkt bekommen hatte auf den weissgescheuerten Tisch und legte die silbernen Löffel dazu. Weil Heiligabend war, schmückte Luise die Tischmitte mit einem Tannenzweig und der Vater stellte eine dicke Kerze dazu, die nicht nur die Farbe von Honig hatte, sondern auch fein danach duftete. Auf einem dicken Holzbrett stellte die Mutter einen frischen Laib Brot vor den Platz ihres Mannes. Während sie aus dem grossen Kupfertopf, der schon seit Mittag auf der Herdplatte stand, währschafte Gerstensuppe schöpfte, nahm Vater Joseph den Brotlaib auf, ritzte mit dem Messer das Kreuzeszeichen in dessen Boden und schnitt dicke Scheiben davon auf.

Von welchem Vorfahr der Brauch des Kreuzeszeichens zu Joseph Schmid gekommen war, wusste niemand mehr. Er war Protestant, und das war eindeutig eine katholische Sitte. Aber die „Glaubensgrenze“ verlief seit dem Villmerger Krieg nur ein paar Kilometer weiter südlich und so war es nur wahrscheinlich, dass unter seinen Ahnen auch einer „von der anderen Seite“ war. Für ihn wäre es fast einer Gotteslästerung gleichgekommen, ein Brot anzuschneiden, ohne vorher durch das Kreuzeszeichen dafür zu danken und um Segen zu bitten. Fast andächtig löffelte die kleine Familie die Suppe und brach ab und zu ein Stück von dem feinen, frischen Brot dazu. Als die Teller leer waren, stellte sie Mutter Verena zusammen ins Spülbecken und langte die Kaffeemühle vom Wandbord. Sorgfältig füllte sie die kostbaren Bohnen ein. Luise durfte die kleine Kurbel drehen. Sie konnte es jeweils kaum erwarten, bis sie die winzige Schublade aufmachen durfte, und die Mutter den Kaffee herausnahm um ihn mit heissem Wasser zu überbrühen.

Heute würde es für die Eltern eine Tasse Kaffee zum Apfelkuchen geben. Es duftete herrlich. Luise hatte geglaubt, dass etwas das so herrlich roch, auch gut schmecken würde. Einmal durfte sie aus Vaters Tasse probieren. Es war eine Enttäuschung. Bitter war das Zeug. Luise blieb bei ihrer Milch. Kaum hatte sie ihr Milchschnäuzchen geputzt, rutschte sie unruhig hin und her. Die Eltern lächelten sich verständnisinnig zu. Mutter Verena stand auf, griff nach der Schapfe und füllte heisses Wasser aus dem Schiff ins Abwaschbecken. Flink wusch sie Teller und Tassen. Luise trocknete ab. Derweil stopfte der Vater die Pfeife. Er brauchte heute eine halbe Ewigkeit dazu, fand Luise. Doch das behielt sie für sich.

Endlich – das kleine Mädchen platzte fast vor Ungeduld - stand der Vater vom Tisch auf. „Komm Hubertus, wir wollen draussen nachsehen, ob alles in Ordnung ist“. Er nahm die Windlaterne vom Haken. Ein viereckiges Gehäuse aus Holz mit Seitenwänden aus Glas, in deren Mitte man eine Kerze stecken konnte. Diese Lämpchen waren leichter anzuzünden als Petroleumlampen und gaben eben genug Licht um zu sehen, wohin man trat. Die Haustüre klappte, und man hörte die schweren Tritte des Försters rund ums Haus. Luise spitzte die Ohren. Sie wusste, nach Vaters Rundgang würde es endlich, endlich soweit sein. Der Vater würde hereinkommen, in die Stube tüssele, um die Kerzen anzuzünden. Dann war es soweit. Der Moment auf den die Kleine schon so viele Tage gewartet hatte. Mutter Verena hängte den Küchenschurz an den Haken, fuhr sich und ihrem Mädchen über die Haare, setzte sich und zog Luise auf den Schoss. „Freust du dich? Hörst du, Vater ist schon in der Stube.“ Luischens Herz klopfte. Der Vater machte die Türe auf. Dann sah die Kleine das Wunder. In einer Ecke der Stube stand der Baum auf einem Schemel. Die brennenden Kerzen spiegelten sich in den Fensterscheiben und verdoppelten so ihre Strahlenkränze. Auch auf den blankpolierten Äpfeln brach sich der Schein und sie leuchteten geheimnisvoll aus den Zweigen. Es duftete nach Bienenwachs. Andächtig blieb Luise stehen und schmiegte sich tief in die Falten von Mutters Kleid. Dem kleinen Mädchen kam es vor, als ob für ihns die Sterne vom Himmel gefallen wären, wie in dem Märchen vom Sterntaler, das ihm die Mutter erzählt hatte. Aus diesen Sternen würden keine Taler werden und Luise war froh darüber. Sie wusste noch nicht, was „Armut“ bedeutet. Die beiden, Mutter und Kind setzten sich auf den Trittofen. Der Vater stellte seinen Stuhl so zurecht, dass er seine kleine Familie und das Bäumchen gleichzeitig ansehen konnte. Nicht nur die Augen des Kindes glänzten.

