Читать книгу AugenLicht Dunkle Abgründe - Roxana Walker - Страница 5

Kapitel 1 - Zauber der Nacht

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Es war eben eine dieser regnerischen Nächte vor so vielen Jahren, ich muss ungefähr fünf gewesen sein, die mich aus meinem unruhigen Schlaf riss. Ich wachte auf als der Regen an mein Fenster trommelte, mir war heiß und mein Nachthemd war völlig durchgeschwitzt, die Luft in meinem Zimmer war so stickig und trocken wie ein Dachboden im Sommer. Ich setzte mich im Bett auf und überlegte was ich gerade geträumt hatte, doch es fiel mir nicht mehr ein. Träume noch einen Moment länger festzuhalten war beinahe so, als wolle man Rauch mit bloßer Hand fangen, ich träumte sehr viel, doch nur selten blieben die Erinnerungen daran zurück. Ich hielt mich besonders gerne in meiner persönlichen Traumwelt auf, oft war sie mir lieber als die reale Welt. Wurde ich aus dem Schlaf herausgerissen, fühlte es sich für mich an, als würde ein kleines Stück von mir plötzlich verloren gehen. Ich seufzte. Vorsichtig tastete ich mich zu meinem Fenster und öffnete es, um die kühle Luft hereinzulassen. Ich ließ mein Nachthemd auf den Boden fallen, und zog mir ein trockenes T-Shirt von meinem großen Bruder an. Vorsichtig tapste ich über den Boden, mein Gewand und meine Spielsachen lagen weit verstreut im Zimmer und für unaufmerksame Füße konnte dies hier eine echte Stolperfalle sein. Ich war froh, dass meine Füße sich wie von selbst trittsicher auf den Weg machten. Auf Zehenspitzen schlich ich an meinen Eltern vorbei und musste kichern. Ich hörte sie schnarchen, ja meine Mama und mein Papa schnarchten um die Wette, das war irgendwie süß, also wagte ich einen Blick durch die offenstehende Tür. Eng aneinander gekuschelt lagen sie in ihrem bunt geblümten Bettzeug. Sie bekamen Garnichts mit vom Regen, ihr Fenster befand sich unter einem Dachvorsprung. Ich drehte mich um und setzte meinen Weg in Richtung Wohnzimmer durch den Gang fort. Leise öffnete ich die Terrassentür und trat hinaus in den Garten. Der feuchte Atem der regnerischen Nacht umfing mich wie ein sanfter Schleier und zog mich zu sich ins Gras. Ich legte mich in die nasse Wiese und starrte hinauf in den schwarzen Himmel. Der Regen tropfte mir ins Gesicht und nur wenige Minuten später war das T-Shirt völlig durchnässt. Kalt war mir aber nicht, ich genoss es, Teil dieser nächtlichen Naturlaune zu sein. Mein Haar, welches meine Mutter am Abend mühevoll glatt gebürstet hatte warf jetzt wilde, nasse Locken rund um mein Gesicht und ein sanfter Wind zupfte an mir, freudig schloss ich die Augen. Ich liebte dieses Wetter. Ich kuschelte mich ins nasse Gras und lauschte den Geräuschen der Nacht, ich fühlte mich so leicht und unbeschwert, und gleichzeitig so geborgen, ich erlaubte der Schwerelosigkeit Besitz von meinem Körper zu ergreifen, Dunkelheit umfing mich wie schwarzer Samt, und plötzlich löste sich etwas in mir auf, eine Art Mauer fiel in sich zusammen und ich verlor den Halt, ich hatte das Gefühl zu fallen, unendlich tief zu fallen.

