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Einer der ersten, der die veränderte Lage in ihrem vollen Ausmaß registrierte, war der junge Teniente Denaro. Er versah seinen Morgendienst auf der Wehrmauer, die die Gouverneurs-Residenz umgab, und hielt mit seinen Männern Wache.

Keiner der Soldaten sprach ein Wort. Es herrschte Niedergeschlagenheit, aber auch trotzige Erbitterung. Zu lange schon dauerte der Belagerungszustand an. Zu groß waren die Opfer und Entbehrungen, Tote und Verletzte hatte es bei den Kämpfen in Havanna gegeben. Der Kommandant der Stadtgarde selbst, Don Luis Marcelo, lag verwundet in einem Raum der Residenz.

Was noch schlimmer wog: Munition und Proviant der im Palast Eingeschlossenen gingen zur Neige. Es gab nur noch wenig zu essen, und auch das Trinkwasser war knapp. Die Soldaten mußten mit Pulver und Kugeln sparen.

Lange konnten sie die Residenz nicht mehr halten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann fiel diese letzte Bastion wie von selbst. Im Triumph würden die Aufrührer sie übernehmen – und jeden töten, der sich ihnen in den Weg stellte. Auch die Frauen und Kinder, die in der Residenz Unterschlupf gefunden hatten, würden von den Kerlen nicht verschont werden.

Gewiß, es gab noch ein anderes Bollwerk mitten in der Stadt, das bislang den Angriffen der Aufsässigen getrotzt hatte – das Stadtgefängnis. José Cámpora, der Direktor, hatte sich mit seinen fünfzehn Wächtern erfolgreich verteidigen können. Doch offenbar waren inzwischen auch ihm die Hände gebunden. Er konnte nicht wagen, einen Stoßtrupp zur Residenz zu schicken. Was war solch ein Trupp im Vergleich zu den hundert Schlagetots, die an der Plaza ihre Stellungen errichtet hatten?

All dies ging Denaro durch den Kopf, als er im blassen Morgenlicht auf die Plaza schaute. Dort regte sich nichts. Es herrschte absolute Ruhe.

Auch die Soldaten hoben jetzt die Köpfe. Sie standen bei Denaro auf der Wehrmauer oder den Wehrtürmen, die Musketen im Anschlag. Ihre Mienen wurden verblüfft und verdutzt. Lauernd spähten sie durch die Schießscharten.

„Teniente“, sagte einer der Soldaten. „Da ist gähnende Leere.“

„Abwarten“, erwiderte Denaro. „Es könnte eine Falle sein.“

„Um uns herauszulocken?“

„Oder um ein Zielschießen auf uns zu veranstalten“, erwiderte der junge Teniente.

Rasch zog der Soldat den Kopf wieder ein. Die Aussicht, eine Kugel einzufangen, war alles andere als heiter. Aber – wenn die Kerle da draußen auf die Männer der Garde und der Miliz feuern wollten, mußten doch zumindest die Läufe ihrer Musketen und Tromblons zu sehen sein. Und die Drehbassen? Warum wurden die nicht mehr auf die Mauer der Residenz gerichtet?

„Señor Teniente“, sagte ein anderer Soldat, ein in Ehren ergrauter Sargento. „Da ist wirklich keiner der Hundesöhne mehr zu sehen. Ich glaube nicht, daß es ein Trick ist.“

„Das wird sich herausstellen“, meinte Denaro etwas unsicher.

„Die Bastarde haben es doch gar nicht nötig, uns etwas vorzugaukeln“, sagte der Sargento.

„Sie sind unberechenbar.“

„Sie wissen ohnehin, daß wir uns nicht mehr lange halten können“, erwiderte der Sargento.

„Vielleicht ist ihre Geduld am Ende.“

„Kaum“, sagte der Sargento. „Sie haben doch alles, was ihr Herz begehrt.“ Seine Miene wurde grimmig. „Reichlich zu futtern, jede Menge zu saufen und sogar Weiber. Was will der Mensch noch mehr? Je länger sich die Belagerung für sie hinzieht, desto besser. Es ist ein Riesenfest. Bastida läßt sich nicht lumpen.“

„Nun ja“, sagte Denaro. „Aber was ist Ihrer Meinung nach passiert, Sargento?“

„Ich weiß nur eines“, entgegnete der ältere Soldat. „Seit ein Uhr nachts ist nicht mehr geschossen worden. Keine einzige Kugel mehr gegen die Residenz. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“

„Oder es gehört zu ihrer neuesten Taktik“, meinte Denaro.