Der Vater legte die Pfeife beiseite und holte aus der Kitteltasche eine kleine Flöte die er selber geschnitzt hatte, und spielte darauf eine einfache Melodie. Dann nahm er die Bibel vom Spind und las seinen beiden Frauen die Weihnachtsgeschichte nach Lukas vor. Seine volle, tiefe Stimme erfüllte den Raum. Bei der Stelle wo geschrieben stand, dass Maria ihren Sohn in Windeln wickelte und in eine Krippe legte, wischte Mutter Verena verstohlen eine Träne aus den Augen. Einen Sohn würde sie nie haben, aber Gott hatte ihr dieses kleine Mädchen geschenkt, als sie es nicht mehr für möglich gehalten hatte. Tiefe Dankbarkeit erfüllte sie. Sie zog das Kind ganz nah zu sich. Das Schicksal hatte es letztendlich doch gut mit ihr und ihrem Joseph gemeint, auch wenn sie zwanzig Jahre auf die Erfüllung ihrer Träume hatten warten müssen. Die Lesung war zu Ende. Vater Schmid klappte das Buch zu. Mit seinem kräftigen Bariton stimmte er das einzige Kirchenlied an, dessen Strophen er alle kannte: „Grosser Gott, wir loben dich!“. Seine Frau fiel mit ihrer hellen Stimme ein und Luise konnte, wenigstens ganz am Anfang, mithalten.

Unter dem Baum lagen die Pakete in braunes Packpapier eingeschlagen. Nur ein winziges Päckchen hatte eine farbige Hülle und war mit einem feinen Bändchen umschnürt. Nach diesem griff der Vater nun zuerst, und überreichte es seiner Verena. Mit geschickten Fingern löste sie den Knoten. Sorgfältig legte sie Papier und Schnürchen beiseite. Ein winziges Kästchen kam zum Vorschein. Sie klappte den Deckel hoch. Auf schwarzem Samt lag eine kleine silberne Uhr. Sie hing an einer Kette, die so feingliederig war, wie Verena noch keine zuvor gesehen hatte. Das Zifferblatt hatte römische Zahlen. Verena sagte, sie hätte sich nicht denken können, dass es etwas so Schönes geben könnte.

Joseph Schmid liess keinen Blick von seiner Frau. Er liebte ihre schlanke, hohe Gestalt, die Form des Kopfes mit dem vollen, dichten Haar, das die Farbe reifer Kastanien hatte. Sie umrahmten die schmalen Wangen und waren im Nacken zu einem schweren Knoten zusammengedreht. Ihre Augen hatten es ihm ganz besonders angetan. Sie waren sternenklar, von einem ganz intensiven Braun. Am anrührendsten erschien ihm aber immer ihr Lächeln. Es wärmte sein Herz. Er musste sie berühren. Sanft strich er ihr über den Nacken und legte dann den Arm um sie. Verena nahm das Kleinod aus dem Schächtelchen und legte es auf die flache Hand, um es Luischen zu zeigen: „Hast Du schon einmal etwas so Wunderbares gesehen?“ Luises Bewunderung für das Geschenk war rückhaltlos. Sie freute sich herzlich für ihre Mutter als der Vater nach der Kette griff, um sie liebevoll um den Hals seiner Frau zu legen; stolz und zufrieden, dass seine Gabe die Augen seiner Verena so zum Leuchten bringen konnte. Nun wollten die Eltern ihr kleines Mädchen nicht länger warten lassen.

Die Mutter langte ein sorgfältig verschnürtes und mit einem kleinen Tannenzweig geschmücktes Paket, unter dem Baum hervor und legte es in Luises Hände. Mit vor Aufregung steifen Fingern löste sie ungeduldig die Schnur, nahm sich aber dann doch die Zeit um diese sorgfältig aufzuwickeln, bevor sie das Papier von ihrem Geschenk streifte. Ein Schulsack kam zum Vorschein! Einer der modernen Art, die man auf dem Rücken tragen konnte. Und er war aus Leder! Die Kleine war sprachlos. Vorsichtig strich sie mit der Hand über die feine Oberfläche. Solche Schultaschen hatten sonst nur Stadtkinder, aus wohlhabenden Familien.