Plötzlich spürte ich eine angenehme Wärme, verwundert öffnete ich meine Augen. Ich setzte mich auf und blickte mich um, über mir streckten Bäume ihre Äste in den dunklen Nachthimmel und vor mir brannte ein Feuer, dessen Flammen eine kleine Lichtung erhellte. Ein Stückchen von mir entfernt entdeckte ich einen weinenden Jungen. Stirnrunzelnd beobachtete ich ihn. Er schien sich vor Schmerzen zu krümmen und sein Schluchzen ging mir durch Mark und Bein. Vorsichtig stand ich auf und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Erstaunt bemerkte ich, dass ich viel größer war als sonst. Als ich an mir hinunterblickte, sah ich, dass mein Körper der einer erwachsenen Frau war. Meine rotblonden Haare lockten sich weit über meine Schultern und auch sonst schien alles erwachsen geworden zu sein. Ich hielt einen Moment inne und versuchte in mich hinein zu spüren. Ich war ich und doch war ich anders, doch es fühlte sich alles richtig an. Mein T-Shirt, das ich getragen hatte, war verschwunden, ein langes Kleid umhüllte fließend meinen Körper, es trug die Farbe des Meeres soweit ich das im Feuerschein erkennen konnte. Vorsichtig näherte ich mich nun weiter dem Jungen und kniete mich zu ihm. Sofort umhüllte mich ein metallischer Geruch. Prüfend sah ich ihn an, er musste ungefähr fünf oder sechs Jahre alt sein, seine schwarzen Haare standen wirr vom Kopf ab, einige Blätter und Äste hatten sich darin verfangen. Als mein Blick zu seinem Gesicht wanderte erstarrte ich. Sein vermutlich zauberhaftes Antlitz war mit blutigen Schrammen und Kratzern überseht. Ein langer, tiefer Schnitt zog sich über seine linke Wange. Die Wunden konnten noch nicht alt sein. Sie überzogen das runde Gesicht des kleinen Jungen mit roten Tränen aus Blut. Angstvoll blickte er mich an, dann streckte er vorsichtig seine Hand nach mir aus und ich half ihm auf die Beine. Er zitterte schrecklich und seine Hand, mit der er sich an mir festhielt wurde immer schwächer. Ein paar Schritte noch, dann hatten wir es geschafft und das Feuer würde ihn wärmen, denn jenseits der Flammen war es kalt. Bei jedem Schritt kämpfte sich ein leises Wimmern über seine Lippen. Wenige Schritte bevor wir das Feuer erreichten, sackte er plötzlich und ohne Vorwarnung in sich zusammen, und ich konnte ihn gerade noch auffangen. Mit letzter Kraft trug ich den kleinen Jungen ans Feuer und legte ihn sanft auf ein Polster aus Moos. Meine Hände und mein Kleid waren blutverschmiert. Ich versuchte ihn zu wecken, doch seine Augen blieben geschlossen. Sein Brustkorb aber hob und senkte sich regelmäßig, das beruhigte mich etwas. Ich blickte mich hilfesuchend um, ich brauchte ein Tuch und eine Schale um seine Wunden zu versorgen Mit gerunzelter Stirn blickte ich mich um. Wo waren wir hier eigentlich? Den Kopf legte ich in den Nacken um nach oben blicken zu können. Die riesigen alten Bäume verdeckten mit ihren weit ausladenden Ästen den Himmel. Es war finster, und ich konnte mich an nichts orientieren. Ich entfernte mich ein paar Schritte von dem Jungen und suchte meine Umgebung weiter nach Hilfe ab. Der Boden war mit Laub bedeckt und sein modriger Geruch mischte sich mit dem metallischen Geruch des verletzten Jungen. Die Dunkelheit außerhalb des Feuerscheins schien undurchdringlich und endgültig zu sein. Ich drehte mich einmal herum und versuchte etwas zu erkennen, doch ich sah nichts als Dunkelheit. Verzweifelt überlegte ich wie ich dem Jungen helfen konnte, wenn ich nicht einmal wusste wo wir waren. Ich kehrte zu ihm zurück und setzte mich neben ihn. Das Gefühl der Verzweiflung schien mich zu überwältigen, wie ein Schatten kam es immer näher, es wartete nur auf einen Moment der Schwäche um mich in den bodenlosen Abgrund