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Arwenack, der Schimpanse, faßte sich mit den Affenhänden an den Kopf. Es war eine verkrampfte, hilflose Geste, die in totaler Erstarrung enden zu wollen schien. Der Mund des Affen öffnete sich weit und entließ einen Schrei, der; wie der eines Menschen klang.

Dies war nicht das übliche Nachahmen der Zweibeiner, mit dem sich Arwenack an Bord der „Isabella VIII“ oft und gern hervortat. Es hatte auch nichts mit dem Mut und Eifer zu tun, den er in jeder Schlacht an den Tag legte. Ganz im Gegenteil: Es handelte sich um den Ausdruck des entsetzlichsten Gefühles, das der Affe kannte: Todesangst.

Sein schriller Ruf mischte sich in das Schreien der Seewölfe. Panik herrschte an Bord des Dreimasters, aber das Gebrüll wurde von noch mächtigeren Lauten fast völlig überdeckt. Little Cayman befand sich wieder in dröhnender Bewegung, eine alles verschlingende Eruption schien sie von innen her zu zerreißen. Vor etwa einer Viertelstunde waren die Männer – ohne den verschwundenen Seewolf, nach dem sie gesucht hatten –, an Bord zurückgekehrt. Schon an Land war das Grauen über sie hergefallen, aber sie hatten es noch geschafft, wieder an Bord zu kommen.

Es war das Inferno auf Erden. Felsbrocken, ja, ganze Quader prasselten wie von Katapulten abgefeuert in die See, wühlten das Wasser auf und belegten die in der Bucht am Südufer ankernden Schiffe mit einem verheerenden Feuer.

Die „Isabella“ tanzte auf den Wogen. Es hatte keinen Zweck, ankerauf zu gehen und das Heil in der Flucht zu suchen. Jeder Versuch, etwas zur Rettung von Schiff und Mannschaft zu tun, kam zu spät. Philip Hasard Killigrews Crew mußte die Verdammnis wie ohnmächtig über sich ergehen lassen.

„O Himmel, Arsch und Zwirn!“ schrie der Profos Edwin Carberry.

„Der Teufel soll diese verfluchte Drecksinsel holen!“ stieß Ferris Tukker hervor.

Damit konnten sie am Verlauf der Dinge auch nichts ändern. Aber wenigstens ihrer Wut machten sie ein bißchen Luft.

Mit einer Art Beben hatte alles begonnen. Das „Auge der Götter“, jener geheimnisvolle, mit Schätzen gefüllte See, hatte sich vor den Augen der Seewolf-Crew, der Männer Siri-Tongs und der vier Begleiter des Wikingers Thorfin Njal unter Donnern und Fauchen in die Tiefe ergossen, hatte Felsen zerschmettert, die alles mit sich rissen. Gischtend hatte sich die Flutwelle zu Tal gewälzt – und über Little Cayman war das Chaos hereingebrochen.

Ein Vulkanausbruch war das also nicht, aber die Auswirkungen waren beinahe die gleichen. Kein Zweifel: Die beiden Wächter am Auge der Götter, die den Überfall der fremden Piraten überlebt und die Plünderung ihres Heiligtumes verhindert hatten, hatten den See gesprengt. Das Wasser hatte sich seinen Weg durch die Felsen und Kavernen gebahnt – bis zur „Isabella“, dem Schwarzen Segler, der Schaluppe des Wikingers und dem Zweimaster der Roten Korsarin. Letzterer ankerte jedoch weiter draußen in der Bucht und war deshalb von dem Gesteinshagel weniger betroffen.

Arwenack war überzeugt, der Untergang der Welt stünde bevor. Und da war er nicht der einzige. Wieder einmal bekreuzigten sich die Seewölfe. Wieder einmal waren sie sicher, dies alles ginge nicht mit rechten Dingen zu – trotz der vernunftsmäßigen Erklärung, die es dafür gab.

Ihr Aberglaube entsprang einer tief in ihnen verwurzelten Furcht vor Unerklärlichem, Übersinnlichem. O, sie schreckten nicht vor Tod und Teufel zurück, wenn es galt, sich mal wieder mit einem Gegner zu schlagen, daß die Fetzen nur so flogen. Aber das hier, das war ihnen zu unheimlich. Vernichtende Naturgewalten waren am Werk, finstere Mächte, auf die sie keinen Einfluß hatten.