Benedikt, der Nachbarjunge, der bereits in die dritte Klasse ging, hatte wie seine Brüder vor ihm, nur eine Stofftasche, genäht aus einem noch gut erhaltenen Stück Matratzendrillich. Und sie, Försters Luise bekam nun etwas so Schönes. „Mach auf!“ ermunterte sie der Vater. Die feinen Finger zitterten einwenig, als sie das Riemchen aus der Lasche löste. Aus dem verheissungsvollen Innern holte sie zwei Sachen hervor: Eine „doppelstöckiges“ Griffeldruckli aus Holz, deren oberer Teil sich ausschwenken liess, und ein rundes Büchslein aus weissem Blech, auf dessen Deckel ein Bild eingeprägt war: Ein Mädchen, das unter einem Baum mit überhängenden Zweigen sass. Im Döschen lag ein winziger Schwamm. Das Kind war so in stummes Entzücken versunken, dass sich die Eltern glücklich in die Augen sahen. Sie hatten ihrem Kind eine grosse Freude gemacht. „Weisst Du Luischen, Mutter und ich dachten, dass es für Dich gesünder wäre, wenn Du die Schultasche auf dem Rücken tragen könntest, bei dem weiten Schulweg, den du haben wirst.“ Nun kam wieder Leben in die Kleine. Sie bedankte sich bei den Eltern, umarmte erst ihre Mutter und hängte sich dann an den Hals ihres Vaters.

Die schöne Schultasche tröstete Luise ein wenig. Bisher hatte sie noch Keinem gesagt, wie sehr sie sich vor der Schule fürchtete. Was Benedikt vom Schulmeister und von den Dorfkindern erzählte, war nicht gerade dazu angetan, Vorfreude in ihr zu wecken. Luise lebte mit ihren Eltern und den wenigen Nachbarn in einer ganz eigenen Welt. Eine halbe Stunde oberhalb des Dorfes am Waldsaum. Sie begegnete nur ganz selten fremden Menschen und sie fürchtete sich immer ein wenig vor allem Unvertrauten. All dies ging dem Kind durch den Kopf, während nun auch der Vater seine Geschenke auspackte. Ein Hemd aus allerfeinstem Leinen, das die Mutter selber gesponnen und gewebt hatte. Stich für Stich hatte sie es dann von Hand genäht. Ein Prachtstück, wie es sonst nur hohe Herren trugen.

Voll tiefer Freude sass die kleine Familie in der niedrigen Stube beisammen. Die Kerzen waren schon über die Hälfte abgebrannt, aber noch geisterten die Schatten über die Einrichtung. Ausser dem mächtigen Kachelofen, der die einzige Wärmequelle des Häuschens war, gab es in dem Zimmer ein Sofa und zwei Stühle, deren hohe Lehnen gepolstert und mit dunkelrotem Plüsch überzogen waren. Dazwischen stand der ovale Tisch aus demselben dunkelpolierten Nussbaumholz wie die Kredenz. Über der Kredenz hing ein Bild hinter Glas: Christus, wie er mit seinen Jüngern durch ein reifes Kornfeld geht. An der gegenüberliegenden Wand schlug die geschnitzte Uhr mit ihren schweren Eisengewichten die Stunden. Die Ecke, in der nun der Christbaum stand, gehörte an gewöhnlichen Tagen einem schmalen hohen Blumenständer, der eine Zimmerlinde trug. Die Kredenz war für Luise verbotenes Gebiet. In der obersten Lade verwahrte Mutter Verena ihre Nähsachen: die Schere, das Nadelkissen, den winzigen Schleifstein um die Nadeln anzuspitzen und den Fingerhut. Daneben die Fäden und Garne und die Schachtel mit den Bändern, Spitzen und künstlichen Blumen. Sogar einen kleinen Vogel gab es da, mit prächtig buntem Gefieder, mit dem die Mutter, wenn sie besonders gut gelaunt war, ihren Hut herausputzte. Hinter den Türchen bewahrte der Förster die Familienpapiere und all den Schreibkram auf, den er für seinen Beruf brauchte. Nichts für Kinderhände!