vor mir zu stoßen, es war aussichtslos. Ich spürte, der Junge wurde von Minute zu Minute schwächer, und bald würde er seinen letzten Atemzug tun. Ein leises Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Überrascht stellte ich fest, dass ich so in meinen düsteren Gefühlen versunken war, und nicht bemerkt hatte, dass der Junge sich Schutz suchend in meinen Schoß gekuschelt hatte. Seine dunkelbraunen Augen waren ein wenig geöffnet, und er blickte mich seltsam verklärt an. Seine Augen verloren plötzlich einfach so die Farbe. Statt braune Augen blickten mich nun plötzlich starre, graue Augen an. Hilflose Tränen rannen über seine Wangen. Verzweifelt drückte ich den Jungen fest an mich. Tief in mir spürte ich plötzlich eine unendliche Wut, irgendjemand hatte den kleinen Jungen so zugerichtet und ihn zum Sterben hier abgelegt. Wie konnte man nur so etwas tun. Er war doch noch ganz klein und so hilflos. Ich wollte nichts mehr, als diesen Jungen zurück ins Leben zu schicken. Etwas an ihm war besonders, das spürte ich ganz genau, er hatte dieses Schicksal nicht verdient. Fieberhaft überlegte ich, was ich für ihn tun konnte. Nach einigen Minuten war ich verzweifelter als je zuvor, ich wünschte, ich könnte mein Leben gegen seines tauschen, er hatte ein Recht darauf die Welt zu sehen. Tränen der Trauer und Tränen der Verzweiflung füllten meine Augen. Ich hielt den Jungen nun in meinen Armen fest, und wiegte ihn hin und her. Ich spürte wie auch die letzte Kraft nun langsam aus ihm wich. Ich konnte meine Tränen nicht mehr kontrollieren, ich konnte sie auch nicht wegwischen, denn ich wollte den Jungen nicht loslassen, nicht einmal für eine Sekunde. Wenn er schon sterben musste, dann sollte er wenigstens nicht alleine sterben. Ich fühlte mich für ihn verantwortlich. Meine Tränen tropften auf sein verwundetes Gesicht, tief in mir empfand ich einen unerträglichen Schmerz, der Junge war mir doch anvertraut, er durfte jetzt nicht sterben. Ich schloss meine Augen und begann leise ein altes Kinderlied zu singen, dessen Text und Melodie plötzlich in meinen Gedanken war, auch wenn ich es zuvor nicht gekannt hatte, war es plötzlich da. Ich wiegte den kleinen Jungen hin und her. Ein bedrohliches Donnern erfüllte mit einem Mal die Stille des Waldes. Ruckartig setzte sich der Junge auf und drehte sich zu mir. Er blickte mich an und die Farbe seiner Augen änderte sich plötzlich von Grau zu Blau. Das war verrückt. Ich hatte das Gefühl in meine eigenen Augen zu blicken. Doch so plötzlich wie die Augen sich verändert hatten waren sie jetzt wieder braun. Hinter meinen eigenen Augen spürte ich plötzlich einen schmerzhaften Druck, ein züngelndes Brennen wie das von Feuer erfüllte mich und ließ mich vor Schmerz zusammenzucken. Mit einem Wimmern versuchte ich, meine schweren Augenlieder weiter anzuheben. Sie wollten sich einfach schließen, fühlten sich an als würden sie eine Tonne wiegen. Mit Mühe und eiserner Willenskraft schaffte ich es schließlich meine Augen wieder zu öffnen. Nur unscharf nahm ich alles um mich herum wahr. Aber der Schmerz war unerträglich geworden. Tränen erfüllten erneut meine Augen. In mir drängte das Verlangen, den Schmerz einfach rauszuschreien, und gerade als ich den Mund öffnen wollte, sackte ich in mich zusammen, als ob die Kraft plötzlich nachgelassen hatte. Der Schmerz war verschwunden, genauso plötzlich wie er gekommen war. Ich richtete mich wieder auf und konnte meine Umgebung wieder besser wahrnehmen, langsam nahmen die unscharfen Konturen wieder Formen an. Das Feuer war erloschen, und der kleine Junge lag zusammengesunken in meinem Schoß, er rührte sich nicht mehr, doch das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs verriet