Arwenack wußte in seiner Not keinen besseren Rat, als sich an den ihm am nächsten Stehenden zu klammern. Das war Ferris Tucker, der zusammen mit Shane und einigen anderen Männern hinter dem Schanzkleid des Achterdecks in Deckung gegangen war.

Der rothaarige Riese nahm den keckernden und zeternden Gesellen schützend in die Arme. Er lachte aber nicht, wie er das sonst selbst bei ärgstem Verdruß tat – im Augenblick war es selbst ihm vergangen.

Die „Isabella“ tanzte und schlingerte wie wild. Steine landeten polternd auf Deck. Einer traf fast den wüst fluchenden Matt Davies. Ein besonders großer Brocken klatschte haarscharf an der achteren Steuerbordwand ins Wasser. Ferris und den anderen auf dem Achterdeck sträubten sich die Haare.

„Hol’s der Teufel!“ rief Luke Morgan, der gerade wieder einen Blick übers Schanzkleid der Kuhl hinweg riskierte. „Die Schaluppe des Wikingers! Sie ist weg, verschwunden! Das ist reine Hexerei!“

Carberry lief dunkelrot an. „Rede doch keinen Mist, du Himmelhund. Die Trümmer haben den Kahn voll erwischt, zerschmettert und binnen Sekunden auf den Grund der Bucht gesenkt. Hast du Schlick auf den Augen?“

„Ich sehe mehr als ihr alle“, erwiderte Luke, vorsichtshalber aber gedämpft; denn mit dem Profos war mal wieder nicht zu spaßen.

Carberry blickte zu den vier Gefährten von Thorfin Njal. Sie kauerten ganz in seiner Nähe vor dem Querabschluß des Quarterdecks.

„He!“ rief er ihnen zu. „Ihr habt wirklich Glück, daß ihr euch jetzt bei uns an Bord befindet, ihr Höllenhunde. Das da – das hättet ihr nicht überlebt.“

Die vier waren tatsächlich blaß geworden. Einer von ihnen antwortete: „Hoffentlich bleibt die ‚Isabella‘ heil.“

Etwas sauste heran. Carberry duckte sich instinktiv. Das Ding, ein kindskopfgroßer Felsbrocken, raste schräg über seinen Rücken weg, knallte auf die Handleiste des Schanzkleides und riß eine Scharte.

„Satan!“ brüllte Carberry. „Nun beschwört es doch nicht, ihr Halunken. Haltet den Rand, oder ich ziehe euch die Haut in Streifen von euren …“

Der Rest ging in neuerlichem Getöse unter. Was Ed Carberry weiter von sich gab, tat eigentlich auch nichts zur Sache und bedurfte keiner Rückfragen, denn seine Sprüche waren ja allenthalben bekannt.

Immer noch tobte die Flutwelle und zermalmte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Immer noch prasselten die Gesteinsbrocken. Keiner der Männer durfte seine Deckung verlassen. Es konnte tödlich sein.

Ben Brighton hockte rechts neben Ferris Tucker und dem zitternden Arwenack. Wiederum rechts von dem Bootsmann und ersten Offizier der „Isabella“ hatte sich Big Old Shane, der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle, in Sicherheit gebracht.

„Verdammt“, stieß Ben immer wieder aus. „Verdammt, hört denn das nie auf?“

„Was ist nur aus Hasard, Siri-Tong und dem Wikinger geworden?“ sagte Shane.

Ben ballte die Hände, daß das Weiße an den Knöcheln hervortrat. „Mein Gott, frag mich doch nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl.“

„Hör auf!“ fuhr Ferris dazwischen. „Das Unken hat jetzt auch keinen Zweck.“

Er wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Moment wurde seine Aufmerksamkeit durch einen neuen Zwischenfall in Anspruch genommen. Ferris traute seinen Augen nicht, so gespenstisch wirkte das, was sich da am südwestlichen Ufer der Bucht abspielte.

Ein mächtiger Felsquader wirbelte auf den schwarzen Segler nieder. Das Schiff, das einstmals dem gefürchteten Piraten El Diablo gehört hatte, lag dicht unter Land. Thorfin Njal und seine Männer hatten es in mühsamer Arbeit dorthin verholt.

