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Die Luftwurzeln von Mangroven können tückische Fallen sein. Jean Ribault und auch der Spanier Carlos Rivero wußten das, und doch übersah Carlos eins der knorrigen Gebilde. Es war völlig unter schweren, lappigen Blättern und Lianen verborgen. Er stolperte darüber und fiel.

Jean konnte nicht schnell genug abstoppen. Er strauchelte über Carlos’ Beine und stürzte ebenfalls. Sie überrollten sich auf dem morastigen Untergrund, gerieten sich gegenseitig ins Gehege und stießen leise Verwünschungen aus. Laut durften sie nicht fluchen. Der Feind saß ihnen dicht im Nacken.

Wieder hörten sie die Rufe von Morrison, dem Anführer der Siedlungswachen von El Triunfo an der Küste von Honduras: „Beeilt euch! Packt sie! Sie dürfen uns nicht entwischen!“

Hinkle, der schwerhörige Engländer, der obendrein nicht sonderlich gut sehen konnte, und die fünf anderen Verfolger drangen unter Morrisons Kommando mit verschwitzten Gesichtern in das vor Feuchtigkeit dampfende Gestrüpp ein. Die Gefangenen waren entwischt, eben waren sie im Dickicht untergetaucht. Doch Morrisons Leute kannten sich in diesem verfilzten Dschungel besser aus als jeder andere. Jeder verborgene Pfad, jede noch so winzige Lichtung war ihnen bekannt, und sie fanden sich auch im Dunkeln zurecht.

Jean Ribault stellte genau diese Überlegungen an. Es war Tag, und die leichten Schwaden Morgennebel, die in der beginnenden Hitze aufstiegen, boten auch keine Deckung. Morrisons Truppe würde keine großen Schwierigkeiten haben, die beiden vermeintlichen Spione wieder einzufangen. Die Chancen, daß die Flucht doch noch gelang, waren ziemlich gering.

Dabei hatte alles vielversprechend begonnen: mit dem Messer, das Emile Boussac Jean zugesteckt hatte, mit dem tollkühnen, blitzschnellen Handstreich an Bord der Pinasse, bei dem Hinkle und die beiden anderen Bewacher ins Wasser der Bucht geflogen waren. Ribault und Carlos Rivero hätten mit Morrisons Schaluppe davonsegeln und Kurs auf das Versteck der „Le Vengeur III.“ nehmen können, aber genau das wollte Ribault vermeiden.

Denn wenn der Feind wußte, wo die „Le Vengeur III.“ ankerte, war alles verloren. Nicht schnell genug konnten Siri-Tong, Barba, Jenkins und die anderen Kameraden an Bord ankerauf gehen und die verborgene Flußmündung verlassen. Einem Angreifer, der sich von der Seeseite her näherte, waren sie ausgeliefert.

Darum hatte Ribault es vorgezogen, die Verfolger abzulenken. Und wenn er selbst dabei draufging – die „Vengeur“ durfte nicht entdeckt und aufgebracht werden! Mit verbissener Miene rappelte er sich wieder auf. Carlos war ebenfalls auf den Beinen, geduckt setzten sie ihre Flucht fort.

Aber die Stimmen der Gegner ertönten immer dichter hinter ihren Rücken. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann waren sie umzingelt und mußten sich ergeben. Ribault bedeutete dem Spanier durch Handzeichen, was er zu tun gedachte, und Carlos begriff.

Sie hielten nach einem passenden Versteck Ausschau und fanden es – ein dichtes Bärlappgestrüpp, unter das sie krochen und sich verbargen. Von dort spähten sie in die Richtung, aus der der Feind anrückte und jeden Moment aus dem Dickicht auftauchen mußte.

Angriff ist die beste Verteidigung, sagte sich Ribault grimmig. Er wußte, was er riskierte, aber er dachte nicht länger darüber nach. Daß Carlos an seiner Seite blieb und keine Fragen stellte, war ihm hoch anzurechnen. Es bewies, daß der Spanier nicht nur eine gehörige Portion Schneid und Courage hatte, sondern auch an seinen Prinzipien von Kameradschaft und Verbundenheit festhielt. Ribault und die Männer der „Vengeur III.“ hatten ihn gerettet, sie waren seine Freunde. Für Ribault hätte er sich den Kopf abschlagen lassen.