mir, dass er noch lebte. Meine Augen gewöhnten sich gerade an die Dunkelheit, als ich kleine gelbe Lichter entdeckte, die im ganzen Wald plötzlich vom Boden aufstiegen. Ihr Leuchten tauchte die Bäume und alles rund herum in ein sanftes, magisches Licht. Ich konnte Konturen von Ästen und Bäumen besser erkennen und auch die weitere Umgebung um mich herum wurde schemenhaft sichtbar. Ich entdeckte einen See unweit von dem Platz wo der Junge und ich saßen. Ein sanfter Nebel stieg von dort auf und breitete seine kühlen, feuchten Arme wie einen Teppich über den ganzen Waldboden aus. Gebannt beobachtete ich dieses einzigartige Naturschauspiel des Waldes. Eine innere Harmonie erfüllte erst mein Herz und dann meinen ganzen Körper. Ich lauschte den Geräuschen des Waldes. Ein sanftes plätschern untermalte die lieblichen Gesänge der Vögel und das Zirpen der Zikaden. Der Wald hatte sich verändert. Irgendwie war er lebendiger geworden. Die Lage hatte sich entspannt, der Junge atmete ruhig und gleichmäßig. Ich genoss dieses Gefühl der sich ausbreitenden Harmonie und Eintracht für einen Augenblick und schloss die Augen. Ich konnte alles spüren. Meine Wahrnehmung reichte weit über das Sichtbare hinaus. Ich spürte meine Umgebung, und ich spürte den Jungen, seine Energie die noch nicht ganz gewichen war. Als ich meine Augen wieder öffnete konnte ich einen sanften, blass violetten Schimmer rund um den Jungen erkennen der immer noch zusammengesunken in meinem Schoß lag. Ich wusste nicht was ich für ihn tun konnte, aber ich wollte ihm so gerne helfen, also bettete ich seinen Kopf vorsichtig auf das weiche Moos, welches unter dem Baum wuchs wo wir saßen und stand leise auf. Mit all meiner Kraft trennte ich ein Stück Stoff von meinem Kleid ab und ging damit in Richtung See. Unter meinen nackten Füßen spürte ich das weiche Moos, das feuchte Gras und das herabgefallene Laub. Ich konnte nicht sehen wohin ich trat, denn meine Füße verschwanden ab den Knien im Nebel. Doch ich hatte Glück und stolperte nicht. Die Umgebung schien mir plötzlich sehr vertraut, fast wie ein Ort aus meinen Erinnerungen. Am Ufer des Sees angekommen versanken meine Zehen sofort im weichen Sand. Als ich noch einen Schritt weiter machte erreichten kleine Wellen meine Fußenden und benetzten sie mit Wasser. Erstaunt stellte ich fest, dass das Wasser sehr warm, ja beinahe schon heiß war. Es musste wohl eine Art thermische Quelle im See geben. Ich beugte mich zum Wasser hinunter und der Nebel verschwand wie von selbst über der Wasseroberfläche. Ich erblickte den nächtlichen Himmel im Spiegelbild des Sees. Unzählige weiße Punkte schimmerten mir entgegen. Sterne wie ich vermutete. Doch das Bild, das sie warfen wirkte fremd aber doch irgendwie vertraut. Am anderen Ende des Sees konnte ich 4 flache gelblichweiße Scheiben im Spiegelbild des Wassers erkennen, das mussten Monde sein. Ich legte meinen Kopf in den Nacken um die Herkunft der Spiegelbilder auszumachen, doch ober mir konnte ich nur Dunkelheit erkennen. Als ich meinen Blick wieder senkte sah ich winzige weiße Flocken, die über den See herüber wehten. Eine davon berührte mich frostig am Arm um gleich darauf zu einem kleinen Tropfen zu zerschmelzen. Bei genauerem Betrachten, entdeckte ich am anderen Ufer des Sees eine dicke weiße Schneesicht über dem Boden, welche ich anfangs für dichten Nebel gehalten hatte. Was das hier wohl für ein seltsamer Ort war? Ich blickte ins Wasser und entdeckte ein Stück vor mir einen schimmernden Gegenstand am Seegrund. Ich fasste all meinen Mut zusammen und watete ein kleines Stück hinaus in den See. Sanfte Wellen kräuselten die Oberfläche und das Spiegelbild des Himmels verschwamm. Das warme Wasser prickelte auf meiner