Der Vater stand auf, um in der Küche Holz nachzulegen. Im Winter durfte das Feuer nie ganz ausgehen. Die Mutter ging ihm nach und als sie wieder zurückkamen, brachte sie einen Teller mit lauter Herrlichkeiten mit: Äpfel und Nüsse, Lebkuchen und Anisbrötli. „Nimm, was Du möchtest, nur nicht so viel, dass du nicht mehr gut schlafen kannst.“ Luise war selig. Immer und immer wieder griff sie in den Teller. Trotz der Warnung der Mutter wurde ihr kleiner Bauch runder und runder. Nun waren auch die letzten Kerzen am Verlöschen. Dunkelheit breitete sich aus in der Stube. Der Vater zündete ein Windlicht an und sagte: „So, mein Kleines, nun ist es Zeit für Dich.“ Er stand auf und öffnete die Luke über dem Kachelofen. So strömte warme Luft in Luises Kämmerchen hinauf. Das Kind wünschte den Eltern eine gute Nacht, hängte sich den Schulsack um die Schultern und stieg über die Ofenbank auf den Ofen und schlüpfte behände durch das Gadenloch in ihr Zimmerchen, das von allen „das Juhee“ geheissen wurde. Schnell zog sich Luise aus, denn trotz der geöffneten Klappe war es im Zimmer kalt. Sie rückte die Wärmeflasche im Bett nach unten, reichte der Mutter das Windlicht hinunter und schlüpfte ins Bett. Wie jeden Abend betete das Kind das Vaterunser. Nach dem Amen lauschte sie noch eine Weile auf die murmelnden Stimmen ihrer Eltern, die beruhigend wie ein Schlaflied zu ihr herauf drangen. Dann schlief sie ein.

Vertraute Geräusche weckten Luise auf. Unten in der Küche kratzte der Vater die Asche aus dem Ofen, scharrte die restliche Glut zusammen, entfachte das Feuer neu und legte mächtige Buchenscheite nach. Ein neuer Tag begann - der Weihnachtstag! Ein freudiger Schauer durchrieselte das schmale Körperchen unter dem voluminösen Deckbett. Luise öffnete die Augen. Durch die Eisblumen am Fenster fiel bereits genug Licht herein, um die Umrisse erkennen zu können: Die schrägen Wände mit den sichtbaren Balken, die weiss getüncht waren Die wenigen Möbel waren ebenfalls weiss gestrichen. Luise hatte beim Herrn Pfarrer einmal das Innere einer Muschel gesehen. Ihr Kämmerchen erschien ihr ebenso schön, ebenso weiss.

Ihr Bett, in dem schon ihre Grosseltern ihr Eheleben lang geschlafen hatten und in dem sie auch gestorben waren, bevor Luise auf die Welt gekommen war, war ehedem aus rohem Tannenholz. Die Eltern hatten es zu abgenutzt befunden für ihr Töchterlein. So strich Vater Schmid das Bett und gleich auch noch eine Kommode weiss an, und verpasste auch einem kleinen Tischchen und einem alten Stuhl die gleiche Farbe. So schien es, als ob die alten Stücke schon immer zusammengehört hätten. Nachdem er aus der verrussten Dachkammer mit unzähligen Eimern heissen Wassers den gröbsten Dreck gewaschen hatte, verwandelte er den heruntergekommenen Raum mit Unmengen weisser Tünche in ein freundliches Kinderzimmer. Mutter Verena hatte Bettbezüge genäht aus weissem Stoff, der mit blauen Röschen bedruckt war. Sogar ein kleines, flaches Kissen für den Stuhl hatte sie mit dem gleichen Stoff bezogen. Den Behang für die Wand neben Luises Bett hatte die Mutter an langen Winterabenden beim dürftigen Licht der Petroleumlampe, liebevoll mit der ersten Zeile des 23. Psalms bestickt:

Der Herr ist mein Hirte

Luise konnte noch nicht lesen. Das, was die Mutter damit zum Ausdruck bringen wollte, begriff sie viel besser durch ein kleines Bild, das über dem Tischchen hing: Nahe an einem Abgrund standen zwei ahnungslose Kinder. Hinter ihnen breitete ein Schutzengel seine Flügel aus und bewahrte sie so vor dem Sturz in die Tiefe.

