Читать книгу Bomba in einem fremden Land - Roy Rockwood - Страница 4

1 In einem Großstadt-Dschungel

Оглавление

Der Geschäftsführer in dem großen Fifth-Avenue-Hotel trat unwillkürlich einen Schritt zur Seite, als ein junger Mann in guter Kleidung, aber von unverkennbar indianischer Abstammung in dem eigentümlich federnden Laufschritt der Dschungelbewohner auf ihn zu kam und an ihm vorbei die Treppe zum ersten Stockwerk emporeilte.

„Wie ein Amokläufer“, murmelte der Geschäftsführer stirnrunzelnd und strich mit einer nervösen Geste über die Seidenrevers seines Smokings.

Inzwischen hatte der ‚Amokläufer‘ den langen Gang des ersten Stockwerkes erreicht und eilte auf dem weichen Teppich weiter. Zuerst war es für Gibo, den jungen Indianer aus dem Amazonas-Dschungel, sehr schwer gewesen, aus der verwirrenden Fülle von Türen jene herauszufinden, die zu dem von Bomba und ihm bewohnten Appartement in dem vornehmen Hotel führte. Aber Bombas Eltern, die auf den inständigen Wunsch ihres Sohnes hin dessen getreuen Dschungelgefährten Gibo mit nach New York genommen hatten, waren auch bereit gewesen, die Erziehung des jungen Indianers zu übernehmen. So war aus dem Urwaldbewohner vom Stamme der Araos ein modisch gekleideter junger Mann geworden, der einigermaßen gut Englisch schreiben und lesen konnte und auch die Grundbegriffe des Rechnens beherrschte.

Zielbewusst stürmte Gibo jetzt auf Zimmer Nr. 80 zu, riss die Tür auf und stürzte hinein.

„Stell dir vor, Herr!“ rief er mit allen Zeichen freudiger Erregung. „Ich habe einen Dschungel gefunden! Es gibt einen Dschungel mit wilden Tieren in New York! Soll ich ihn dir zeigen?“

Bomba wandte sich schnell vom Fenster ab und lächelte ungläubig.

„Was hast du jetzt wieder gesehen, Gibo?“, fragte er mit gutmütigem Spott. „Neulich hast du mir erzählen wollen, die Untergrundbahn sei eine Riesenschlange mit Feueraugen, die durch eine Höhle kriecht und dabei ein schreckliches Geräusch macht. Weißt du das noch?“

„Damals war ich noch sehr dumm“, sagte Gibo kleinlaut. „Du darfst nicht vergessen, Herr, für mich war das alles ganz neu.“

„Und für mich etwa nicht?“, fragte Bomba zurück.

„Du bist ein Herr“, murmelte Gibo mit jener Ehrfurcht, die er seinem jungen Gebieter gegenüber auch in der neuen Umgebung nicht abgelegt hatte. „Du weißt alles und du findest dich überall zurecht. Aber ich habe viel lernen müssen, und das Neue hat mich sehr verwirrt.“

„Das merke ich“, sagte Bomba mit einem Anflug von Trauer in der Stimme. „Sonst würdest du wissen, dass der Dschungel weit, weit fort von hier ist.“

Er trat ans Fenster zurück und blickte mit einem Ausdruck von Sehnsucht hinaus. Es war ein verwirrender und prächtiger Anblick da draußen. Eine bleiche, violette Dämmerung hatte den Himmel überzogen, und die Wolkenkratzer begannen wie Feenpaläste zu flimmern und zu erstrahlen. Das Farbenspiel der bunten Lichtreklamen flammte an den Häuserwänden auf, und in den Straßenschluchten glitten die lackschimmernden Wagen in unablässiger Kette dahin. So verlockend und farbenreich dieses Bild auch war, Bomba schien jenseits der Steinpaläste und tiefen Straßenschluchten ein anderes Bild zu sehen.