Haut. Das sanfte Licht der Glühwürmchen, die über mir schwebten, erlaubte es mir, meine Füße zu erkennen, so klar war das Wasser. Meine Zehen versanken im silbrig glitzernden Sand und das Wasser reichte mir schon bis über meine Knie. Einzelne Seerosenblüten in zartem Blau trieben auf der Oberfläche wie winzige Boote. Vorsichtig ging ich weiter auf das Schimmern zu. Kurz bevor ich das Licht erreicht hatte, spürte ich eine eigenartige Hitze an meinen Füßen. Das Wasser schien beinahe zu kochen, und kleine Luftblasen stiegen vom Boden auf. Mein meerblaues Kleid sog sich langsam mit Wasser voll. Nach einigen weiteren Schritten erreichte das Wasser bereits meinen Bauch. Entschlossen machte ich die letzten Schritte auf den schimmernden Gegenstand zu. Das Wasser reichte mir nun bis knapp unter die Brust und kleine Wellen wogten immer wieder gegen meinen Körper. Als ich vor dem funkelnden Etwas stehen blieb erlosch das Licht und ich konnte nichts mehr erkennen. Also tastete ich vorsichtig mit meinen Füßen nach dem Objekt. Als ich es mit meinen Zehen berührte stieg es plötzlich wie von selbst mit einem leisen Blubb an die Wasseroberfläche. Ich griff danach und meine Finger spürten sowohl glatte als auch raue Flächen auf dem etwa tellergroßen Gegenstand. Die Form erinnerte mich ein bisschen an eine Schüssel. Ein prickeln im Nacken verriet mir, dass ich nicht mehr allein war. Jemand oder etwas beobachtete mich. In meinem Körper breitete sich das dumpfe Gefühl der Angst aus. Schlagartig fiel mir der kleine Junge wieder ein. Ich war wie hypnotisiert gewesen. Die Faszination für das Fremde was irgendwie doch so vertraut und hatte mich alle Sorgen vergessen lassen. Schnell watete ich zurück ans Ufer und verließ das Wasser. Eilig ging ich ein paar Schritte weg vom See und tiefer in den Wald, erst dann erlaubte ich mir, den gefundenen Gegenstand genauer zu betrachten. Im Schein der Glühwürmchen konnte ich das Objekt erkennen, es war eine große etwas längliche Muschel, zumindest eine Hälfte davon. Innen bestand sie aus schillerndem Perlmutt und außen verzierten feine grüne Wellenlinien den ehemaligen, rötlichen Schutzpanzer des Weichtieres. Das war genau das was ich brauchte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Rasch eilte ich zurück zum See. Mit der Muschel schöpfte ich ein wenig Wasser daraus und tunkte auch mein Stückchen Stoff im See, dann verließ ich das Ufer und ging hastig zurück zu dem kleinen Jungen. Dicht zog der Nebel über den Waldboden. Ein Blick zurück bestätigte meinen Verdacht. Auch hinter mir hatte sich der Nebel wieder ausgebreitet. Der See und der kleine Strand waren nicht mehr zu sehen. Die kleinen Glühwürmchen tauchten den Nebel in ein trübes gelbliches Licht. Der Nebel hatte den kleinen Jungen schon beinahe ganz verschluckt, doch das sanfte Licht, welches ich schon vorhin bemerkt hatte umgab ihn immer noch. Es schimmerte nun leicht grünlich, und so konnte ich ihn im Nebel ausfindig machen. Vorsichtig kniete ich mich zu ihm auf den Boden und begann mit dem Stoff seine Wunden zu säubern. Einige hatten bereits aufgehört zu bluten. Der Nebel um uns zog sich ein Stück zurück. Als ich einzelne seiner Wunden mit dem Tuch gereinigt hatte bemerkte ich, dass sie langsam zu heilen begannen. Mit klopfendem Herzen nahm ich die Muschel mit dem Wasser in die Hand und legte meine andere Hand unter seinen Kopf um ihn vorsichtig anzuheben. Zögernd benetzte ich seine blutigen, aufgeplatzten Lippen mit Wasser aus der Muschel. Die feinen grünen Linien auf der Oberfläche der Muschel begannen plötzlich kräftig zu strahlen. Samt dem Wasser pulsierte sie in meinen Händen, wie das Leben selbst. Überrascht ließ ich die Muschel fallen. Mit einem