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1.

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Jetzt, am frühen Morgen nach der Nacht, die für die Seewölfe so außerordentlich turbulent verlaufen war, ließ, der Wind aus Südwesten ganz unverhofft nach. Sein Pfeifen und Heulen schwächte mehr und mehr ab und wurde zu einem verstohlenen Wispern, das durch die großen, lappigen Blätter der Farnkräuter und durch die Wipfel der seltsamen Bäume des neuen Landes kroch.

Dann riß auch der schwärzliche Wolkenvorhang über der Ankerbucht der „Isabella VIII.“ auf, und faserige blaßblaue Löcher unterschiedlicher Größe traten hier und da zum Vorschein. Sonnenstrahlen stießen – zunächst noch zögernd, densten Arbeiten verrichtet. Ja, wurden die denn nie müde?

Der Schimpanse stieß einen tiefen Seufzer aus. Für ihn waren diese Zusammenhänge viel zu kompliziert. Und fragen konnte er die Männer auch nicht, was es denn nun wieder zu diskutieren gab. Er verstand ihre Sprache nicht. Umgekehrt begriffen auch sie ihn nicht, wenn er manchmal versuchte, ihnen etwas auseinanderzusetzen.

Hiermit tröstete er sich. Im übrigen begnügte er sich damit, den Narbenmann mit dem großen, eckigen Kinn aus trüben Augen anzusehen und bittend die rechte Hand vorzustrecken. Wieder gab er einen wehleidigen Laut von sich und zog die Miene eines Märtyrers.

„Du kannst mich mal“, sagte der Profos zu dem Affen. „Wenn du glaubst, du kriegst eine Nuß, hast du dich getäuscht. Friß von mir aus Brotfrucht, bis sie dir zu den Ohren ’rausquillt.“

„Laß doch den Affen“, sagte Ferris Tucker. „Was hat er dir denn getan?“

„Nichts, aber er könnte sich nützlich machen“, erwiderte Carberry unwirsch. „Wenn er ein schlauer und fleißiger Affe wäre, dann würde er sich den Schwab-berdweil und den Scheuerstein schnappen und damit die Planken putzen, bis wir unser Spiegelbild darauf sehen können.“

Die Männer stießen sich untereinander an und grinsten sich zu. Natürlich hatte Ferris Tucker den Nagel auf den Kopf getroffen. Carberry wollte es zwar nicht zugeben, aber er hing an dem Aracanga Sir John. Damals, als sie sich in die grüne Hölle des Amazonas’ vorgewagt hatten, dorthin, wo vor ihnen noch kein weißer Mann gewesen war, war der bunte Vogel ihnen zugeflogen. Auf Carberrys Schulter war er gelandet, und seitdem waren der bärenstarke Mann und der redselige Papagei ein Herz und eine Seele.

Und auch an Arwenack hatte der Profos einen Narren gefressen, das wußten alle. In der rauhen Schale steckte ein weicher Kern – Ed Carberry hatte ein Herz für Tiere. Da er dies jedoch für eine Schande hielt, ließ er keine Gelegenheit aus, über das „Viehzeug“ zu schimpfen und es in Grund und Boden zu verwünschen.

Matt Davies wollte gerade wieder eine seiner bissigen Bemerkungen fallenlassen, da ertönte über ihren Köpfen ein scharfer, zischender Laut.

Sofort hoben sie alle die Köpfe – auch Ben Brighton, der erste Offizier und Bootsmann der „Isabella“, der auf dem Quarterdeck stand.

Dan O’Flynn gestikulierte vom Großmars zu ihnen herunter. Er hatte eine Bewegung im Ufergestrüpp registriert, aber er wollte seine Kameraden nicht durch Rufe darauf hinweisen – zweifellos, um jenen, die da im Dickicht rumorten, nicht zu verraten, daß er sie bereits entdeckt hatte.

„Achtung“, sagte Ben verhalten. „Vielleicht starten die Eingeborenen einen neuen Angriff. Geht vorsichtshalber auf Gefechtsstation, Männer.“

„Aye, Sir“, murmelten die Männer.

„Es könnten auch die Riesenvögel sein“, sagte Carberry. „Hölle, was tun wir, wenn sie durchs Wasser zu uns ’rüberkommen und zu entern versuchen?“

„Ich glaube nicht, daß sie schwimmen können“, raunte der Kutscher, während er wie die anderen seinen Blick nicht vom Uferdickicht nahm.