Auf dem kleinen Tisch stand das, was bis gestern abend Luises stolzester Besitz gewesen war: Ein Waschgeschirr aus weissem Steingut. Eine Schüssel und ein Krug, eine kürzere Schale für die Seife und eine längere für den Kamm, mit gelben Rosen und grünen Blättern bemalt, so naturgetreu, dass man fast fürchtete, sich an den Dornen zu stechen. Sie hatte die Garnitur letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt bekommen. Benedikts Mutter, die die Herrlichkeit bewundern durfte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief aus: „Also wirklich, das ist eine Waschgarnitur für eine richtige Prinzessin!“. Ob Mutter Baumann das auch von ihrer Schultasche sagen würde? Aber Prinzessinnen mussten sicher nicht zur Schule. Energisch schob Luise die Decke zurück. Brrr.. war das kalt. Wie gut, dass Mutter Verena einen dicken, blau-weissen Teppich gewebt hatte! In der ganzen Bekanntschaft hatte sie nach alten Kleidern in den entsprechenden Farben gefragt. Es hatte Jahre gedauert, bis sie genug für den Teppich zusammen hatte. Jetzt aber schützte er Luises bettwarme Füsse vor der Kälte des Dielenbodens.

Schnell zog sie sich an. Mit den Knöpfen an ihrer Unterwäsche hatte die Kleine noch ihre liebe Mühe, besonders mit den verflixten Dingern im Rücken. Aber sie schaffte es. Sie zog das dunkelgrüne Hängerkleidchen an das ihr die Mutter zurechtgelegt hatte und band die Schürze um. Gegen die Morgenkühle legte sie sich noch das gestrickte Dreiecktuch – das Seelenwärmerli, um die Schultern. Sie öffnete das Fenster. Keine leichte Sache! Es war angefroren. Die kleinen Scheiben dicht mit Eisblumen bedeckt. Diese entzückten das Kind jeden Tag aufs neue. Immer wieder anders sahen die herrlichen Blumen aus, die der Frost auf die Scheiben malte. Luise sah nur einen schmalen Streifen der Landschaft. Das Laubengeländer versperrte ihr einen Teil der Sicht von unten, das tief herabgezogene Dach von oben. Das Dach hatte mit der Zeit die Farbe gewechselt. Vor dem Einzug des neuen Försters hatte die Forstverwaltung beschlossen, das Dach neu decken zu lassen. Das alte Stroh war wellig geworden und auf der Nordseite, wo Moos und Hauswurz darauf wuchs, halb verfault.

Das war nun auch schon wieder ein paar Jahre her, und das ehemals goldgelbe Stroh wurde nach und nach silbergrau. Aber es lag dicht und gesund auf den uralten Balken und schützte vor Sonne, Wind und Regen. Jetzt hatte sich das Dach zusätzlich einen dicken Mantel aus Schnee übergezogen. Kristalle funkelten in der eben aufgehenden Sonne. Eine von Nachbars Tauben landete auf dem Laubengeländer. Luise musste lachen als sie zusah, wie der Vogel, als wäre er betrunken, durch den Schnee watschelte und seine Füsschen ein filigranes Muster hinterliessen.

Drüben bei Baumanns kräuselte sich der Rauch nur zögernd in den fahlen Winterhimmel. Eben fuhr Lukas, einer der Knechte, der erstaunlicherweise genau gleich hiess wie der Mann, der die Weihnachtsgeschichte aufgeschrieben hatte, die der Vater gestern Abend vorgelesen hatte, dampfenden Mist aus dem Stall. Unverzüglich machte sich eine Schar Spatzen lärmend darüber her.

Luises Welt war in Ordnung.

Kaum hatte die kleine Familie ihr Frühstück beendet, klopfte jemand an die Tür. Ein bisschen verlegen, kam Benedikt herein. „Guten Morgen! Ich bin wohl ein bisschen zu früh dran?“. Vater Schmid lachte: „Dich sticht dänk der Gwunder!“. Benedikt war ein bisschen verlegen. Auch seine Mutter hatte gefunden, es wäre unanständig früh für einen Besuch bei Schmids. Aber er war überzeugt, dass er zu jeder Tageszeit bei seinen Nachbarn willkommen war. Er kam wegen dem Christbaum. Ein Christbaum! So etwas hatte er noch nie gesehen. Vater Schmid hatte ihm jedoch schon vor ein paar Tagen unter Männern anvertraut, dass Luischen dieses Jahr so ein neumodisches Wunderding bekommen würde. Luise rutschte eilig von der Bank: “ Komm Benedikt. Ich zeige ihn dir.“ Sie ging ihrem Freund voraus in die Stube. Im matten Licht des eben erst werdenden Tages, stand das Bäumchen im Winkel. Staunend standen die beiden Kinder davor. Benedikt seufzte: „Das isch s’Zäni.“ Leider sind die Kerzen heruntergebrannt, entschuldigte sich Luise. „ Aber heute abend kommt ihr ja herüber.“ „Ja, und Mutter wird neue Kerzen mitbringen, wenn die dann brennen, wird es ganz besonders schön werden“ freute sich Benedikt.