Sie hatten es einer genaueren Untersuchung unterziehen wollen. Der Wikinger hatte seine „Thor“ in der Windwardpassage verloren. Er brauchte dringend ein neues Schiff. Ob das aber jemals der schwarze Segler sein würde, war in diesem Augenblick sehr, sehr zweifelhaft – denn der Quader raste mit solcher Geschwindigkeit auf das Schiff zu, daß seine Zerstörung sicher schien. Im freien Fall erlangte der Felsen immer mehr Drall und damit größere Wucht. Er würde sich wie eine Kanonenkugel in den Rumpf fressen.

Und doch kam es anders.

Ferris und seine Kameraden kauerten wie angewurzelt da, als es geschah. Der Felsbrocken hieb auf das Schanzkleid des schwarzen Seglers. Es knackte und splitterte, und dann erwuchs eine schaurige Gestalt zu neuem Leben.

Jedenfalls wirkte es so. Durch die Wucht des Aufpralls wurde eines der Gerippe an Bord des Seglers hochgeschleudert. Es sah wirklich so aus, als springe die Schauergestalt aus eigenem Antrieb. Sie schwang hoch und breitete dabei die Knochenarme aus – ein von der Sonne ausgebleichtes Skelett mit tückisch grinsendem Totenschädel. Dieses Haupt flog samt Gerippe über das Schanzkleid weg und neigte sich der Wasserfläche zu. Es zog seinen scheußlichen Leib in grotesker Gebärde nach. Dann stieß die Erscheinung kopfüber wie ein Taucher in die Fluten und verschwand darin.

„Jesus“, sagte Ben Brighton.

Ferris Tucker sagte gar nichts. Er blickte wie gebannt auf den schwarzen Segler und registrierte dabei aus den Augenwinkeln, wie die Freunde sich bekreuzigten.

Je mehr sie die unheimlichen Vorkommnisse verfluchten, desto öfter ereigneten sie sich. Die Szene mit dem Skelett hatte die meisten von ihnen bis ins Mark erschauern lassen, so echt, so täuschend war sie gewesen. Wie ein zappelndes Gespenst hatte der Knochenmann gewirkt – einer von El Diablos grausamen Spießgesellen, der auferstanden war, um sich an den Sterblichen für sein Schicksal zu rächen.

Matt Davies warf einen wilden Blick auf die Stelle, an der das Gerippe im Wasser verschwunden war. Er schüttelte sich. „Verdammt, keiner würde mich dazu bringen, jemals dort zu tauchen.“

„Der Geist lauert unten und packt jeden, der ihm vor die Klauen gerät“, sagte Luke Morgan. „Ein würgendes Monstrum.“

Carberry hatte es mitgekriegt und brüllte einen seiner ellenlangen Flüche.

Ferris schaute unverwandt auf das große schwarze Schiff. Aber nicht wegen des Vorfalls mit dem Skelett. Auch er war zusammengeschaudert, aber er maß der Angelegenheit nicht mehr Bedeutung bei, als nötig war. Nein, ihn faszinierte etwas anderes.

„Ben, hast du das gesehen?“

„Verdammt, ja, und ich zweifle langsam an meinem Verstand. Hölle, es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich ein Skelett …“

„Das meine ich nicht“, unterbrach ihn Ferris. „Ich rede von dem Felsbrokken.“

„Was ist mit dem Felsbrocken?“

„Fällt dir denn gar nichts auf?“

„Tja, ein Stück vom Schanzkleid des schwarzen Seglers ist zersplittert, aber das ist wohl alles.“

„Mit anderen Worten, der Riesenklotz ist fast wirkungslos von dem Schiff abgeprallt“, sagte jetzt Big Old Shane. „Das ist doch schier unglaublich, bei der Wucht, die das Ding hatte. Wie kann so was angehen, Ferris?“

Ferris beschrieb eine beinahe hilflose Gebärde. „Keine Ahnung. Ich kann’s auch nicht fassen, Männer. So was gibt es nicht. Was ist das bloß für Holz, aus dem der Segler gebaut wurde? Himmel, ich weiß doch, wie gut und stark unsere ‚Isabella‘ ist, aber ich weiß auch, daß der Brocken dort ganz erheblichen Schaden auf unserem Schiff angerichtet hätte, falls er uns getroffen hätte.“

Ben schüttelte den Kopf. „Härteres Holz als gute englische Eiche existiert doch nicht.“

„Weißt du das?“ fragte Ferris.

