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2.

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Unbehelligt schlich zur selben Stunde eine zerlumpte Gestalt durch die Stadt – Jussuf in der Verkleidung des gammligen Streuners José. Er hatte keine Beobachter zu fürchten. Der Mob war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Nur am Stadtgefängnis hatte Jussuf aufpassen müssen. Von dort aus wurde geschossen. Wer die Nase zu weit vorstreckte, kriegte eine Kugel verpaßt.

Cámpora, der Gefängnisdirektor, war eben ein knarscher Kerl. Wie hart und kompromißlos er durchgriff, hatte er gerade wieder bewiesen. Zwei Tote baumelten an der hohen Pinie, die vor dem Gefängnis ihre mächtigen Äste ausstreckte: Alonzo de Escobedo und Gonzalo Bastida. Die beiden Rädelsführer hatten ihre letzten Schandtaten vollbracht. Niemals hätten sie damit gerechnet, daß ihnen irgend jemand in den Rücken fiel. Das war ihr Fehler gewesen.

Jean Ribault und der Trupp des Bundes der Korsaren von den Schiffen „Isabella“, „Golden Hen“ und „Le Griffon“ hatten als erstes in der Hafenkaschemme aufgeräumt. Danach hatten sie sich de Escobedo geholt, der sein Hauptquartier an der Plaza der Residenz aufgeschlagen hatte. Schließlich hatten sie die beiden Kerle an Cámpora übergeben, der seinerseits nicht lange gefackelt hatte.

Cámpora hatte de Escobedo und Bastida nach dem Standrecht abgeurteilt. Tod durch Erhängen. Das Urteil war unverzüglich vollstreckt worden. Jetzt hingen die Kerle dort am Strick – als Abschreckung und Mahnung für alle, deren Weg am Gefängnis vorbeiführte.

Daß es de Escobedo und den Dicken erwischt hatte, mußte sich herumgesprochen haben. Die Gassen des Hafenviertels waren wie leergefegt. Rette sich, wer kann – die Ratten verließen das sinkende Schiff. Es war keiner mehr da, der sie führte und befehligte. So handelten sie wieder nach der alten Schnapphahndevise: zusammenraffen, was es zu raffen gibt, und abhauen.

Als Jussuf nach seiner Morgenrunde in die Faktorei zurückkehrte, war es heller Tag. Isabella servierte ihm ein heißes Getränk. Arne von Manteuffel und Jörgen Bruhn, die ein wenig geruht hatten, erschienen ebenfalls und ließen sich bei Jussuf am Tisch nieder.

„Na, du Nachtschwärmer“, sagte Arne lächelnd. „Nun erzähle mal.“

„Es scheint alles vorzüglich zu klappen“, begann Jussuf. „Überall herrscht Ruhe. Die Galgenstricke sind weg. Sie scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. Oder der Scheitan hat sie gefressen.“

„Schön wär’s“, sagte Jörgen. „Wie sieht es denn an der Plaza aus?“

„Nichts rührt sich.“

„Und die Leute in der Residenz?“ fragte Isabella.

„Die scheinen sich mit Entscheidungen sehr schwer zu tun“, erwiderte Jussuf seufzend. „Jedenfalls haben sie bis jetzt nichts unternommen. Na, was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Das meine ich auch“, sagte Arne. „Vielleicht ergreift ja auch José Cámpora, der Gefängnisdirektor, als erster die Initiative.“

Jussuf leerte schlürfend seine Tasse. Er verdrehte ein wenig die Augen und erklärte: „Es ist ein feiner Anblick, die beiden Halunken da hängen zu sehen. Ich finde, sie baumeln ganz hervorragend an der Pinie, und es dürfte sich empfehlen, sie noch eine ganze Weile dort hängen zu lassen.“

„Wie grausam du sprichst“, sagte Isabella.

„Ich habe meine Gründe dafür“, entgegnete Jussuf ernst. „Was diese beiden Kerle angerichtet haben, läßt sich mit Worten kaum beschreiben. Sie haben noch Glück gehabt, daß man sie gleich aufgehängt und nicht noch gepiesackt hat.“

„Wir haben jedenfalls unsere Pflicht und Schuldigkeit getan“, sagte Arne. „Den Rest überlassen wir jetzt unseren lieben Freunden, den Dons. Irgendwas werden sie sich schon einfallen lassen.“

„Was ist denn aus deinen neuen Freunden geworden?“ fragte Jörgen beiläufig.

„Ach“, erwiderte Jussuf. „Die sind weg.“

„Die beiden Diebe und die beiden Mädchen?“ erkundigte sich Isabella.