So waren die Ereignisse vor der Insel Gran Cayman für Carlos Rivero zu einem einschneidenden Erlebnis in seinem Dasein geworden. Die Black Queen hatte ihn an einen Felsen binden lassen, sein Schicksal war bereits besiegelt gewesen. Im letzten Augenblick waren aber Jean Ribault und dessen Männer aufgetaucht.

Längst hatte Carlos dem alten Pakt mit den Meuterern von der spanischen Kriegs-Galeone „Aguila“ abgeschworen. Die blutrünstigen Ziele, die sich Jaime Cerrana und die anderen gesetzt hatten, waren nicht seine Sache. Die Meuterer hatten sich mit der Black Queen und Caligula verbündet – er, Carlos, kämpfte mit Jean Ribault gegen sie.

Die Lage hatte sich zugespitzt. Die Queen war in El Triunfo, das von spanischen Galeonen aus Cartagena angegriffen werden sollte. Irgendwo mußten die „Caribian Queen“ und die „Aguila“ ankern, und die Queen war mit dem Bürgermeister Willem Tomdijk dorthin unterwegs.

Tomdijk war dieser Freibeuterin bereitwillig ins Netz gegangen. Sie brauchte Männer, viele Männer, eine entschlossene und wehrhafte Gefolgschaft, denn nur so konnte sie die Oberhand in der Karibik gewinnen und den Seewolf besiegen. Dies schwebte ihr vor, und sie tat alles, um das zu verwirklichen.

Wenn Morrison und seine Leute Ribault und den Spanier auslieferten, war es um die beiden geschehen. Die Black Queen würde nichts unversucht lassen, sie zu töten. Sie haßte sie, wie sie alle Männer und Frauen der Schlangen-Insel haßte, von Philip Hasard Killigrew bis zu Arkana.

Ribault griff nach Carlos Riveros Arm. Da, jetzt waren sie ihnen ganz nahe! Es raschelte und prasselte im Dickicht. Zum Greifen nah stürzte ein Mann an ihrem Versteck vorbei. Es war Morrison, aber er schien sie nicht entdeckt zu haben. Mit einem Fluch hastete er weiter.

Noch ein Verfolger arbeitete sich an den beiden Männern vorbei, die reglos und ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben, dakauerten. Carlos hätte nur den rechten Fuß ein wenig auszustrecken brauchen, und der Kerl wäre darüber gestolpert.

Aber noch hielt Ribault seinen Gefährten zurück. Der richtige Augenblick für sie kam, als der dritte Gegner erschien. Es war Hinkle, der Schwerhörige. Immer noch benommen und leicht verwirrt von dem unfreiwilligen Bad in der Hafenbucht, taumelte er mitten zwischen Ribault und den Spanier.

Ribault sprang auf, seine rechte Faust zuckte hoch. Hinkle hörte die Geräusche vor sich erst, als es zu spät war, und auch seine Reaktion auf die gedankenschnelle Bewegung des Franzosen erfolgte zu spät. Die Faust traf seine Kinnlade, er flog ein Stück zurück und fiel auf den Rücken, dann schwanden ihm die Sinne. Reglos blieb er liegen.

Es war ein verhängnisvoller Morgen für Hinkle, er sollte ihn nicht mehr vergessen. Ribault war über ihm und nahm ihm den Säbel und das Messer ab, die er bei sich trug. Die Pistole ließ er ihm – die war ohnehin ungefährlich, denn die Pulverladung war durch das Seewasser unbrauchbar geworden.

Schon tauchte die nächste Gestalt auf, wieder ein klatschnasser Mann, der sich als der entpuppte, dem Carlos Rivero den Ellenbogen in den Magen gerammt hatte. Carlos war in diesem Moment neben Ribault und warf sich auf den Angreifer, als dieser einen Wutschrei ausstoßen wollte.

Sie gingen gemeinsam zu Boden und verklammerten sich ineinander. Ribault wollte dem Kerl mit dem Knauf des erbeuteten Messers einen Hieb verpassen, aber der Spanier gewann die Oberhand und schickte den Gegner mit einem gezielten Hieb ins Reich der Träume.

