Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 359 - Roy Palmer - Страница 5

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Die Nacht hatte sich über die Küste von Honduras und die ihr vorgelagerten Islas de la Bahia gesenkt. Nur hin und wieder riß die Wolkendecke auf, und schmale Streifen fahlen Mondlichts erhellten schwach die weißen Sandstrände.

Die Gestalt des Mannes, der auf einem Hügel der Insel Roatán stand, verschmolz mit der Dunkelheit. Nur sein Kopf bewegte sich, unablässig ließ er den Blick über die tintenschwarze See wandern. Schon vor einer Stunde hatte er aufgehört, sich des Spektivs zu bedienen. Im Büchsenlicht war es unmöglich geworden, durch das Rohr Einzelheiten an der Kimm zu erkennen.

Die Geduld des Mannes, der Viles hieß, wurde auf eine harte Probe gestellt. Erfolglos hatte er den ganzen Nachmittag über Ausschau gehalten. Auch seine Kumpane, die sich bei der Wache auf der Hügelkuppe in sechsstündigem Turnus ablösten, hatten seit Tagen nichts entdeckt. Kein Schiff näherte sich – nichts. Die Nervosität wuchs, der Aufenthalt auf Roatán schien sinnlos zu sein.

Plötzlich aber erstarrte Viles, seine Augen wurden schmal. Er fixierte einen winzigen Lichtpunkt an der östlichen Kimm, der kaum wahrzunehmen war. Dann erspähte er einen zweiten Punkt, der sich nicht sehr weit von dem ersten befand. Er murmelte „Parbleu!“ und beugte sich vor, als könne er aus dieser Haltung heraus mehr Details erkennen.

Gut ein Dutzend Atemzüge lang verharrte er so, dann geriet Bewegung in seine Gestalt. Er wandte sich ab und folgte dem Verlauf des Pfades, der durch den Busch ins Innere der Insel führte. Immer schneller wurden seine Schritte, er lief und konnte es jetzt kaum noch erwarten, seinem Anführer die Meldung zu erstatten.

Licht schimmerte zwischen den Mangroven und Sumpfzypressen, auf einer Lichtung brannte ein niedriges Lagerfeuer, das von der See aus nicht zu erkennen war. Viles eilte zu den Gestalten, die sich im Kreis um die züngelnden Flammen geschart hatten. Sie hörten das Rascheln im Dickicht und die dumpfen Laute seiner Schritte auf dem morastigen Untergrund, fuhren zu ihm herum und griffen in einer instinktiven Bewegung zu den Waffen.

Georges Buisson, der Anführer, riß seine Pistole aus dem Waffengurt und war bereits im Begriff, den Hahn zu spannen, da erkannte er den Mann.

„Viles“, sagte er. „Der Teufel soll dich holen. Hast du die Parole vergessen?“

„Zur Hölle mit der Parole!“ stieß Viles erregt hervor. „Hör zu, Buisson. Zwei Schiffe nähern sich, ihr Kurs scheint genau auf die Inseln gerichtet zu sein!“

Buisson sprang auf. „Du hast ihre Laternen gesehen?“

„Ja. Ich weiß nicht, welche Laternen sie führen, und habe keine Ahnung, wie groß die Schiffe sind oder welcher Herkunft sie sein könnten, aber ich versichere, sie sind nicht mehr als fünf, sechs Meilen von uns entfernt.“

Buisson steckte die Pistole wieder weg. Ein siegessicheres Grinsen glitt über sein Gesicht. Er war breitschultrig und bullig gebaut, mittelgroß und von unbändiger Energie und Tatendrang erfüllt. Kurz waren seine dunklen Haare, bartlos sein kantiges, ausdrucksstarkes Gesicht. Er war ein harter Kämpfer und verfolgte todesmutig jedes Ziel, das er sich setzte. Er trug ein dunkelgraues Hemd und schwarze Hosen, war in der Dunkelheit also kaum zu erkennen.

So auch Viles und die sechs anderen Männer, aus denen die Meute bestand: Alle hatten dunkle Kleidung an, und ihre Pistolen, Musketen, Schiffshauer und Entermesser gaben Auskunft über die Absichten, die sie im Schilde führten.

Schnapphähne waren sie, Glücksritter und Küstenhaie, die auf vorbeisegelnde Schiffe lauerten. El Triunfo an der Küste von Honduras war ihr eigentlicher Sitz, aber sie hatten sich die Islas de la Bahia als vorgeschobenen Stützpunkt und Operationsbasis ausgesucht.