„Hier gibt es keinen Dschungel“, wiederholte Bomba leise. „Hier nicht. Hier gibt es nur Stein und Stahl und Lärm und Licht.“

„Aber es ist doch wahr“, beharrte Gibo. „Es gibt hier einen Dschungel mit dichten Büschen und vielen Bäumen. Und in der Nacht brennen dort nicht so viele glitzernde Lichter wie hier, sondern es ist dunkel wie im Urwald.“

„Und wo soll dieser Dschungel sein?“, fragte Bomba.

„Nicht weit von hier, Herr. Wir können in wenigen Minuten den Ort erreichen.“

Der Ausdruck von Sehnsucht in Bombas Blick verstärkte sich. Gibo erkannte sehr wohl die Bedeutung dieses Schimmers in Bombas Augen, und er wusste, dass seine Mitteilung ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.

„Es gibt dort auch wilde Tiere“, fuhr er mit seinen verlockenden Erklärungen fort. „Wilde Tiere und Schlangen, und ein Tier, das ich noch nie gesehen habe: ein graues, riesenhaftes Untier mit zwei Schwänzen —“

„Mit zwei Schwänzen?“, unterbrach Bomba ihn ungläubig.

„Glaube mir, Bomba: es hatte zwei Schwänze — an jedem Körperende einen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

Bomba war schon halbwegs umgestimmt. Noch zögerte er, aber Gibo beeilte sich, den errungenen Vorteil weiter auszunützen.

„Komm, Herr!“, drängte er. „Dein Herz sehnt sich ebenso sehr nach dem Dschungel wie meines. Komm mit mir, solange es dunkel ist. Ich werde dir den Dschungel zeigen, und dann kannst du selbst die großen Schlangen, die Alligatoren und das Tier mit den zwei Schwänzen sehen. Alles wird wieder so sein wie vor dem Tag, an dem dein Vater in den Dschungel kam und uns hierhergebracht hat. Wir werden wieder auf das weiche Gras treten und uns durch die Büsche zwängen. Du kannst dich wieder von Baum zu Baum schwingen und zu den Sternen aufschauen. Dann wird dein Herz Frieden finden, Herr. Komm mit mir!“

Ehe Gibo noch zu Ende gesprochen hatte, war die Entscheidung in Bombas Innerem bereits gefallen. Die Neugierde war schon stark genug, aber die Möglichkeit, für kurze Zeit wieder jenes wilde Leben zu führen, das er bis vor wenigen Monaten im Dschungel geführt hatte, war noch verlockender. Das Verlangen nach der Freiheit und Abenteuerlichkeit seines Urwaldlebens wurde immer stärker in seinem Herzen. Er sehnte sich nach den Kämpfen mit Raubtieren und Schlangen — nach jenen gefährlichen Zweikämpfen, die seinen Mut, seine Geschicklichkeit und Kraft so entwickelt hatten, dass er zum Herrn des Dschungels geworden war.

Aus dem Urwalde, seiner eigentlichen Heimat, hatten ihn die Eltern zuerst in eine große Stadt an der Küste Südamerikas gebracht, und dann waren sie mit ihm und seinem Gefährten Gibo nach New York gereist. Äußerlich betrachtet, besaß er hier alles, was das Herz eines durchschnittlichen Jungen sich nur wünschen konnte. Seine Eltern waren sehr wohlhabend und scheuten keine Kosten, wenn es galt, ihm einen Wunsch zu erfüllen und ihn glücklich zu machen. Sie hatten die besten Erzieher genommen, um Bomba mit den Wundern jenes neuen Lebens vertraut zu machen, in das er nach so vielen Jahren ungebundenen Dschungeldaseins plötzlich versetzt worden war.