„Wie meinst du das? Ich verstehe vom Schiffbau nicht so viel wie du, aber immerhin doch eine ganze Menge …“

„Geh doch nicht gleich auf die Palme, Ben“, erwiderte Ferris. „Ich wollte nur sagen: Wir haben noch nicht die ganze Welt gesehen. Es gibt Dinge, über die wir nur staunen können, richtige Wunder, bei deren Anblick uns die Augen übergehen und die doch eine vernünftige Erklärung haben.“

„Zum Beispiel Holz aus einem fremden Land, das so hart wie Eisen ist?“ fragte Shane zweifelnd. „Mich würde mal interessieren, wie man das Material bearbeitet.“

„Ich komme noch dahinter“, versicherte Ferris. „Ich schwör’s euch, Freunde. Der Sache geh ich auf den Grund.“

„Wir müßten den schwarzen Segler untersuchen“, sagte Ben Brighton. „Aber im Moment hat etwas anderes die größere Dringlichkeit. Wir müssen Hasard, Siri-Tong und Thorfin Njal finden.“

Er richtete sich auf. Es war stiller geworden um die „Isabella“. Nur noch vereinzelt rollten Felsbrocken die Hänge der Insel hinunter. Plötzlich trat völlige Ruhe ein. Totenstille. Etwas Lähmendes, das sich wie eine Drohung auf die Männer senkte.

Den düsteren, zerstörten Hängen der Insel haftete die Aura des Bösen an. Ben griff zum Spektiv, hob es ans Auge und tastete mit seinem Blick das Ufer ab.

„Und?“ sagte Old O’Flynn ungeduldig.

„Nichts. Keine Spur von Hasard, Siri-Tong und dem Wikinger.“

Die Männer waren wie geschockt. Sie wußten ja, daß ihr Kapitän mit der Roten Korsarin und dem Wikinger zum Auge der Götter hinaufgestiegen war. Zum Ort der Katastrophe.

Ben steckte das Spektiv wieder weg, formte seine Hände zu einem Schalltrichter vor dem Mund und begann zu rufen: „Hasard! Siri-Tong! Thorfin!“ Er wiederholte es, und mittendrin erhob sich neben ihm Ferris Tucker und fiel mit ein. Shanes mächtige Gestalt schob sich gleich darauf am Schanzkleid des Achterdecks hoch, es folgten Old O’Flynn, Pete Ballie, dann, auf Quarterdeck und Kuhl, Carberry und all die anderen, zuletzt schließlich auch der junge Dan O’Flynn hoch oben im Hauptmars. Alle schrien die Namen der Gesuchten. Es war ein einziger Ruf, der in Abständen nach Little Cayman hinüberschallte – und doch keinen Erfolg zeitigte.

Nirgends war auch nur die Spur vom Seewolf zu entdecken.

Siri-Tong und der Wikinger blieben ebenfalls verschwunden.

„O Himmelarsch, so ein elender Mist“, sagte der Profos. „Da denkt man, man hat den ganzen Schlamassel hinter sich, dabei geht es mit den Schwierigkeiten wieder von vorn los. Wenn den dreien bloß nichts zugestoßen ist!“

„Ich hab’s gleich gewußt, daß es nicht gut ausgeht“, unkte Luke Morgan. „Ich sehe mehr als ihr alle.“

Carberrys vernichtender Blick traf ihn. „Sag mal, bist du jetzt auch unter die Wahrsager und Spökenkieker gegangen, du Hering?“ fragte der Profos. „So wie der Jonas?“

Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Nur sagt mir mein Verstand, daß es Wahnsinn ist, was wir hier tun. Wir hätten längst weg sein müssen und uns auf nichts einlassen sollen.“

„Du sprichst in Rätseln“, entgegnete Ed Carberry – noch eine Spur leiser, und das verhieß bei ihm nichts Gutes.

„Der Wikinger …“

„Was ist mit ihm passiert, Luke? Und mit Hasard und der Roten Korsarin?“

„Das weiß ich nicht“, sagte Luke Morgan. „Himmel, ich hoffe wirklich nicht, daß es übel für sie ausgegangen ist. Ich …“

Carberry fiel ihm wieder ins Wort. „Natürlich. Dann brüllen wir die Namen noch mal zusammen, ja, Luke?“ Er flüsterte jetzt fast. „Und wenn du nicht aufhörst, den Teufel an die Wand zu malen und dauernd ’rumzunörgeln, hau ich dich ungespitzt durch die Decksplanken, kapiert, was, wie?“

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 74

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