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Niemals sind die Gedanken so luftig wie dann, wenn ich langsam in einem Bett erwache, aus dem ich nicht aufstehen muss, dann denke ich an ein Meer aus Bäumen, an Baumstämme, die nur ein Mensch – oder ein wilder Sturm – umwerfen kann, die alle in dieselbe Richtung zeigen, als ob ihnen das befohlen worden wäre, wie Soldaten, oder Zaunpfosten, und an den Wind, der die Stimme des Waldes ist, zusammen mit dem Knacken von Frost und dem Gesang der Vögel, dem Surren der Insekten und dem Regen, während der Schnee nicht viel sagt, aber was ich höre, als ich wieder vor der riesigen Tür stehe und meinen Namen nicht finden kann, ist das Geräusch von Ketten – von gierigen Panzerketten und Motorengebrüll, von eiligen Stiefeln und Rufen, während Haus und Bett zittern und hochhüpfen wie eine Kaffeetasse in einem leeren, durchgedrehten Heuwagen.

Trotzdem lasse ich mir Zeit, nicht, dass ich nun darüber nachdächte, ich erinnere mich nur daran, dass ich mir Zeit lasse, ehe ich aufstehe und aus dem Schlaf hinaussteige und mich anziehe wie für einen weiteren Tag, und langsam die Treppe zur Küche hinuntergehe, wo ein fremder Mann herumfährt, als er mich hört, und ein Gewehr auf meine Brust richtet, während Panik aus seinem verdreckten und verhärmten Gesicht leuchtet – und gleich darauf fängt er an zu schreien.

Ich begreife, dass er Befehle schreit. Und diese Befehle richten sich an mich, aber sie erfolgen in einer Sprache, von der ich nur einige wenige Wörter weiß, deshalb hebe ich die Arme und versuche, beruhigend zu lächeln, während ich langsam rückwärts hinaus auf die Straße gehe und fast über den Haufen von Eisenschrott gestolpert wäre, der jetzt von Reif und Schnee bedeckt wird, und ich sehe, dass die zerstörte Stadt abermals voller Menschen ist, Mengen von Männern, laufenden, gehenden, fahrenden, reitenden, fremden schwarzen Gestalten und ihren Maschinen, die die Stille gesprengt haben und alles mit Gerüchen und Geräuschen füllen, die es niemals hier gegeben hat, Tausende von fremden Gestalten, die allesamt etwas Zögerndes und Seltsames an sich haben, als seien sie aus dem Boden gestampft worden und könnten sich im Tageslicht nicht zurechtfinden.

Sie strömen von allen Seiten auf mich zu und starren und starren mit Augen, die nicht sehen. Und da offenbar niemand eine Entscheidung treffen will, sondern alle nur mit ihren Gewehren herumfuchteln und wild durcheinanderrufen, als seien sie unschlüssig und wütend zugleich, gehe ich ruhig weiter vor dem ungeduldigen Gewehrlauf einher, noch immer mit den Armen über dem Kopf, ich mache eine Art Spießrutenlauf zwischen weißen Blicken, blauen Lippen und unbegreiflichen Zurufen hinter mir, auf eine Gruppe von Panzerwagen zu, die auf dem Platz vor der niedergebrannten Schule in Stellung gefahren worden sind, und dort erwartet mich ein Mann, in dem ich den Offizier erkenne.

Er hat beide Handflächen gehoben, wie zu einem Indianergruß, aber ich verstehe, dass er mich anhalten will, deshalb halte ich an, in gebührender Entfernung, und ich höre ihn über seine Schulter etwas einem hellhaarigen Mann zurufen, der in diesem Moment aus dem riesigen Zelt herauskommt, der Einzige hier, der keinen Helm auf dem Kopf trägt, sondern eine Pelzmütze mit hochgeschlagenen Ohrenklappen, er sieht aus wie ein Finne und spricht mich in meiner eigenen Sprache an, wenn auch gebrochen, und zuerst nur mit einem kurzen Gruß, aber den erwidere ich.

Es ist still, ehe er anfängt, für mich zu übersetzen, was der Offizier sagt, oder kläfft, denn der Dolmetscher spricht freundlicher oder gedämpfter als sein Vorgesetzter, und ich habe das vage Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, den Dolmetscher, das mag an der Sprache liegen, die besser und besser wird, je weiter das Verhör voranschreitet, ohne dass wir irgendwohin gelangten, denn ich kann ja nur immer wiederholen, dass ich der Einzige bin, der sich noch in der Stadt aufhält, und dass ich mich geweigert habe, sie zu verlassen, weil ich hier wohne und niemals an einen anderen Ort gehen werde, komme, was da wolle. Und ich spüre, als ich das alles sage – und es ist nur die pure Wiederholung dessen, was ich zu Antti und Olli gesagt habe –, dass meine Worte sich jetzt richtiger und wirklicher anhören, fast durchdacht, was sie natürlich nicht sind, es ist der pure Wahnsinn, was ich hier von mir gebe, und das begreifen alle, aber es kann eben nicht anders sein, weil es wahr ist.