dumpfen Geräusch landete sie auf dem Moosboden. Sogleich begann auch das Moos grün zu leuchten. Feine Wurzeln brachen aus dem Boden hervor und umschlangen die Muschel bis sie ganz eingewachsen war. Mit einem beunruhigenden Zischen verschwanden die Wurzeln mitsamt der Muschel wieder im Boden. Damit hatte ich nicht gerechnet. Überrascht, und mit zusammengekniffenen Augen beobachtete ich die Stelle noch einige Augenblicke. Doch von dem Moos schien jetzt keine Gefahr auszugehen. Ein leises Seufzen verriet mir, dass der Junge langsam wieder wach wurde. Ich bettete seinen Kopf zurück auf das Mooskissen und versorgte seine restlichen sichtbaren Wunden mit dem Tuch. Ich hoffte nur, dass die unheimlichen Wurzeln nicht noch einmal zurückkehrten und auch noch mich oder den Jungen umschlangen. Die Augen des kleinen Jungen zuckten unter den Lidern hin und her, aber öffnen wollten sie sich nicht. Er schien immer noch einen inneren Kampf auszutragen. Sanft streichelte ich ihm durch sein dunkles, zerzaustes Haar. Gerne hätte ich ihn gefragt wo er herkam und was mit ihm passiert war. Bestimmt hatte er irgendwo eine Familie, die sich große Sorgen um den Kleinen machte. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich plötzlich einen dunklen Schatten, der durch den Nebel auf uns zu kam. In mir schrillten alle Alarmglocken und meine Nackenhaare stellten sich einer angriffslustigen Katze gleich auf. Ich würde den Jungen beschützen, komme was wolle. Ich kniff die Augen zusammen um etwas erkennen zu können. Das Leuchten der Glühwürmchen wurde immer schwächer. Eines nach dem anderen verschwand im Nebel, bis das Licht ganz erlosch und mich in der absoluten Finsternis zurückließ. Jetzt konnte ich Garnichts mehr erkennen. Ängstlich schloss ich meine Augen und versuchte meine Umgebung zu erspüren. Ein eisiger Schauer breitete sich von meinem Nacken über meinen ganzen Rücken aus als ich direkt vor meinem Gesicht den heißen Atem eines Lebewesens spürte. Panisch riss ich meine Augen auf. Etwas war direkt vor mir. Ohne etwas erkennen zu können stand ich auf und stolperte rückwärts um Abstand zwischen den unheimlichen Neuankömmling und mich zu bringen. Was auch immer es war, ich musste es von dem Jungen fortlocken. Ein Schritt und noch ein Schritt, vorsichtig tastete ich mich weiter, bis plötzlich eine Baumwurzel meinen Füßen das Weiterkommen verwehrte. Unsanft stürzte ich zu Boden und mein Kopf schlug hart auf. Der Schmerz trieb mir salzige Tränen in die Augen. Verzweifelt tastete ich an meinem Hinterkopf und spürte etwas Warmes auf meinen Fingern. Ein pochender Schmerz ließ mich plötzlich flimmernde Punkte sehen. Mir wurde schwindelig und ich spürte wie sich meine Kraft immer weiter zurückzog. Meine Arme rutschten schlaff in das Laub, das mich umgab. Was für ein seltsamer Ort! Konnte ich nur mehr denken. Noch vor wenigen Sekunden hätte ich schwören können, dass hier ausschließlich Moos gewesen war, ein Laub und keine Wurzeln. Das waren meine letzten Gedanken bevor ich in die samtene Bewusstlosigkeit abdriftete und meinen Körper mit seinen Schmerzen zurückließ. Als ich wiedererwachte, war der stechende Schmerz verschwunden, und auch das Laub hatte weichen Moospolstern Platz gemacht. Ich war also immer noch in diesem seltsamen Wald. Vorsichtig blickte ich mich um und entdeckte ein paar wenige Glühwürmchen. Sie hatten sich um eine am Boden kauernde Gestalt gescharrt und beleuchteten etwas, dass sich meinem Blick entzogen hatte. Schweigend beobachtete ich die Gestalt. Ich wollte mich nicht mit einem Geräusch verraten, also blieb ich einfach auf dem Moos liegen. Meine Augen suchten die Umgebung nach dem Jungen ab, doch ich konnte ihn nicht finden. Für einen Augenblick