„Glauben ist nicht wissen“, sagte der Profos störrisch. „Und Old O’Flynn hat es ja prophezeit: Die Biester sind Schimären, die uns alle vernichten werden. Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Wir hätten gut daran getan, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden.“

Ferris Tucker schüttelte den Kopf. „Mein Gott, Ed, so kennt man dich sonst ja gar nicht.“

„Willst du damit sagen, daß mir die Hosen flattern?“

„Tun sie das?“

„Nicht die Spur, du Holzwurm.“

Ferris grinste. „Na bitte, das wollte ich ja nur hören. Danke, Ed.“

Der Profos blickte ziemlich irritiert drein. Eigentlich hatte er eine wilde Drohung ausstoßen wollen, aber Ferris hatte ihm glatt den Wind aus den Segeln genommen. Irgendwie fühlte Carberry sich verschaukelt, doch fand er keinen Ansatzpunkt, um eine geharnischte Antwort geben zu können.

Dan O’Flynn hatte sich so weit über die Segeltuchumrandung des Großmarses gebeugt, daß es aussah, als stürze er jeden Moment hinunter. Aber das geschah natürlich nicht. Trotz seiner Müdigkeit hielt Dan sich mit der altgewohnten Sicherheit auf dem selbstgewählten Posten. Fast die ganze Nacht und die Morgenstunden über hatte er unentwegt nach allen Seiten Ausschau gehalten. Nichts konnte seinen scharfen Augen entgehen. Und so war er jetzt selbstverständlich auch der erste, der entdeckte, wer oder was die Bewegungen im Gebüsch hervorgerufen hatte.

„Deck!“ schrie er plötzlich. „Es sind Smoky und Al Conroy!“

Richtig, zwei Männergestalten verließen das dichte Farngestrüpp und liefen auf den Platz zu, an dem das eine Beiboot der „Isabella“ vertäut lag.

Es war die Jolle, die Hasard und sein siebenköpfiger Landtrupp während der Nacht benutzt hatten, um ans Ufer zu gelangen.

Smoky und Al winkten zur „Isabella“ hinüber, und die Crew erwiderte den Gruß mit Johlen und Pfeifen.

Gleich darauf verstummte die Begeisterung aber wieder. Der Decksälteste der „Isabella“ und Al Conroy hatten die Jolle gelöst und waren hineingeklettert. Jetzt schickten sie sich an, zur Galeone zu pullen.

„Verdammt und zugenäht“, sagte Ben Brighton. „Wo in aller Welt stekken die anderen – Hasard und die Zwillinge, Bill, Shane, Old O’Flynn, Blacky und Pete?“

Die Frage schwebte in der Luft. Es schien keine Antwort darauf zu geben.

Als es nur noch etwa zwanzig Yards waren, die das Boot und die Galeone voneinander trennten, richtete sich Smoky von seiner Ducht auf und hielt mit dem Pullen inne. Er wandte den Kopf und rief Ben und den anderen zu: „Ihr braucht euch keine Sorgen mehr zu machen! Hasard und der Rest der Gruppe sind wohlauf! Wir haben die Zwillinge gefunden! Genügt euch das?“

„Ihr Himmelhunde!“ brüllte der Profos. Hoch richtete er sich am Schanzkleid auf und schüttelte die Faust. „Hättet ihr das nicht gleich sagen können?“

Smoky lachte. „Wir dachten, ihr würdet uns auf die Entfernung bis zum Ufer nicht verstehen!“

Rasch war die Jolle jetzt heran und ging längsseits der Bordwand der „Isabella“. Die Jakobsleiter war noch seit der ereignisreichen Nacht ausgebracht und am Schanzkleid belegt. Smoky und Al vertäuten die Jolle und enterten an den hölzernen Sprossen auf. Sie sprangen auf die Kuhl und begrüßten stürmisch ihre Kameraden.

„Wir brauchen erst mal eine Stärkung“, sagte Smoky. „Wir haben einen ziemlich langen Marsch hinter uns.“

„Ich hole Rum“, sagte der Kutscher. Er drehte sich um und eilte zur Kombüse.