Buissons Entschluß stand fest. Er wollte die fremden Schiffe überfallen, ganz gleich, wie groß sie waren und über wie viele Mann Besatzung und Kanonen sie verfügten. Seit Wochen hatten die Männer nichts mehr erbeutet, kein Kampf hatte im Golf von Honduras stattgefunden. Das Leben in El Triunfo und auf den Inseln schien in platten, eintönigen Bahnen zu verlaufen.

„Tretet das Feuer aus“, sagte Buisson. „Beeilt euch. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Die Flammen erstickten, die Glut erlosch. Die Männer griffen zu ihren Waffen und den Pulverhörnern, jeder Handgriff saß. Buisson setzte sich an die Spitze seines kleinen, aber wehrhaften Trupps, Viles folgte ihm, die sechs anderen schlossen sich ihnen an.

Ihr Weg führte durch den Inseldschungel zu einer kleinen, langgestreckten Bucht am nordöstlichen Ufer. Sie stach wie ein dürrer Finger in den Urwald. Die Luftwurzeln der Mangroven, die sich wie unheimliche Skelette ins Wasser schoben, sowie die geringe Wassertiefe gestatteten es keinem Schiff, die Einfahrt zu passieren und hier vor Anker zu gehen.

Selbst für eine Schaluppe schien die Bucht noch zu eng und zu flach zu sein, doch der Schein täuschte: Buissons einmastige Pinasse lag hier vertäut. Es war ein ideales Versteck für das Fahrzeug, selbst bei hellem Tageslicht waren weder die Bucht noch die Pinasse von der See aus zu entdecken. Nur Eingeweihte wußten von der versteckten Bucht, doch außer den Schnapphähnen existierte niemand, der das Geheimnis kannte. Eingeborene oder rivalisierende Piratenbanden gab es auf den Islas de la Bahia nicht.

Buisson kletterte an Bord der Pinasse, seine Begleiter folgten ihm. Sie gingen schnell und lautlos vor, ohne sich verständigen zu müssen. Jede Bewegung war eingeübt. Schon flogen die Bootsleinen los. Die Männer griffen nach den Riemen, legten sie in die Rundsein und tauchten die Blätter ein. Fast elegant wirkte die Pinasse, als sie durch die Bucht glitt, den dichten Mangrovenvorhang passierte und in See ging.

Schwül war die Nacht, auch die Dunkelheit vermochte die Hitze des Tages nicht zu schlucken. Honduras gehörte wie die Karibik zum Bereich der tropischen Regenklimate. Hier war es ständig heiß, ein jahreszeitlicher, Wechsel trat kaum in Erscheinung.

Buisson hielt pausenlos nach den nahenden Schiffen Ausschau. Bald entdeckte er sie. Es war, wie Viles gesagt hatte: Sie segelten von Ostnordost auf, der Schimmer ihrer Bordlaternen schob sich unaufhaltsam näher heran. Zunächst liefen sie vor dem aus Nordosten einfallenden handigen Wind, dann schienen sie etwas abzufallen und auf Kurs Südwest zu gehen.

„Ausgezeichnet“, zischte Buisson. „Sie gehen uns genau in die Falle und sind höchstens noch drei, dreieinhalb Meilen entfernt. Sie ahnen nichts von dem, was sie erwartet.“

„Was mag ihr Ziel sein?“ fragte einer der Männer hinter Buissons Rücken. Buisson kauerte im Bug der Pinasse und hielt seinen Blick auf die Schiffe gerichtet.

„Vielleicht El Triunfo“, erwiderte Buisson leise. „Vielleicht planen sie einen Überfall auf unsere Siedlung, wer weiß. Möglicherweise sind sie sogar Spanier.“

„Das wäre mir nur recht“, sagte Viles mit verkniffenem Gesicht. „Je mehr ich von den Dons vor die Klinge bekomme, desto lieber ist es mir.“

„Ja. Wir werden siegen“, murmelte ein anderer Mann.

„Gott steh uns bei“, sagte der Mann neben ihm auf der Ducht.

„Beidrehen jetzt“, sagte Buisson. „Wir warten ab, bis sie auf eine halbe Meile heran sind, dann gehen wir auf Parallelkurs. Alles klar soweit?“

„Alles klar“, brummten die Männer.

Keiner von ihnen wußte, ob er den nächsten Tag noch erleben würde.

Die Angriffstaktik, deren Georges Buisson sich bediente, war ebenso simpel wie wirkungsvoll. Auch auf Hispaniola und anderswo in der Karibik wurde sie von Freibeutern angewendet. Je kleiner die dabei benutzten Schiffe waren, desto besser war es.