erleuchtete plötzlich ein greller Blitz den Wald um uns herum und ich konnte die Gestalt erkennen, die sich nun wieder zu ihrer vollen Größe aufgerichtet hatte. Das riesige Wesen war ein Mann mit einer wilden Mähne aus dichtem Haar und von der Statur eines stämmigen Kriegers. Auf den Blitz folgte ein Donner, der durch Mark und Bein ging Mit einem Knistern ging das lang erloschene Lagerfeuer wieder an und der Mann drehte sich suchend zu mir um. Ich erstarrte, denn auf seinem Kopf thronte ein majestätisches, silbernes Geweih mit unzähligen Verästelungen. Seine Haare und sein Gesicht waren teilweise mit einer Art Moos bewachsen. Daraus blickten mich grün strahlende, menschliche Augen an. Der Oberkörper des Mannes war nackt und in einer seiner muskulösen Hände hielt er einen langen Holzstab, der bis zum Boden reichte. Das andere Ende des Stabes endete in einer spitzen, verschlungenen Klinge, die mich an eine Mondsichel erinnerte. Seine andere Hand streckte er mir entgegen und bedeutete mir näher zu kommen. Zögernd stand ich auf. Meine Knie zitterten und mein Atem ging viel zu schnell. Nach wenigen Schritten wurde mir schwarz vor Augen und ich verlor das Gleichgewicht. Doch dieses Mal stürzte ich nicht. Warme, starke Arme fingen mich auf und trugen mich zum Feuer. Als ich meine Augen wieder öffnete, hatte sich der Mann bereits wieder zurückgezogen. Er kniete neben dem Jungen und streichelte fürsorglich seine Wange. Das Feuer beleuchtete den Mann von der Seite und ich entdeckte, dass seine Beine nicht menschlich waren, sie waren muskulös und stämmig, und endeten in silbernen Hufen. Der Körper des Mannes war von der Hüfte abwärts mit dichtem, braunen Fell bewachsen. Er wandte mir seinen Rücken zu. Mit staunendem Blick beobachtete ich, wie winzige grüne Efeuranken ihre Arme nach seinem Rücken ausstreckten und ihn langsam eroberten. Einige Augenblicke später war beinahe sein ganzer Körper mit grünen Schlingpflanzen verschiedenster Arten umgeben. Es erinnerte mich irgendwie an einen lebendigen, grünen Umhang, der seinen Körper komplett verdeckte. Das Wesen stand auf und setzte sich zu mir an das Feuer. In seinen Haaren hatten sich kleine zarte Blätter und bunte Blüten gebildet und ich wiederstand dem Drang nur schwer, sie ihm aus dem Haar zu zupfen. Ich empfand keine Furcht mehr gegenüber dem Fremden. Fühlte mich in seiner Gegenwart plötzlich unbeschreiblich sicher und geborgen. Er streckte eine Hand nach mir aus und ich ergriff sie, ohne über mögliche Folgen nachzudenken. Ein sanfter grüner Schimmer breitete sich über unseren Händen, und von dort über unseren beiden Körpern aus. Das Feuer erlosch mit einem Zischen und auch die Glühwürmchen waren wieder verschwunden. Meine Hand fühlte sich ganz warm an und ein Kribbeln in den Fingerspitzen erinnerte mich an winzige Stromstöße die pulsierend von den Fingern aus durch meinen ganzen Körper jagten. Ich fühlte mich mit dem Mann auf eine unerklärliche, aber sehr faszinierende Art und Weise verbunden. Doch dann brach die Verbindung abrupt ab, und ich fühlte mich, als ob ein kleiner Teil von mir einfach verschwunden war. Der Mann hatte meine Hand losgelassen und begann zu sprechen, ohne seine wundervollen grünen Augen von mir abzuwenden. Seine Stimme war weich und fließend, ja fast melodisch. Wie ein im Wald friedlich vor sich hinplätschernder Bach: "Was du siehst, darfst du nicht sehen. Niemand darf sehen was du siehst. Niemand darf können was du kannst Mädchen! Doch du hast den kleinen Aiden gerettet. Du bist hier und du besitzt eine Gabe, die dich zu größerem bestimmt hat! Dein Herz ist gut, deine Seele ist aufrichtig. Du lebst, du wirst unzählige Leben erfüllen. Mädchen, du hast schon unzählige Leben