Zuerst war alles neu und wunderbar für ihn gewesen. Er hatte die großen Städte bewundert, die riesigen Gebäude, die Eisenbahnzüge, die großen Schiffe, die Flugzeuge und Autos. Die technischen Wunder des elektrischen Lichtes, des Telefons, des Radios und Grammophons hatten ihn eine Weile lang begeistert und entzückt, und er hatte die neuen Eindrücke gierig in sich aufgesogen. Da er eine gute Auffassungsgabe hatte, war es ihm leichtgefallen, alles schnell zu begreifen und jene Wissenslücken zu füllen, die die Jahre im Dschungel bei ihm hinterlassen hatten. Aber so bewundernswert und köstlich zuerst alles gewesen war — allmählich war Bomba mit neuen Eindrücken übersättigt, und die Zivilisation begann ihn wie eine Zwangsjacke einzuengen. Körper, Geist und Seele wurden gleichermaßen in Fesseln geschlagen, und das Verlangen, diese Fesseln zu durchbrechen, wurde natürlicherweise immer stärker.

„Ich werde mit dir gehen und mir deinen Dschungel zeigen lassen“, sagte Bomba, der trotz seiner Hoffnung noch nicht ganz überzeugt war.

„Ja, Herr! Gehen wir gleich!“, rief Gibo froh. „Und am besten nehmen wir auch die Sachen mit, die wir im Dschungel immer getragen haben, und die Waffen, mit denen wir vertraut sind. Dann wird es uns Vorkommen, als hätten wir die Fahrt über das große Wasser nur geträumt und wären wieder in der Nähe unseres Arao-Dorfes.“

„Ja, nimm die Sachen mit, und wenn wir diesen Dschungel erreicht haben, dann legen wir dieses Zeug hier ab.“ Er wies mit einer verächtlichen Gebärde auf die Kleidung, die er und sein Gefährte trugen.

Nach wenigen Minuten schlüpften die beiden durch einen Seitenausgang des Hotels unbemerkt ins Freie. Sie mieden die breiten, hell erleuchteten Straßen und eilten schnell in der Richtung des Bronx-Parks dahin.

In seiner Unschuld hatte Gibo diese Parkfläche für einen Urwald gehalten. Zufälligerweise war er zu einer Zeit dorthin gekommen, zu der kaum ein Besucher anzutreffen gewesen war. Das hatte den Eindruck verstärkt, dass es sich um ein weites, unbesiedeltes Dschungelgebiet handelte. Und wenn Gibo überhaupt daran gezweifelt hatte, im Dschungel zu sein, dann waren diese Zweifel zerstreut worden, als er auf die große Sammlung von Raubtieren, Vögeln und Reptilien gestoßen war, die den New Yorker Zoologischen Garten zu einem der schönsten seiner Art in ganz Amerika machte. Viele der Tiere, die er dort sah, kannte er aus seinen heimischen Jagdgründen. Er hatte mit ihnen gekämpft, und sein Körper war noch mit den Narben jener Wunden bedeckt, die ihm die Krallen und Fänge der Bestien zugefügt hatten.

Die beiden eilten in dem mühelos wirkenden Wolfstrab dahin, in dem sie Meile um Meile in erstaunlicher Schnelligkeit zurücklegen konnten. Von den Passanten wurden sie kaum beachtet. In diesem Teil der Stadt, der nicht weit von der Columbia-Universität entfernt war, geschah es oft, dass Studenten durch die Straßen liefen, um für irgendein Sportfest zu trainieren.

Inzwischen hatte sich leichter Nebel über die Stadt gesenkt, und allmählich ging dieser feuchte Nebel in dünnen Regen über. Die Straßen leerten sich, und im fahlen Licht der Straßenlaternen wirkten die vorbeihuschenden Gestalten nur noch wie flüchtige Schatten.

Als Bomba und Gibo den Park erreichten, waren sie fast allein. Der Regen hatte die Besucher vertrieben. In der Nähe des Botanischen Gartens war der ‚Dschungel“ am dichtesten, und dorthin eilten Bomba und Gibo jetzt. Das Herz des Dschungelboys schlug schneller, als er um sich blickte: Bäume, Büsche, Blumen, Gras!

Das war tatsächlich ein Dschungel! Wenn er auch nicht mit dem dichten und üppig wuchernden Urwaldgebiet am Amazonas verglichen werden konnte — das war doch immerhin etwas anderes als die von Menschenhand geschaffene Stadt aus Stein und Glas und Stahl! Die Füße sanken in weichen Boden, und Bombas Nasenflügel bebten, als er den Duft der Pflanzen und Blüten einsog, der durch die Feuchtigkeit noch kräftiger geworden war.