„Richtig“, sagte Jussuf. „Sie haben ja von Anfang an vorgehabt, Havanna den Rücken zu kehren. Cuchillo hatte sie gezwungen, zu bleiben. Aber an den Gewalttaten sind sie nicht beteiligt gewesen, das kann ich bezeugen. Osvaldo und El Sordo sind ehrliche Diebe. Juanita hat Haare auf den Zähnen, aber im Grunde ihres Herzens ist sie auch kein schlechter Mensch. Und diese Maria, das Mädchen – na, sie ist natürlich froh, daß sie ihrem Dienstherrn Don Felipe entwischt ist.“

„Don Felipe wer?“ fragte Isabella.

„Don Felipe Ravena.“

„Ein wohlhabender Kaufmann“, sagte Arne. „Sein Haus steht am Rand der Stadt.“

„So ist es“, versetzte Jussuf grimmig. „Und dort hatte er das arme Kind in eine Art Käfig im Keller gesperrt.“

„Warum denn?“ stieß Isabella entsetzt hervor.

„Sie wollte ihm nicht zu Willen sein“, entgegnete Jussuf. Er räusperte sich verlegen. „Mehr kann ich darüber nicht sagen.“

„Da gibt’s nichts zu vertuschen“, sagte Jörgen. „Wir haben schon begriffen. Don Felipe wollte sich an dem Mädchen vergreifen. Dagegen hat sie sich gewehrt. Zur Belohnung hat er sie gepeinigt.“

„So ist die Welt“, sagte Jussuf düster. „Grausam und herzlos. Aber Allah wird dafür sorgen, daß dieser Lumpenhund seine gerechte Strafe empfängt. Er ist jetzt in der Residenz. Ich wünsche ihm, daß er über einen Stein stolpert und sich auf dem Pflaster das Genick bricht.“

„Von der Sorte gibt es viele“, sagte Jörgen.

„Eben“, sagte Isabella aufgebracht. „Sie haben keine Achtung vor dem weiblichen Geschlecht. Sie würden unsereins am liebsten wie Sklavinnen halten.“

„Es müßte so manches geändert werden in Havanna“, sagte Arne. „Aber warten wir ab, wie sich die Lage jetzt entwickelt. Von José Cámpora werden wir sicherlich noch hören. Vielleicht auch von Marcelo, der ja kommissarischer Gouverneur ist.“

„Es soll ihm wieder etwas besser gehen“, erklärte Jussuf.

„Gut, dann gibt es wenigstens jemanden, der die Soldaten befehligt“, sagte Arne.

„Aber Marcelo ist ein Trunkenbold“, gab Jörgen zu bedenken.

Arne lächelte. „Ich nehme mit Sicherheit an, daß er zur Zeit nüchtern ist. Das wird seine Entscheidungen wesentlich beeinflussen. Und laßt euch nicht zu Vorurteilen verleiten. Vielleicht haben wir von diesem Mann doch Positives zu erwarten.“

„Möglich ist alles“, sagte Jussuf. „Aber die Hauptsache ist, daß wieder Frieden einkehrt.“

Diese Hoffnung hegten alle – auch die Männer der vier Schiffe des Bundes der Korsaren. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, Jean Ribault, Edmond Bayeux und Old Donegal Daniel O’Flynn waren mit der „Isabella IX“, der „Golden Hen“, der „Le Griffon II.“ und der „Empress of Sea II.“ noch in der Nacht aus Havanna verschwunden. Niemand sollte die Schiffe sehen – sie hätten Anlaß zu Verdachtsmomenten verschiedener Art geben können.

Immerhin war die „Isabella“ ein zu auffallendes Schiff, und die „Le Griffon II.“ war einmal unter dem Namen „Chubasco“ gesegelt und in Fort St. Augustine stationiert gewesen. Der Seewolf hatte es vorgezogen, mit dem kleinen Verband eine Bucht westlich von Havanna anzusteuern, die man von früheren Unternehmungen her noch kannte.

Dort lagen die Segler jetzt vor Anker. Erst, wenn Arne seinem Vetter die Nachricht überbrachte, daß sich in Havanna alles normalisiert hatte, konnten die Schiffe zum Stützpunkt des Bundes auf Great Abaco zurückkehren.

So gab es sowohl für die vier Bewohner der Faktorei als auch für die Männer an Bord der Schiffe vorläufig nur das eine zu tun. Sie mußten ausharren und abwarten, was der Tag an Ereignissen brachte.