Aber der Offizier wird immer nur noch wütender angesichts meiner vielen Antworten, die sich nicht ändern, und der Dolmetscher fragt, warum, warum ... bis ich sage:

»Ich bin der Holzhacker hier, ich beliefere die Häuser mit Holz und sorge dafür, dass die Menschen warm bleiben.«

Dann wird es endlich still. Der verwirrte Offizier zeigt in seinem mageren Gesicht etwas, das wie ein Hauch von Begreifen aussieht – oder Versöhnlichkeit? –, dann stößt er plötzlich ein schallendes Lachen aus, in das der eine Soldat nach dem anderen zögernd einstimmt, bis im nächsten Augenblick an die hundert fremde Männer auf dem nachtschwarzen Eis stehen und lachen, als hätten sie niemals etwas so Komisches gehört.

Aber Lachen ist nun einmal besser als scharfgeladene Waffen, und keine davon zeigt nun noch in meine Richtung, deshalb wage ich es, die Arme zu senken, bleibe aber weiterhin dort stehen, wo ich nun einmal stehe, zum Beweis dafür, dass ich eingesehen habe, dass nicht ich, sondern der Offizier zu bestimmen hat, ob ich diesen Platz verlassen darf oder nicht, und das wirkt abermals beruhigend auf ihn ein.

Er tritt näher und mustert mich, als ob ich mich vielleicht als der ausgegeben hätte, der ich bin, während ich seinen Blick ängstlich erwidere. Er ist ein Mann von mindestens vierzig, breitschultrig und von hoch erhobener Haltung, mit einer starken Nasenwurzel und schmalen bitteren Lippen, in die er immer wieder die Zähne gräbt, und seine Augen sind ebenso schlaflos und erschöpft wie die von Olli, sein Gesicht ist verhärmt und mager und voll von wochenalten Bartstoppeln, die in ungleichmäßigen Büscheln aus der überraschend weißen Haut wachsen.

»Frierst du?«, frage ich, in einer Art Glauben, dass ich endlich entdeckt habe, was mit ihnen nicht stimmt, diesen humpelnden und schlurfenden Bewegungen, sie sind erschöpft, einer wie alle, am Rande des Zusammenbruchs.

»Ist das eine Frage?«, fragt der Dolmetscher tonlos und schaut in eine andere Richtung.

»Ja«, sage ich. »Er sieht aus, als ob er friert, und als ob er das schon lange tut.«

Jetzt kann die Frage als etwas verstanden werden, das mit meinem Holz zu tun hat, das ich eben erwähnt habe, mit Wärme und Frost und nicht mit dem Krieg. Und soweit ich das beurteilen kann, beschließt der Dolmetscher, irgendwie in diese Richtung zu übersetzen. Aber dann passiert etwas zwischen den beiden Männern, das ich nicht durchschaue, denn der Offizier scheint sich plötzlich über den Dolmetscher mehr zu ärgern als über mich, und der Dolmetscher scheint sich zu verteidigen.

»Hast du übersetzt, was ich gesagt habe?«, schalte ich mich ein.

»Fresse halten«, kläfft er über seine Schulter und beantwortet weitere Vorwürfe, ehe er sich wieder zu mir umdreht.

»Er glaubt nicht, dass du gefragt hast, ob er friert.«

»Sag es noch einmal, und sag auch, dass ich ihm etwas zeigen will.«

Der Dolmetscher überlegt, sagt ohne Betonung ein paar russische Wörter, bleibt stehen und starrt seine Stiefelspitzen an. Der Offizier lässt seinen Blick zwischen ihm und mir hin und her wandern und murmelt aus dem Mundwinkel etwas. Der Dolmetscher nickt nüchtern und drehte sich ein weiteres Mal in meine Richtung um.

»Bist du wirklich Finne?«

»Natürlich.«

»Papiere?«

»Zu Hause auf dem Hof, zwanzig Kilometer nördlich der Stadt, in Lonkkaniemi.«

Er übersetzt, und das bringt ihm ein kurzes Nicken und zwei geschnaubte Wörter ein.