Der Sargento schüttelte den Kopf. „Auch das glaube ich nicht. Sie sind gestört worden.“

„Von wem?“ fragte der Teniente überrascht.

Der Sargento hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Das weiß der Himmel. Aber es ist etwas geschehen.“

Tatsache war, daß die Bewacher der Residenz nicht einen Mann der Belagerer entdeckten – so sehr sie auch die Augen aufsperrten und Ausschau hielten. Die Belagerer, die sich bisher hinter den Barrikaden und sonstigen provisorischen Verschanzungen verborgen hatten, schienen sich buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben.

„Sargento“, sagte Denaro. „Unterrichten Sie den Primer Teniente.“

„Sofort, Señor Teniente“, erwiderte der Sargento. Er salutierte und verschwand.

Wenig später kehrte der Sargento in Begleitung des Primer Teniente Echeverria zurück. Echeverria war der Stellvertreter des Kommandanten Marcelo, der ja wegen seiner Verletzungen nicht einsatzfähig war. Mit raschen Schritten hielt der Primer Teniente auf Denaro zu, verharrte neben ihm und sah durch eine Schießscharte auf die Plaza.

Echeverria preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Eine Weile beobachtete er, dann drehte er sich zu Denaro und dem Sargento um.

„Sollten die Kerle abgezogen sein?“ fragte er. Er schien jedoch Zweifel an seinen eigenen Worten zu haben.

„Oder es ist eine Falle“, sagte der junge Teniente.

Echeverria rieb sich nachdenklich das Kinn. Wie sollte er sich verhalten? Die Lage gab weder Anlaß zu Jubel noch zu übersteigerten Hoffnungen. Möglich war immerhin, daß die Belagerer die Eingeschlossenen zu einer Unvorsichtigkeit verleiten wollten – daß sie nur darauf warteten, die Verzweifelten zu überrumpeln. Wenn Echeverria jetzt beispielsweise das Residenztor in der Wehrmauer öffnete, um auf der Plaza nachzusehen, was wirklich los war, konnte es passieren, daß die Gegner aus Verstecken das Feuer auf die Soldaten eröffneten. Eine Entscheidung fiel Echeverria nicht leicht. Er war zur Untätigkeit verdammt – ihm waren die Hände gebunden.

In diesem Moment näherte sich vorsichtig ein Zivilist von der Innenseite der Wehrmauer. Langsam stieg er die Steintreppe hoch. Echeverria hätte fast aufgestöhnt. Don Alfonso Cortés y Menacha – der hatte ihm noch gefehlt!

Don Alfonso Cortés y Menacha hatte sich zum Sprecher und Führer der Bürger ernannt. Immer wieder wies er auf die Gefahr hin, in der die Zivilisten schwebten. Er erhielt regen Zuspruch von Bürgern wie Don Felipe Ravena und anderen Männern, die mehr an ihr privates Eigentum als an die Residenz und die Belange der Stadtgarde und der Miliz dachten.

Sie betrachteten die ganze Situation von einer völlig anderen Warte. Dieser Umstand hatte schon des öfteren zu Reibereien geführt, seit die Bürger und die Soldaten gezwungen waren, sich von der Residenz aus gegen die Belagerer zu verteidigen. Echeverria hatte auch seinem Vorgesetzten, Capitán Don Luis Marcelo, darüber Bericht erstattet, als dieser ihn zu sprechen verlangt hatte. Der Kommandant der Garde hatte erklärt, daß er diese Entwicklung geahnt hatte.

Tatsache war: Die Belagerten waren in zwei Parteien gespalten. Die eine Partei bestand aus Miliz und Stadtgarde unter der Führung des Primer Teniente Echeverria. Diese Partei hatte die persönliche Verteidigung der Residenz übernommen und war entschlossen, den Palast auch mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Übermacht der Feinde zu halten. Die Soldaten wußten nur zu genau, daß sie keine Gnade zu erwarten hatten. Daher waren sie entschlossen, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

Die andere Partei, das waren die Bürger der Stadt mit ihren Familien. Frauen und Kinder stellten das Hauptproblem in dieser prekären, bedrohlichen Lage dar. Ein Beschluß des Bürgerrats hatte bei Beginn der eigentlichen Unruhen in Havanna dazu geführt, daß die Familien aus ihren Wohnhäusern evakuiert worden waren. Auf diese Weise hatte man sie vor den Plünderern schützen wollen. Im Ansatz war dieser Gedanke richtig. Keiner hatte ahnen können, daß de Escobedo und Bastida, die Rädelsführer, mit aller Macht danach trachten würden, die Residenz zu erobern.