Klein, wendig und schnell war die Pinasse von Georges Buisson, so schnell, daß sie bei einem Überfall in den meisten Fällen unbemerkt unter den ausgerannten Geschützen einer Galeone herangleiten und längsseits gehen konnte. Bei nächtlichen Unternehmungen waren die Kanonen des Gegners oftmals gar nicht ausgerannt, keiner bemerkte die Piraten, und wenn die Deckswache endlich Alarm schlug, war es meist zu spät.

Dann befand sich die Pinasse längst in Enterposition, und kein Schuß zur wirksamen Verteidigung konnte vom Gegner abgegeben werden. Während er die Handfeuerwaffen holte, enterten Buisson und die Meute an Bord, und ein wildes Handgemenge, Auge um Auge, Zahn um Zahn, entbrannte.

Die Methode hatte sich bewährt. Die Pinasse führte an ihrem Mast lediglich ein Lateinersegel, das von der Fläche her jedoch erstaunlich groß war. Die Pinasse war sehr wendig und hatte ausgezeichnete Am-Wind-Eigenschaften. Um aber noch schneller zu sein, benutzten die Männer zusätzlich die Riemen, so auch in dieser Nacht. Als die Schiffe nah genug heran waren, ging Buisson auf Kurs und jagte mit hoher Geschwindigkeit in Lee auf sie zu.

Es handelte sich um zwei Dreimastgaleonen, wie sich beim näheren Heranpirschen herausstellte. Buisson beobachtete sie aus scharfen Augen. Noch hatten die Deckswachen nichts bemerkt, und auf beiden Schiffen schien der Ausguck zu schlafen.

Die Galeonen segelten in schräg versetzter Dwarslinie. Die erste, die im spitzen Winkel auf die Pinasse zuschnitt, war ein Zweidecker, wie Buisson registrierte, bei der anderen imponierte in erster Linie die Größe, die er auf über vierhundert Tonnen schätzte.

Hervorragend armiert waren die beiden Galeonen, aber die Geschütze nutzten ihnen nichts bei der Art von Kampf, wie die Freibeuter ihn der Besatzung aufzuzwingen gedachten. Das Überraschungsmoment würde ein Weiteres tun. Buisson hatte es auf seiner Seite. So gesehen, hatte er einige Chancen, daß ihm der Coup gelang, auch wenn sein Plan ein Wahnsinnsunternehmen zu sein schien.

Die Hecklaternen der Galeonen verbreiteten dämmriggelbes Licht, Einzelheiten ihrer Aufbauten und ihrer Takelung waren zu erkennen. Doch sie führten beide keine Flagge, und es gab auch sonst nichts, was auf ihre Nationalität hinwies. Nur bei der zweiten Galeone war sich Buisson fast sicher, daß es sich – der Bauweise nach – um einen spanischen Kriegssegler handeln mußte.

Nun, er gedachte den Zweidecker zu überfallen. Gelang es ihm, die Mannschaft zu überrumpeln und den Kapitän gefangenzunehmen, dann würde er die Besatzung des zweiten Schiffes ganz einfach erpressen, falls diese das Feuer eröffnen wollte. Durch Geiselnahme konnte man viel erreichen. Auch das wußte Georges Buisson. Er hatte viele Schiffe geentert und kannte sich in allen Taktiken aus.

Die Pinasse glitt auf den Zweidecker zu, die Distanz schrumpfte rasch zusammen. Fast auf gleicher Höhe befanden sich die ungleichen Schiffe. Die Pinasse wirkte neben dem wuchtigen, drohend aussehenden Dreimaster wie ein kleiner Pfeilhecht neben einem Wal.

Buisson gab seinen Kerlen ein Zeichen, und sie brachten den Einmaster noch näher an die Galeone heran. Nichts schien sich drüben zu regen, fast war es, als würde das Schiff von Geisterhand manövriert.

Jetzt ging die Pinasse längsseits, und geschickt lenkten die Männer sie unter den Bug der Galeone. Enterhaken krallten sich an dem schweren Stockanker, an der Ankertrosse und an der Galionsfigur fest. Ein Klirren und ein dumpfer Laut ertönten – und dann war plötzlich der Teufel los.

An Bord der Galeone klang ein schriller Pfiff auf. Jemand fluchte, dann polterten Schritte über die Planken, und ein Mann schrie: „Alarm! An die Waffen! Überfall!“

Auch auf der zweiten Galeone wurde es jetzt lebendig. Rufe hallten von Schiff zu Schiff. Doch nichts konnte Georges Buisson aufhalten. Er sprang als erster von der Pinasse auf die Galionsplattform des Zweideckers, kletterte mit katzenhafter Gewandtheit zur Back hinauf und warf sich den ersten Kerlen entgegen, die ihn erblickten und mit Säbeln angriffen.