»Was willst du uns zeigen?«

Ich zeige auf das Haus von Luukas und Roosa und mache eine Handbewegung, die bedeuten soll, dass ich ein gehorsamer Untertan bin, der seine Herren willkommen heißt. Der Offizier überlegt kurz und bedeutet mir dann, dass er mir folgen wird, auf Distanz. Und so gehen wir hintereinander zu dem Haus, wo ich die Tür öffne und offen halte, was wenig bringt, denn der Offizier will erst eintreten, nachdem seine Soldaten das Gebäude durchsucht haben, vom Keller bis zum Dachboden, auf Granaten und Minen, wie ich verstehe. Und während das vor sich geht, zeige ich ihm den Holzstapel, den ich aufgeschichtet habe, die Reste von Luukas’ Scheunenwand. Aber er nickt nur kurz und scharrt stattdessen mit den Füßen in dem Haufen aus Eisenschrott herum, fragt mit Hilfe des Dolmetschers, was das denn hier sei. Ich sage es ihm, Werkzeug und Ausrüstungsgegenstände, die ich irgendwann reparieren will, ein Plan, der das Bild von mir zu bestätigen scheint, dass sich jetzt offenbar in ihm festsetzt.

Der Offizier erhält von einem seiner Soldaten ein Klarsignal, zuckt mit den Schultern, und zusammen mit dem Dolmetscher und zwei einfachen Soldaten gehen wir in die Küche, er setzt sich an den Tisch von Luukas und Roosa, während ich anfange, Kaffee zu kochen und Brot zu schneiden, und die Soldaten beziehen jeweils an den Türen Posten.

Der Offizier sagt etwas, aber der Dolmetscher antwortet nicht und übersetzt auch nicht. Wieder sagt der Offizier etwas, und es hört sich an, wie dasselbe noch einmal.

»Was sagt er?«, frage ich.

»Er hat gesagt, dass ich das nicht übersetzen soll.«

»Aber es hat mit mir zu tun?«

Der Dolmetscher sagt etwas zu dem Offizier, der offenbar aus seinen Gedanken gerissen worden ist, denn er antwortet kurz, aber nicht unwillig.

»Er sagt, dass diese Stadt abgebrannt worden ist«, sagt der Dolmetscher, und bei ihm hört es sich an wie eine Frage.

»Damit ihr hier nichts vorfindet«, sage ich. »Weder Lebensmittel noch Häuser.«

»Das hat er schon verstanden, aber er glaubt, dass es eine Falle sein kann.«

Ich sehe wieder die Schatten vor mir, die während des Brandes wie eine grauer Fluss über das Eis des Kiantajärvi gehuscht sind.

»Warum seid ihr dann hineingetappt?«

Der Dolmetscher macht wieder ein Gesicht, als ob er seinen Ohren nicht traut, dann fängt er plötzlich an zu schimpfen, einfach vor sich hin, er hat wohl Angst davor, seine Wut auf ein klares Ziel zu richten. Aber im selben Moment fällt der Soldat, der an der Haustür Wache gestanden hat, in Ohnmacht und kommt wieder zu sich, als er auf den Boden aufschlägt, er bezieht blitzschnell Position und murmelt etwas, das sicher eine Entschuldigung sein soll. Ich sehe ihren aufgedunsenen Gesichtern an, dass die plötzliche Hitze sie so fertigmacht, und ich reiche dem Soldaten eine Scheibe Brot. Er schaut kurz zu dem Offizier hinüber, der in eine andere Richtung blickt, schnappt sich das Brot und schlingt es hinunter wie ein ausgehungerter Hund. Ich gebe auch seinem Kameraden eine Scheibe, er isst auf dieselbe Weise, während der Offizier eine verärgerte Handbewegung macht und der Dolmetscher nun wieder mir ins Gesicht blickt, offenbar wählt er seine Worte jetzt sorgfältig aus.

»Was glaubst du denn?«, fragt er, wieder meint er diese Falle, die die Finnen möglicherweise für sie gestellt haben. Und ich begreife, dass diese Frage gefährlich ist, aber dass sie vielleicht auch meine Rettung werden kann, wenn ich auf eine Weise antworte, die den Offizier davon überzeugen kann, dass ich nicht nur dumm bin, sondern auch so ungefährlich, wie er sich das offenbar erhofft.

»Ich weiß nicht«, sage ich und schenke Kaffee in Roosas Tassen ein und schiebe die schönste dem Offizier hin, der sofort danach greift und sie mit seinen verdreckten Pulswärmern umklammert.