Auf dem Baumannhof gab es zu Weihnachten viel Gutes, aber einen Christbaum hatte es noch nie gegeben. Vielleicht konnte er seine Mutter nächstes Jahr auch dazu überreden? Nun konnte Luise ihre Neuigkeit nicht länger zurückhalten. „Warte, ich zeige dir, was ich geschenkt bekommen habe!“. Das Gadenloch war bereits wieder geschlossen und sie musste vom Hausgang her über die schmale, steile Treppe in ihr Kämmerchen hinaufsteigen, um den Schulsack zu holen. Stolz hängte sie ihn um die Schultern, und wie s’Bisiwätter war sie wieder unten bei ihrem Freund. Der enttäuschte sie nicht. Der Mund blieb ihm offen stehen vor Ueberraschung. „Du hast einen Tornister bekommen - hols der Güggel!“ Benedikts Bewunderung war aufrichtig. Gekonnt schwang Luise den Gegenstand ihres Stolzes von ihrem schmalen Rücken, öffnete ihn und zeigte Benedikt auch noch den Inhalt. An der neidlosen Mitfreude des Jungen konnte man unschwer ermessen, wie sehr er dem Mädchen zugetan war. „Jetzt freust du dich doch sicher auf die Schule? „Ja, schon“ sagte sie zögernd. „Du musst keine Angst haben. Ich bin ja da und werde auf dich aufpassen.“

Luise spürte, dass es Benedikt Ernst war mit seinem Versprechen und ihr wurde leichter ums Herz. Überhaupt! Es war noch lange hin, bis zum Frühling. Es war dumm, jetzt schon daran zu denken – wo doch Weihnachten war.

Noch bevor sich die Abenddämmerung richtig ausgebreitet hatte, wurde es im kleinen Weiler unruhig. Auf dem Baumannhof wurden Pferde aus dem Stall geholt und vor Schlitten gespannt. Alle würden sie in die Stadt zur Kirche fahren. Im Reitwägelchen würden die Eltern Baumann mit den Förstersleuten Platz nehmen. Ein robuster Schlitten, auf dem sonst Holz befördert wurde, würde die Jungmannschaft zur Kirche bringen. Dieses Vergnügen gab es nur einmal im Jahr. Und das auch nur, wenn genug Schnee lag. An gewöhnlichen Sonntagen machte man sich zu Fuss auf den Kirchweg. Ruedi, Baumanns Ältester, befestigte die blankpolierten Schlittenglocken am Zaumzeug der Pferde. Luise, eingehüllt in ihr Mäntelchen, wohlversehen mit Mütze, Handschuhen und einem meterlangen Schal, konnte es kaum erwarten. Es dauerte ihr viel zu lange, bis Ruedi endlich die Zipfelmütze aufsetzte, nach der Peitsche griff und rief „Alles aufsteigen – Platz nehmen bitte!“ Das Platznehmen war ein bisschen schwierig. Die Grösseren setzten sich auf den Boden des Schlittens, suchten Platz für ihre Beine, und nahmen die Kleineren auf den Schoss. Bequem war es nicht, aber trotzdem für alle eine Heidengaudi.

Ruedi ergriff energisch die Zügel: „Hü, i Gotts Name!“ Es galt sich festzuhalten. Den Karrweg am Waldrand entlang ging es noch gemächlich, aber auf der Strasse angekommen, liess Ruedi die Peitsche knallen und der schwere Ackergaul tat sein Bestes, um so etwas wie einen Trab hinzulegen. Die Schellen klingelten, dass es eine Freude war. Die Luft war still und das verschneite Land schimmerte im Zwielicht. Am Himmel erschienen die ersten Sterne. In allen Höfen brannten Lichter und wenn sie vorbeifuhren, schlugen die Hunde an. Luise schaute hinaus auf die Felder, als müsste sie die Hirten sehen oder den Stern von Bethlehem. Aber es war nur eine silberne Dämmerung und die Sterne waren blass, einer wie der andere. Sie erschienen dem Kind unendlich weit weg, fremd und kalt. Umso geborgener fühlte es sich inmitten der vertrauten Menschen, die mit ihm durch die Nacht fuhren.

Marie Luise

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