Viles und die sechs anderen Freibeuter folgten ihrem Anführer. Als erstes feuerten sie ihre Pistolen ab. Scharf knallten die Schüsse, feurige Lanzen stachen zur Back der Galeone hinauf. Zwei Besatzungsmitglieder brachen mit ersticktem Gurgeln zusammen, einer fiel Buisson vor die Füße.

Buisson hieb mit seinem Entermesser zwei Widersacher nieder, dann drang er zur Kuhl vor. Doch dort wimmelte es von Gestalten, und plötzlich erwiderten die Überfallenen das Pistolenfeuer. Es krachte an mehreren Stellen des Hauptdecks, und im Aufblitzen der Mündungsfeuer vernahm Buisson auch schon das Heransirren der Kugeln. Er duckte sich. Heiß strichen sie über ihn hinweg. Dann stöhnte hinter seinem Rücken jemand auf.

Viles – er war getroffen. Buisson gewahrte nur durch einen raschen Blick über die Schulter, wie er blutüberströmt zusammensank. Buisson schwang sich über die Querbalustrade der Back und landete mitten zwischen den Gegnern auf der Kuhl. Hier ließ er sein Entermesser kreuz und quer durch die Luft pfeifen und trieb eine Bresche in die Masse von Leibern, die ihn umringte. Sie quittierten es mit wütendem Geheul und droschen mit den Blankwaffen auf ihn ein. Die Pistolen konnten sie jetzt nicht benutzen, sie hätten sich gegenseitig gefährdet.

Doch Buisson war unglaublich schnell. Schon war er am Großmast, fegte einen Gegner zu Boden und arbeitete sich weiter nach achtern – zum Achterdeck; dort lag sein Ziel, dort würde er den Kapitän überwältigen und als Geisel nehmen. Der Kampf hatte begonnen, er mußte zu Ende geführt werden.

Buisson wußte nicht mehr, wie es seinen anderen Kumpanen erging. Sie waren hinter ihm in heftige Kämpfe Mann gegen Mann verwickelt. Er konnte sich nicht um sie kümmern. Jeder mußte selbst zusehen, wie er zurechtkam. Er, Buisson, mußte den Kapitän des Schiffes schnappen, sonst war alles verloren. Das Überraschungsmoment war verspielt, der Gegner hatte doch nicht geschlafen, wie er anfangs angenommen hatte. Jetzt gab es nur noch diese eine Chance, gegen die Übermacht zu bestehen.

Trotz der Dunkelheit hatte Buisson erkannt, daß die gesamte Besatzung dieses Schiffes aus dunkelhäutigen Männern bestand, aus Negern, Mulatten, Kreolen und Mestizen. Kein einziger Weißer befand sich an Bord.

Er hob den Blick und gewahrte plötzlich die Gestalt, die an der Schmuckbalustrade des Achterdecks stand. Eine Frau! Eine Schwarze, deren bloße Brüste und muskulöse Arme wie Ebenholz im Mondlicht und dem Schein der Hecklaterne schimmerten! War sie der Kapitän? Unmöglich – Buisson glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.

Nur für einen Atemzug war Buisson abgelenkt, doch er vertat dadurch seine Chance, den Backbordniedergang zum Achterdeck zu erreichen. Ein Bulle von Kerl versperrte ihm den Weg – ein riesiger Schwarzer, ein säbelschwingender Hüne, der drohend und wüst mit den Augen rollte.

Buisson riß das Entermesser hoch. Die Klinge flog gegen den Säbel, es klirrte, und der schwarze Riese stieß einen grollenden Laut aus.

In diesem Moment ertönte auch die Stimme der schwarzen Frau auf dem Achterdeck: „Caligula – töte ihn!“

„Ja, Queen!“ brüllte der Riese. „Keine Angst, er entwischt mir nicht!“

Buisson hörte die Schreie seiner sterbenden Kumpane hinter seinem Rücken, und die Erkenntnis durchzuckte ihn siedendheiß: Er hatte diesen Gegner total unterschätzt. Er hatte es mit Piraten aufgenommen, die noch brutaler und skrupelloser vorgingen als er selbst. Aber zur Umkehr war es zu spät, er konnte nicht einmal mehr in die See springen. Der Schwarze drang mit dem Säbel auf ihn ein. Buisson kämpfte um sein Leben.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 359

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