„Hinkle, bist du das?“ ertönte höchstens zwei, drei Yards von ihnen entfernt im Busch eine dunkle Männerstimme. Kein Zweifel, das war der dritte Mann aus der Pinasse, der Mann vom Bug, den Ribault mit einem Bootsriemen niedergeschlagen hatte. Wo sich die anderen Verfolger jetzt befanden, ließ sich nicht ermitteln, aber nach Ribaults Schätzungen waren sie alle wie Morrison bereits ein Stück vorausgeeilt.

Lautlos und sehr schnell nahm Carlos dem bewußtlosen Gegner die Waffen ab und huschte zu Ribault, der ihm durch Zeichen bedeutete, sich wieder zu ducken. Der dritte Gegner tauchte aus dem Dunkelgrün der Büsche auf. Plötzlich blieb er stehen und riß seinen Säbel hoch. Er hatte Ribaults Gesicht zwischen den Blättern entdeckt und auf Anhieb wiedererkannt.

„Hier sind sie!“ brüllte er. „Hierher!“ Dann stürzte er sich auf Jean Ribault und ließ den Säbel auf dessen Kopf niedersausen.

Ribault handelte geistesgegenwärtig. Er warf sich zur Seite, rollte sich ab und sprang mit dem kampfbereiten Beutesäbel in der Rechten wieder auf. Der Hieb des Gegners ging ins Leere, die Klinge zerschnitt ein paar Blätter und fuhr in den Dschungelboden.

Carlos sprang mit einem Satz hinter den Verfolger und schlug ihm den Korb seines Säbels auf den Hinterkopf. Der Mann brach zusammen, ohne auch einen Laut von sich zu geben. Carlos’ Verhalten war völlig richtig: Sie durften sich auf keine Säbelduelle einlassen. Schon verrieten die Stimmen von Morrison und seinen Leuten, daß sie sich umgedreht hatten und zu ihnen zurückkehrten.

Nach wie vor hatte es keinen Sinn, die Flucht fortzusetzen. Zu dicht saßen ihnen die Verfolger auf den Fersen. Im übrigen mußte der Schrei des einen Mannes auch die anderen Wachen alarmiert haben, die rund um El Triunfo verteilt waren.

Scheinheilig und hinterlistig hatte die Black Queen Willem Tomdijk vor etwaigen spanischen Spionen gewarnt, die in El Triunfo eindringen könnten, um die Lage auszukundschaften. Tomdijk hatte daraufhin sämtliche Wachtposten verstärkt, und prompt waren Ribault und Rivero in einen Hinterhalt geraten.

Jetzt aber drehten sie den Spieß um. Wieder tauchten sie im Dickicht unter. Der nächste Mann, der in ihre Falle lief, war Morrison.

„Clark!“ schrie Morrison. „Hast du sie?“

„Ja“, erwiderte Ribault, indem er Clarks Stimme täuschend echt nachahmte.

Clark, der Mann, der Ribault den Schädel hatte spalten wollen, lag nach wie vor völlig regungslos und in tiefer Ohnmacht am Boden, ebenso Hinkle und der dritte Gegner. Von dem, was um sie herum vorging, bemerkten sie in ihrem Zustand nichts mehr.

Morrison stürmte auf den Platz zu, an dem Clarks Stimme soeben ertönt war. Er hielt seinen Säbel in der rechten Faust, in der linken hatte er eine schußbereite Muskete. Plötzlich sah er links vor sich, nur einen Yard entfernt, eine Gestalt aus dem Dickicht hochschnellen, gleich darauf rechts von sich eine zweite. Er fluchte, riß beide Waffen hoch und begriff, daß er einem Trick erlegen war, aber das nutzte ihm nichts mehr.

Carlos Rivero ließ seinen erbeuteten Säbel durch die Luft pfeifen. Morrison duckte sich und wich aus. Jean Ribault war mit einem Satz bei ihm, packte tollkühn die Muskete und riß ihn zu sich heran. Morrison verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Fast stürzte er auf seinen Säbel und verletzte sich, nur im letzten Augenblick konnte er sich herumwälzen und dem Unheil entgehen.

Ribaults Faust entging er nicht. Die sauste auf ihn nieder und schickte ihn mit einem schmetternden Hieb in tiefe Bewußtlosigkeit. Ribault beugte sich über ihn, nahm ihm die Waffen ab und war im nächsten Moment wieder im Gestrüpp verschwunden.