Dennoch erschien es inzwischen logisch: Alonzo de Escobedo hatte nur den einen Wunsch – wieder Gouverneur von Kuba zu werden. Seit er das Gefängnis verlassen hatte, war er darauf aus, Macht und Gewalt wieder an sich zu reißen. Seinerzeit war er der Nachfolger von Don Antonio de Quintanilla gewesen.

De Escobedo hatte sein Amt mißbraucht und sich unter anderem an der Bucht bei Batabanó an de Quintanillas geheimen Schatz bereichern wollen. Das hatte ihm praktisch das Genick gebrochen. Er war gefaßt und eingesperrt worden und wartete seither im Gefängnis auf seinen Prozeß. Inzwischen aber war auch de Campos, der kommissarische Gouverneur, nicht mehr am Leben, und das wiederum hatte zum Chaos geführt. Der Mob von Havanna hatte die Chance wahrgenommen. Terror und Gewalt regierten die Stunde.

Don Alfonso Cortés y Menacha blieb auf der drittobersten Steinstufe stehen und blickte aus kleinen, wäßrigen Augen zu den Soldaten.

„Echeverria“, sagte er etwas außer Atem. „Was geht hier vor?“

„Für Sie immer noch Señor Echeverria oder Primer Teniente“, erwiderte Echeverria kühl.

„Ja, schon gut. Señor Teniente, was ist hier los?“

„Werfen Sie doch mal einen Blick durch eine der Schießscharten“, forderte Echeverria den Mann spöttisch auf.

„Warum wird nicht mehr geschossen?“ fauchte Don Alfonso.

„Vielleicht ist den Gegnern die Munition ausgegangen.“

„Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren!“ stieß Don Alfonso zornbebend hervor. „Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?“

„Gehen Sie doch zu Capitán Marcelo“, sagte der Primer Teniente.

„Der will mich nicht empfangen“, sagte Don Alfonso wütend.

„Bedenken Sie, daß er schwer verletzt ist“, sagte der Sargento.

Don Alfonso warf dem älteren Soldaten einen schiefen Blick zu.

„Der Capitán will nicht mit mir reden“, sagte er. „Aber auch das wird noch seine Folgen haben. Ich lasse das nicht so durchgehen.“ Er war ein behäbiger, zum Fettansatz neigender Mensch – alles andere als ein Kämpfer, eher ein Hasenfuß. Ein Magistratsbeamter. Welche Heldentaten konnte man von dem schon erwarten?

Erbitterte Auseinandersetzungen hatte es zwischen Echeverria und Don Alfonso gegeben. Don Alfonso hätte, wäre es nach ihm gegangen, längst kapituliert. Sollte der Pöbel doch die Residenz besetzen – was kümmerte es ihn?

Die Hauptsache war, daß er mit heiler Haut davonkam. Strich man die Flagge, so dachte er, durfte man die Hoffnung hegen, zu überleben. Aber es war eine feige Hoffnung, und die Chancen, von den Galgenstricken und Lumpenkerlen verschont zu werden, waren gleich Null.

Echeverria hingegen lehnte als Offizier eine Kapitulation gegenüber den Strolchen und Mördern ab. Er wurde hierin von seinem Kommandanten voll unterstützt. Don Luis Marcelo war inzwischen endlich wieder bei Bewußtsein und nahm trotz der Proteste seines Arztes regen Anteil an dem Geschehen.

Immer wieder ließ der Capitán Echeverria zu sich rufen. Der Primer Teniente hatte ihm Bericht zu erstatten. Marcelo fällte daraufhin seine Entscheidungen. Sein Beschluß war immer wieder derselbe: durchhalten. Auf keinen Fall durften die Belagerer die Residenz besetzen.