Osvaldo und El Sordo, die beiden „ehrlichen“ Diebe, führten das von ihnen in Havanna requirierte Fortbewegungsmittel eigenhändig durch den Dschungel südlich der Stadt. Auf dem Bock des zweirädrigen Karrens saßen Juanita, die Schwarzhaarige, und das Mädchen Maria. Maria hielt die Zügel in der Hand. Der Karren quietschte und knarrte etwas. Burrito, das Maultier, gab schnaubende Protestlaute von sich.

Schon nach der ersten Meile auf dem Weg nach Süden hatte Burrito gestreikt. Der Anblick der grünen Blätterwand schien ihm nicht zu gefallen. Er war einfach stehengeblieben, wie es sich für ein ordentliches Grautier gehörte. Nichts hatte ihn zum Weitergehen bewegen können, weder Flüche noch Tritte noch Peitschenhiebe.

Gewalt war im Falle eines Dickschädels wie Burrito sowieso nicht angebracht. Maria hatte dem Vierbeiner gut zugeredet. Das half ein bißchen. Zögernd trottete Burrito dem Urwald entgegen. Schließlich hielt er wieder an.

Maria redete mit Engelszungen auf ihn ein, Juanita versprach ihm die herrlichsten Leckerbissen. Osvaldo und El Sordo, der Taubstumme, zerrten ein wenig am Geschirr – und weiter ging’s. So folgten sie dem Verlauf eines Pfades, der tief durch den Regenwald führte.

Juanita begann zu schimpfen. „Also, wenn es in diesem Zuckeltempo weitergeht, sind wir in einem Monat noch nicht in Batabanó. Oder wir kommen nie an.“

„Du mußt mehr Geduld mit Burrito haben“, sagte Maria. „Er ist ein guter Bursche, aber er mag nicht, wenn man ihn anschreit oder beschimpft.“

„Ein störrisches Biest“, sagte die Hure verächtlich. „Sollen wir ihm vielleicht auch noch Zucker zu fressen geben?“

„Ja, ein Pferd wäre besser gewesen“, brummte Osvaldo.

El Sordo, der seinem Kumpan wie üblich die Worte von den Lippen ablas, nickte zustimmend. Mit Burrito hatten sie keinen sonderlich guten Griff getan.

Maria war anderer Meinung.

„Ihr seid nicht gerecht“, sagte sie. „Burrito ist genügsam. Er frißt lange nicht so viel wie ein Pferd.“

„Er bringt uns aber um den Verstand“, sagte die Schwarzhaarige. „Hast du Lust, die Reise auf diese Weise fortzusetzen? Himmel, wir sind ja langsamer als eine Schnecke.“

Maria erwiderte: „Im Dschungel geht’s nun mal nicht schneller.“

„Da magst du auch wieder recht haben.“

Juanita hatte kaum ausgesprochen, da blieb das Maultier wie vom Donner gerührt stehen. Es stemmte die Läufe in den weichen Untergrund, hob den Kopf, fletschte die Zähne und gab einen wilden, häßlichen Laut von sich.

El Sordo bekreuzigte sich. Es war eine Geste der Verzweiflung. Osvaldo griff zur Peitsche. Doch Maria sprang vom Bock auf und hob die Hand.

„Nicht!“ rief sie. „Laß das!“

Burrito warf den Kopf nach rechts. Seine Augen blickten tückisch, die Oberlippe stülpte sich auf und legte die Zähne frei. Gleichzeitig stieß er ein langgezogenes „Iiiaahhh“ aus.

Juanita begriff – trotz aller Wut auf das Tier – instinktiv, daß Gefahr drohte.

„Achtung!“ zischte sie und zückte blitzschnell ihren Dolch.

Osvaldo und der Taubstumme konnten gerade noch ihre Waffen herausreißen. Dann raschelte es im Dickicht, und vier Kerle sprangen aus der Deckung des dichten Mangrovengestrüpps. Sie fuchtelten mit ihren Messern und stürzten sich fluchend auf das Quartett.

„Haut ab!“ schrie Osvaldo. „Wir sind auf der Flucht – wie ihr!“

Daß es sich bei den Kerlen um Plünderer handelte, die aus Havanna geflohen waren, erkannte er sofort. Zwar wußte er nicht, wie die Kerle hießen, aber er hatte sie in den vergangenen Tagen flüchtig gesehen – in Bastidas Kaschemme am Hafen.

„Rückt eure Talerchen raus!“ brüllte einer der Angreifer, ein Riese mit einem mächtigen schwarzen Vollbart.

„Wir haben nichts!“ rief Osvaldo.

„Wir sind arme Schlucker!“ stieß Maria hervor.