»Aber was glaubst du wirklich?«, kläfft der Dolmetscher noch einmal. Ohne mich aus der Fassung bringen zu lassen, gebe ich auch den beiden einfachen Soldaten Kaffee, den sie lauthals schlürfen, zum sichtlichen Ärger des Offiziers. Ich sage ruhig zu dem Dolmetscher:

»Würdest du auch etwas übersetzen, wovon du glaubst, dass er es nicht gern hört?«

»Was?«

Ich wiederhole meine Frage.

»Natürlich!«

»Dann sag ihm doch, ich finde, dass du schlecht Finnisch sprichst, vor allem, wenn du wütend wirst.«

Ich schaue zu Boden, spüre aber, dass der Dolmetscher rot wird und mir den Kaffee bestimmt gern ins Gesicht kippen würde. Stattdessen leiert er einige Sätze auf Russisch herunter, und der Offizier starrt ihn verwundert an, dann stößt er wieder sein grobes Gelächter aus.

»Ich verstehe nicht alles, was du sagst«, füge ich eilig hinzu. »Du musst schon entschuldigen.«

Der Dolmetscher übersetzt auch das, nach der Reaktion des Offiziers zu urteilen, denn der sagt einige lange Sätze, während sein Gesicht sich immer mehr entspannt, als habe eine Serie von bangen Ahnungen sich nun endlich als unbegründet erwiesen. Als der Dolmetscher mich schließlich am Gespräch teilnehmen lässt, ist auch er ruhiger geworden, aber etwas Drohenderes und Misstrauischeres liegt in seinem Blick, und das gefällt mir nicht.

»Wir haben keinen Gefangenentransport«, sagt er tonlos. »Aber du kannst beim Tross dabei sein, die brauchen Holzfäller.«

Ich nicke. Er sagt:

»Und ich brauche ja wohl nicht zu sagen, dass du erschossen wirst, wenn uns auch nur der kleinste Verdacht kommt ...«

Ich schaue ihn fragend an.

»Kannst du das wiederholen?«

Er wiederholt, jetzt eher gereizt als misstrauisch.

»Das finde ich gut«, sage ich, als ich endlich begriffen habe, worauf er hinauswill. »Ich fälle gern Holz.«

Wir schauen einander lange an, bis etwas eintritt, von dem ich hoffe, dass es sich um eine Art Waffenstillstand handelt, er scheint sich jedenfalls damit abgefunden zu haben, dass ich harmlos bin.

Ich frage, ob sie wissen möchten, wem das Haus gehört hat, in dem sie hier sitzen, ehe es Finnland und dem Krieg zugefallen ist.

»Nein«, sagt der Dolmetscher.

Ich wiederhole die Frage.

»Nein«, sagt er noch einmal. »Aber wir möchten wissen, warum es nicht abgebrannt worden ist, wenn du nichts dagegen hast?«

»Weil ich darauf aufgepasst habe«, antworte ich und gehe zur der Wand hinter dem einen Wachtposten und nehme das Bild von Luukas und Roosa herunter und legte es vor dem Offizier auf den Tisch, zeige auf die beiden alten Leute und nenne ihre Namen. Er mustert sie zerstreut.

»Sie sind vor dreißig Jahren aus Raatevaara gekommen«, sage ich. »Luukas hat sich als Schuhmacher und Handwerker hier niedergelassen, er hat dieses Haus selbst gebaut, sie haben drei Söhne, die alle im Krieg sind ...«

Aber der Dolmetscher übersetzt nicht, er wirkt erschöpft, und auch der Offizier zeigt keinerlei Interesse, er sitzt nur da und starrt das Foto an, als ob es ihn an etwas erinnert – alles hat etwas Vertrautes, und plötzlich hebt er den Blick und starrt mir ins Gesicht. Ich schaue zurück. Er hebt die Tasse, als wolle er mehr Kaffee. Ich schenke ein und frage, ob er nicht die Brotscheiben essen will, die ich ihm hingelegt habe. Er reagiert nicht. Er trinkt Kaffee und denkt weiter an etwas, das einfach nicht aufhören will, ihn zu beunruhigen. Und bei diesem Geräusch von heißem Kaffee, der vorsichtig über blaue Lippen geschlürft wird, ist es, als ob ich nicht mehr existierte, oder als ob ich zu einem belanglosen Diener geworden wäre, einem Hund, der sich ein wenig nützlich machen oder der sie unterhalten kann, wenn es ihnen so passt, mir passt es jedenfalls. So verlief meine erste Begegnung mit den Russen, und ich weiß wirklich nicht, wie sie anders hätte ausfallen können.

Das Dorf der Wunder

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