„Uns wäre es lieber, wenn du den Rum mit heißem Wasser verdünnen würdest!“ schrie Al ihm nach.

Ben Brighton hatte das Quarterdeck verlassen und trat vor die beiden hin. „So“, sagte er. „Jetzt macht’s mal nicht so spannend. Was ist geschehen? Wo habt ihr Philip junior und Hasard junior gefunden, und warum seid ihr nicht gleich alle zurückgekehrt?“

Smoky grinste. „Die Zwillinge haben heute nacht einen Schutzengel getroffen, sonst hätten die Maoris sie wahrscheinlich überwältigt und verschleppt. Ja, sie hätten sie ganz bestimmt in ihren Pah gebracht, wie sie es auch mit Bill vorgehabt hatten …“

„Maoris? Pah? Was sind denn das für komische Wörter?“ rief Luke Morgan.

„Und was ist das für ein Schutzengel, von dem du faselst?“ knurrte der Profos. „Ist dir die feuchte Dschungelluft nicht bekommen?“

Ben hob die Hände. „Ruhe, nicht alle durcheinander! Laßt Smoky zu Ende reden!“

Die Männer verstummten. Ben hatte von Hasard das Kommando über die „Isabella“ übernommen, seine Worte hatten Befehlsgewalt.

Smoky grinste immer noch. „Also, ich will mich deutlicher ausdrücken. Die Maoris sind die Eingeborenen, mit denen wir schon so nett Bekanntschaft geschlossen haben. Der Pah – das ist ihr Dorf. Und der Schutzengel, der Philip und Hasard aus der Patsche geholfen hat, ist ein waschechter Engländer. Er heißt Sumatra-Jonny und stammt aus Bristol. Er hat uns so ziemlich seine ganze Lebensgeschichte erzählt, aber wir haben keine Zeit, sie euch jetzt zu wiederholen.“

Er unterbrach sich, denn der Kutscher war mittlerweile mit zwei Mucks voll heißem Wasser und Rum eingetroffen. Smoky und Al nahmen die Gefäße entgegen und tranken in kurzen Schlucken. Erst, als er seine Muck fast bis zur Hälfte geleert hatte, fuhr Smoky fort.

„Sumatra-Jonny hat die Zwillinge in die Berge geführt, um sie vor den Maoris zu schützen. Dort oben hinauf, ins vulkanreiche Gebiet mit den Geysiren, den Schlammvulkanen und den wassergefüllten Sinterterrassen, trauen sich die Wilden nämlich nicht, weil sie glauben, dort hausen ihre Gottheiten.“

„Hol’s der Henker“, brummte Carberry. „Das ist vielleicht eine wilde Geschichte, Mann. Ja, wie, zum Teufel, habt ihr denn die Spur bis in die Berge verfolgen können?“

„Dreimal darfst du raten“, sagte Al Conroy.

Carberrys Augen begannen wild zu funkeln, und seine Miene verzerrte sich wieder zu einer zornigen Grimasse. „Ich will aber nicht raten, Mister Conroy. Ich will’s von dir hören.“

„Sir John“, sagte Smoky schlicht. „Wir fanden ihn in einem Wald aus Kaurifichten. Er hatte sich verirrt, trug aber eine Botschaft von den Zwillingen am Bein. Sie hatten sie auf ein Stückchen Rohleder geritzt.“

„Verdammt!“ Der Profos gab sich alle erdenkliche Mühe, immer noch grimmig dreinzuschauen. „So war das also. Und wo ist das verfluchte Mistvieh abgeblieben?“

„In den Bergen. Bei Jonnys Wohnhöhle. Bei Hasard und den anderen“, erwiderte Al Conroy fröhlich.

„Der Teufel soll die alte Nebelkrähe holen“, sagte der Narbenmann. „Jetzt hab ich sie also wieder am Hals. O Hölle und Verdammnis, was für einen miesen Fang habe ich doch mit dem elenden Biest gemacht.“

Er fluchte noch eine Weile herum, aber keinem entging, daß sich seine Miene merklich geglättet hatte. Und noch eine Wandlung ging mit dem rüden, rauhbeinigen Profos vor sich: In seinen Augen stand jetzt ein fast glückseliger, gerührter Ausdruck. Er wollte es nicht eingestehen, aber er freute sich schon jetzt auf das Wiedersehen mit Sir John. Plötzlich schien er bereit zu sein, sich mit aller Welt zu versöhnen, auch mit den Maoris, wenn es sein mußte.