Aber die Wegelagerer lachten nur. Zwei griffen Osvaldo und El Sordo an, einer versuchte, Juanita vom Bock zu reißen. Der vierte kletterte auf die Ladefläche des Karrens.

Osvaldo zog dem Schwarzbart sofort die Peitsche quer übers Gesicht. Der Kerl wich heulend zurück. El Sordo duckte sich und entging einem gefährlichen Messerstich des zweiten Angreifers. Dann konterte er, und der Gegner stürzte mit blutendem Arm zu Boden.

Juanita trat dem Kerl, der sie grölend an den Beinen zu packen versuchte, gegen die Brust. Mit verdutzter Miene stolperte der Kerl rückwärts. Er ruderte mit den Armen.

„Du Miststück!“ brüllte er.

Maria warf sich todesmutig dem Kerl entgegen, der auf die Ladefläche gestiegen war. Sie wollte ihn hinunterstoßen, aber der Mann griff nach ihr und schleuderte sie vom Wagen auf den Pfad.

„Verdammter Lümmel!“ wetterte er. Da Maria wie ein Junge gekleidet war, kam er nicht auf den Gedanken, sie für ein Mädchen zu halten.

Juanita bemerkte mit einem Seitenblick, was hinten geschehen war. Ihre Hand bewegte sich zuckend – und plötzlich hatte der Kerl, der auf der Ladefläche stand, den Dolch im Hals stecken. Er hob die Hände, wankte. Dann ließ er ein schwaches Röcheln ertönen und brach zusammen.

Der Schwarzbart wollte erneut zur Aktion übergehen. Aber er hatte Burrito nicht beachtet. Plötzlich biß der Vierbeiner zu. Der Kerl stieß einen schrillen Laut aus. Burrito hatte nach seinem Bein geschnappt. Seine Zähne waren wie Eisenzangen.

Juanita zog eine Muskete unter dem Kutschbock hervor, spannte den Hahn und legte auf den Kerl an, der sie zu überwältigen getrachtet hatte.

„Osvaldo!“ schrie die Schwarzhaarige. „Knallt sie ab, die Hunde!“

Es war ein Trick. Das Quartett verfügte nur über die eine Muskete. Osvaldo hatte sie durch einen Zufall im Haus des Don Felipe gefunden, als sie das Geheimversteck ausgeräumt hatten. Weitere Schußwaffen hatten sie nicht. Doch Juanitas Ruf wirkte Wunder. Plötzlich kriegten es die Angreifer mit der Angst zu tun.

„Weg!“ brüllte der Schwarzbart. „Wir verduften!“

Er humpelte davon. Sein Kumpan, der von El Sordo am Arm verletzt worden war, rappelte sich auf und eilte ihm nach. Der dritte Kerl, der genau in die Mündung der Muskete blickte, nahm ebenfalls voll Panik Reißaus.

Maria richtete sich erst in diesem Moment wieder vom Pfad auf. Sie hatte sich den Kopf gestoßen und war benommen. Ihr Hemd hatte sich geöffnet. Der Schwarzbart rannte genau auf sie zu und starrte sie verdutzt an. Dann begriff er. Er fluchte, packte das Mädchen und riß es mit sich fort.

„Hilfe!“ schrie Maria. „Hilfe!“

Wie ein Spuk verschwanden die Plünderer im Gestrüpp. Juanita zögerte keinen Augenblick. Sie sprang vom Bock.

„Hinterher!“ rief sie. „Sie haben Maria gefangengenommen!“

„Hölle!“ stieß Osvaldo aus. „Maria hat nicht mal ein Messer.“

„Wir müssen sie befreien!“ rief Juanita. Schon nahm sie die Verfolgung der Wegelagerer auf.

Osvaldo gab seinem Freund ein Zeichen. El Sordo verstand. Er mußte beim Gespann bleiben und aufpassen, daß die Gegner nicht doch zurückkehrten, um sich den Wein, den Schnaps und das Geld zu holen, die auf der Ladefläche verstaut waren. Grimmig nahm El Sordo sich vor, die Ladung notfalls mit den Zähnen zu verteidigen.

El Sordo grinste dem Maultier zu. Fein hast du das gemacht, dachte er. Du bist ja doch ein feiner Kerl. Wenn du nicht gewesen wärst, hätten wir die Kerle nicht rechtzeitig bemerkt.

Doch die Freude über Burritos großartigen Einsatz wurde durch Marias Verschwinden getrübt. Wenn Osvaldo und Juanita das Mädchen nicht befreiten, sah es übel für die Kleine aus. El Sordo kratzte sich verzweifelt am Kopf. Er betete zum Himmel, daß seine Begleiter es schafften, Maria wiederzuholen.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 507

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