Marcelo war zwar über den Berg, aber noch lange nicht gesund und ans Krankenbett gefesselt. Keinen Schritt vermochte der Kommandant zu tun. So konnte er nicht aktiv am Geschehen teilnehmen, sondern mußte seine Befehle vom Lager aus erteilen.

Don Alfonso Cortés y Menacha hatte insgeheim gehofft, daß Marcelo – den er unter anderem einen „versoffenen Hurenbock“ nannte – sozusagen über den Jordan gehen würde. Der Kommandant taugte in den Augen des Magistratsbeamten nicht viel. Ein anderer Mann an Marcelos Stelle wäre besser gewesen – vielleicht auch besser zu beeinflussen als dieses „sture Hund“, dem der Alkohol den Geist verblendet zu haben schien.

Laut Gesetz der Krone war Marcelo schließlich zur Zeit ranghöchster Offizier im Standort Havanna und damit kommissarischer Gouverneur – wenn kein anderer Mann von der Krone für dieses Amt bestimmt wurde und kein höherer Offizier – wie Generalkapitän de Campos, der gefallen war – für den Posten zur Verfügung stand.

Marcelo also war derzeit Gouverneur von Havanna und Kuba. Don Alfonsos Hoffnungen erwiesen sich als Illusionen. Marcelo hatte überlebt und befand sich auf dem Weg der langsamen, aber sicheren Besserung. Was Don Alfonso und den meisten anderen Bürgern nicht aufging: Marcelo hatte sich verändert.

Der Tod, den er so nah vor Augen gehabt hatte, hatte ihn stark beeinflußt, und auch die neue, verantwortungsvolle Aufgabe veränderte seinen Charakter. Gewiß, er war dem Wein und den Frauen verfallen. Aber in lichten Momenten war Marcelo eben doch ganz Soldat und Offizier.

Capitán Don Luis Marcelo fühlte sich jetzt gefordert. Im übrigen hatte er eine gleichsam mörderische Wut auf die Strolche und Galgenvögel, denen ein erheblicher Anteil Gardisten und Miliz zum Opfer gefallen war – ganz abgesehen von seiner eigenen Verwundung. Er wartete nur darauf, etwas gegen die Belagerer unternehmen zu können.

Echeverria ließ die Drohungen und Beschimpfungen des Don Alfonso Cortés y Menacha über sich ergehen. Dann suchte er seinen Kommandanten auf. Don Alfonso schlich indes zu einer der Schießscharten und vollbrachte die Heldentat auf die Plaza zu spähen.

„Da ist keiner mehr“, sagte er verdutzt. „Sie sind alle verschwunden.“

„Das haben wir auch schon festgestellt“, entgegnete der ältere Sargento ruhig. „Aber die große Frage ist, aus welchem Grund sich die Kerle zurückgezogen haben.“

Während der Magistratsbeamte die Zivilisten über die Neuigkeiten unterrichtete und mit ihnen darüber diskutierte, was wohl vorgefallen sein mochte, setzte Echeverria Don Luis Marcelo die neue Situation auseinander.

Zusammenfassend sagte er zum Schluß: „Alles deutet, vorbehaltlich einer möglichen Falle, darauf hin, daß die Strolche aus unbekannten Gründen die Belagerung aufgegeben haben.“

Marcelo überlegte nicht lange.

„Gut“, erwiderte er. „Wir werden herausfinden, warum das so ist. Schicken Sie sofort einen Stoßtrupp los. Er soll die Lage erkunden. Wählen Sie die Männer selbst aus.“

„Ich schlage den Teniente Denaro als Führer des Trupps vor, Capitán“, sagte Echeverria.

„Einverstanden“, entgegnete Marcelo. „Ein guter, gewissenhafter Mann. Auch ich halte ihn für geeignet, das Unternehmen zu führen. Wegtreten.“

Echeverria salutierte und verließ den Krankenraum. Sofort begab er sich wieder zu seinen Männern. Nach allem Dafürhalten war Marcelos Entscheidung richtig. Die Eingeschlossenen mußten wissen, was draußen vorging. Dies festzustellen, gab es nur einen Weg – nachschauen. Sollte der Stoßtrupp angegriffen werden, mußten die Soldaten hinter der Wehrmauer und auf den Wehrtürmen ihnen Feuerschutz geben, auch wenn dabei die letzten Kugeln und das letzte Pulver drauf gingen.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 507

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