„Was ist mit den Riesenvögeln?“ wollte der Kutscher wissen. „Haben die euch nicht angefallen?“

„Die Moas?“ Smoky winkte ab. „Die sind friedlich. Es gibt noch andere Laufvögel auf Neuseeland, aber kein einziger davon ist für die Menschen gefährlich. Und was noch erstaunlicher ist: Es gibt keine Raubtiere auf der Insel.“

„Augenblick mal“, sagte Sam Roskill verblüfft. „Woher habt ihr denn all diese Weisheiten?“

„Von Sumatra-Jonny natürlich, das ist doch klar“, erklärte der Kutscher.

Smoky nickte. „Stimmt haargenau. Er lebt schon seit anderthalb Jahren hier, wenn auch gegen seinen Willen. Er wurde hier ausgesetzt, und zwar von einem Sklavenfänger, auf dem er irrtümlich angeheuert hatte. In den achtzehn Monaten seines Hierseins hat er alles kennengelernt, was hier kreucht und fleucht. Es ist hochinteressant, seinen Berichten zuzuhören.“

„Neuseeland, so heißt also diese Insel?“ erkundigte sich Matt Davies.

„So hat Sumatra-Jonny sie getauft.“

„Aber wir dachten doch, dies wäre immer noch das Südland!“ rief Jeff Bowie. „Ist es denn ganz sicher, daß dieser Jonny sich nicht täuscht?“

„Völlig sicher“, erwiderte Smoky.

Ben Brighton sagte: „Hasard hat das ja von Anfang an behauptet. Und er hat recht behalten, das müssen wir ihm neidlos zugestehen.“

Dan O’Flynn, der im Großmars jedes Wort verstanden hatte, legte in diesem Moment die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief zu ihnen nach unten: „Und mein Alter war auch überzeugt davon, daß wir hier eine Insel vor uns haben und nicht den rätselhaften Kontinent!“

„Streitet das vielleicht jemand ab?“ brüllte der Profos. „Ihr O’Flynns seid doch alle gleich: vorlaute Dickschädel, Besserwisser und Meckerbeutel. Man sollte euch die Haut in Streifen abziehen, jawohl, das sollte man!“

„Sir!“ schrie Dan. „Mister Brighton, darf ich abentern, um Mister Carberry meine Meinung zu sagen?“

„Abgelehnt!“ rief Ben zurück. Er wandte sich dem Decksältesten zu und sagte: „So weit, so gut, Smoky, aber du hast eine meiner Fragen noch nicht beantwortet. Warum seid ihr nicht alle zur ‚Isabella‘ zurückgekehrt?“

„Befehl von Hasard“, erwiderte Smoky. „Al und ich haben die ausdrückliche Order, den Profos, Ferris und Batuti zu holen und mit ihnen in die Berge aufzusteigen. Der Rest der Crew bleibt an Bord und hält sich bereit, um einen eventuellen Angriff der Maoris auf unsre alte Lady zurückzuschlagen. Ferris, du sollst so viele Hämmer und Äxte wie möglich mitnehmen. Batuti, vergiß deinen Morgenstern nicht.“

„Was, wie?“ sagte Carberry. „Sollen wir vielleicht die Felsen zertrümmern?“

Fast alle grinsten, aber Smoky blieb ernst.

„Genau das“, erwiderte er. „Es gilt, in einer Moa-Höhle, die Jonny genau kennt, ein Stückchen Schwerarbeit zu leisten. Aber Hasard meinte, dazu würdet ihr wohl gern bereit sein.“

Ben Brighton verzog ärgerlich das Gesicht. „Jetzt hör aber endlich auf, uns so auf die Folter zu spannen, Smoky. Es muß doch einen triftigen Grund dafür geben, sonst hätte Hasard euch nicht mit einer solchen Order losgeschickt.“

„Ja. Es gibt einen sehr triftigen, handfesten Grund.“

„Und der wäre?“

„Auf Neuseeland liegt Gold“, sagte Smoky. „Man braucht es nur dem Berg abzugewinnen.“

Die Unterkiefer der Männer klappten nach unten. Sprachlos starrten sie ihren Decksältesten an.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 196

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