Carlos zerrte Morrison an den Beinen tiefer ins Dickicht – und schon war der nächste Gegner heran. Er stoppte und blickte sich verwirrt um.

„Morrison?“ fragte er. „Clark?“

„Hier“, sagte Carlos Rivero aus dem Gebüsch heraus.

Der Mann rückte näher auf ihn zu und hielt die Muskete schußbereit. Irgend etwas schien ihm nicht zu gefallen. Schöpfte er Verdacht? Er beugte sich über das Gesträuch, in dem Carlos sich verborgen hielt.

„He!“ sagte er und wollte wohl auch noch etwas hinzufügen, kam aber nicht mehr dazu.

Jean Ribault hatte sich angepirscht und hieb mit dem Kolben von Morrisons Muskete zu. Mit einem Ächzer sank auch dieser Gegner zu Boden.

Ribault und der Spanier warteten auf weitere Gegner, aber sie vernahmen nur das Trampeln von Schritten und das Rascheln des Gestrüpps ein Stück rechts von sich. Die beiden anderen Verfolger liefen höchstens zwei, drei Yards entfernt an ihnen vorbei. Sie hatten nur leicht die Orientierung verloren, aber das genügte bereits: Sie stießen weder auf Morrison, Clark, Hinkle und die anderen Kerle noch auf die beiden entflohenen Gefangenen. Im Grunde war es ihr Glück, denn so ersparten sie sich schmerzende Kopfnüsse. Ribault und der Spanier hätten in der Tat keine großen Schwierigkeiten gehabt, auch diese Gegner außer Gefecht zu setzen. Sie hatten das Überraschungsmoment nach wie vor auf ihrer Seite.

Die Männer von Morrisons Trupp langten am Ufer der Bucht an und hasteten zu der Pinasse und der Schaluppe. Inzwischen war ein drittes Boot eingetroffen, das mit sechs Siedlern bemannt war. In geringem Abstand zum Ufer dümpelte es im Wasser.

Der Bootsführer rief den beiden Männern am Strand zu: „Was ist hier los? Wo steckt Morrison?“

„Die beiden spanischen Spione sind geflohen“, entgegnete der eine Mann. „Wir suchen sie. Habt ihr Morrison und unsere Leute nicht gesehen?“

„Nein.“

„Sie müssen noch im Busch sein.“ Der zweite Posten am Strand drehte sich zum Urwald um, seine Miene war argwöhnisch. „He, Morrison!“ schrie er, aber niemand antwortete ihm. „Da stimmt was nicht“, sagte er. „Was ist passiert?“

Das Boot legte an, die Insassen sprangen an Land. Acht Männer stürmten ins Dickicht und hielten überall nach den Verschwundenen Ausschau. Die Antwort auf die Frage, wo Morrison, Clark, Hinkle und die beiden anderen Kerle waren, erhielten sie bald. Als ersten fanden sie Hinkle, der sich verwirrt und blinzelnd aufrichtete, dann entdeckten sie auch die anderen.

Doch die Frage, wo die beiden „Spione“ steckten, blieb ungeklärt. Ribault und Rivero waren längst verschwunden und schlichen wieder durch den Busch, bemüht, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen.

„Wohin?“ zischte der Spanier.

„Zurück zur Siedlung“, raunte Ribault ihm zu. „Wir müssen versuchen, doch noch etwas zu erreichen. Es hat keinen Sinn, zur ‚Vengeur‘ zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin würden die Kerle uns so oder so schnappen.“

„Ja“, pflichtete Rivero ihm bei. „Da lauern mehr Posten als anderswo. Keiner rechnet damit, daß wir so verrückt sind, wieder in El Triunfo zu erscheinen. Dann also los! Aber Siri-Tong wird sich um uns sorgen.“

„Nicht, solange keine Schüsse fallen“, flüsterte Ribault. „Sie wird annehmen, daß uns nichts geschehen ist. Sie ahnt nichts von dem, was vorgefallen ist.“

„Das ist beim jetzigen Stand der Dinge auch nur gut so“, murmelte Carlos Rivero mit grimmiger Miene.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 360

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