gelebt. Doch keines gleicht dem anderen, dennoch bewahrst du die Wahrheit in dir. Der kleine Junge und du, ihr teilt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eure Schicksalsfäden sind verwoben sowie der Efeu mit dem Baum. Ihr werdet euch wiedersehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Der Wald wird dich rufen, und du wirst es spüren. Doch dein Besuch hier hat dir ein großes Opfer abverlangt. Dafür danke ich dir, denn ohne dich wäre die Hoffnung mit Aiden gestorben. Du bist ein Lichtbringer, Seelentröster und Tränenschenker. Du gibst viel mehr als man dir jemals geben wird. Du wirst erkennen, dass dein Herz die richtigen Entscheidungen trifft. Man sieht nur mit dem Herzen gut, Merlina! Die Augen sind das Fenster zur Seele, doch was helfen Fenster, wenn man sie nicht öffnen kann. Das Herz ist der Schlüssel zur Seele, vergiss das nie, Merlina.“ Ehe ich etwas erwidern konnte wurde mein Körper schlaff und ich sank zurück in das feuchte Moos, meine Lieder wurden schwer, ich hatte doch noch so viele Fragen. Es war so still geworden, nachdem der Mann aufgehört hatte zu sprechen. Es fühlte sich an, als ob die Dunkelheit immer dichter wurde. Ich hatte das Gefühl nicht atmen zu können, und dann fiel ich plötzlich hinunter, immer tiefer und tiefer. Doch ich fühlte keine Angst. Eine innere Ruhe erfasste mich und ich ließ es geschehen und schwebte in den Zeitströmen der Welt. Mein Gesicht fühlte sich warm an. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und blinzelte gegen die Sonne. Verwirrt strampelte ich mit meinen Beinen, denn etwas lag darauf. Nach einigen Sekunden des Kampfes erkannte ich, dass es bloß meine eigene rote Bettdecke mit den gelben Mondsicheln war, die sich da um meine Beine geschlungen hatte. Was für ein seltsamer Traum. Entschlossen schlug ich meine Decke zurück. Es war Samstag, und im Haus hörte ich mindestens 4 hektische Füße, über die Fliesen flitzen. Ich konnte nur den Kopf über mich selbst schütteln, was für ein verrückter und unheimlicher Traum hatte mich da in der Nacht heimgesucht Ich wollte gar nicht wissen, was Erwachsene so träumten, wenn ich schon so etwas Beunruhigendes träumte. In meinem Zimmer kam es mir unendlich heiß vor, und ich fragte mich, ob es in der Nacht überhaupt geregnet hatte, oder ob das nur in meinem Traum so war. Als ich die Gedanken über den Traum einigermaßen verdaut hatte hüpfte ich aus dem Bett und betrachtete mich in meinem barocken Prinzessinnenspiegel. Mein Gesicht wirkte ein wenig zerknittert, doch ansonsten sah ich ganz normal aus. Die nächtlichen Erlebnisse hatten keine Spuren an mir hinterlassen. Ich steckte auch wieder in meinem normalen Körper- zum Glück! Denn es gab nichts Schlimmeres, als schon am Morgen gefragt zu werden: „Hast du schlecht geschlafen, geht’s dir nicht gut? Ist alles in Ordnung? Du siehst ja furchtbar aus!“ Das hätte aber auch ganz witzig sein können, plötzlich in einem erwachsenen Körper aus meinem Kinderzimmer zu spazieren! Ich musste schmunzeln. Alles war so wie immer. Also verließ ich mein Zimmer und machte mich auf den Weg unter die Dusche. Mein T-Shirt zog ich mir über meinen wuscheligen Lockenkopf. Seltsam, ich hätte schwören können, dass meine Haare gestern glatt geföhnt waren. Ich schmiss es in den Wäschekorb und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass ein Stückchen Stoff fehlte. Als meine Mutter schon zum Frühstück rief, hüpfte ich schnell unter die Dusche. Da bin ich wohl mit meinen Haaren irgendwo beim Spielen hängen geblieben. Weiter dachte ich aber nicht darüber nach und wusch mich rasch. Denn wer ging schon gerne nach so einem Traum ungeduscht zum Frühstück?

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