„Rasch, Gibo!“ rief der Junge froh, als er in einem Gebüsch die städtische Kleidung abstreifte und sein Dschungelgewand anlegte.

Blitzschnell war der Wandel vollzogen — und was für ein Wandel das war! Der Sohn des berühmten Malers Andrew Bartow und der ebenfalls berühmten Opernsängerin Laura Bartow war verschwunden, und an seiner Stelle stand Bomba, der Dschungelboy, in einem New Yorker Park.

Abgesehen von einem kurzen Lendenschurz um Hüften und Oberschenkel und Sandalen aus geflochtenem Hartgras, bestand seine Kleidung lediglich noch aus einer Pumahaut, die schräg über die Brust gespannt und mit Bändern am Rücken befestigt war. Ein Bogen hing über der Schulter des Jungen, und in dem Köcher an seiner Hüfte staken griffbereit die Pfeile. An der anderen Seite des Gürtels stak die Machete, das zweischneidige Buschmesser von nahezu einem Fuß Länge mit der rasiermesser-scharfen Klinge.

Mit einer fast zärtlichen Geste strich Bomba über die Bogensehne und den Griff der Machete. Es war ein tröstliches Gefühl, diese vertrauten Waffen, die ihm so oft das Leben gerettet hatten, wieder bei sich zu haben.

Das war das wirkliche Leben! Bomba zog berauscht die Luft ein und blickte sich erwartungsvoll um. Witternd hob er die Nase, denn das Dschungelleben hatte seinen Geruchssinn unglaublich verfeinert. Aber keine feindliche Witterung stieg ihm in die Nase. Keine glühenden Augen spähten durch die Büsche. Keine verstohlenen Schritte glitten durch das Unterholz.

„Wo sind die Tiere, von denen du gesprochen hast?“, fragte Bomba. „Nur zwei Pfeilschüsse von hier entfernt“, erwiderte Gibo, der sich ebenfalls in jenen Dschungelbewohner zurückverwandelt hatte, der er bis vor einer Reihe von Monaten gewesen war. Er trug etwa die gleiche Kleidung wie Bomba, nur fehlte bei ihm das Pumafell.

„Ich möchte vor allen Dingen das Tier mit den zwei Schwänzen sehen, von dem du gesprochen hast“, flüsterte der Junge, als sie weiterglitten.

„Du wirst es gleich sehen, Herr“, versprach Gibo. „Es ist ein riesiges Tier, und seine Haut ist so zäh und dick wie die der heiligen Alligatoren der Abaragos.“

„Ist es größer als Polu, der Puma?“, fragte Bomba.

„Es ist größer als viele Pumas zusammen“, erwiderte der Indianer. „Seine Füße sind dick wie Baumstämme, und es hat lange, gebogene Stoßzähne, deren Spitzen so scharf wie Speere sind.“

Keiner der beiden hatte bisher etwas von einem zoologischen Garten gehört. Vielleicht hatten Bombas Eltern absichtlich vermieden, den Jungen dorthin zu führen, um seine Sehnsucht nach dem Dschungelleben nicht wieder zu erwecken. So kam es, dass sie jetzt in aller Unwissenheit den Zoologischen Garten der Stadt New York betraten, ohne sich über dessen Bedeutung im Klaren zu sein.

Inzwischen war aus dem Nieselregen ein leichter Wolkenbruch geworden. Nur noch die Wärter waren da, und auch sie hatten irgendwo Unterschlupf gesucht, nachdem sie ihre Schützlinge gefüttert und versorgt hatten.

Für die beiden Abenteurer hatte der Regen freilich nichts zu bedeuten. Selbst wenn ein sintflutartiger Regen herabgerauscht wäre, hätten sie sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen. Sie näherten sich bereits dem Raubtiergehege, und Bomba hielt plötzlich inne.

„Horch!“, flüsterte er, indem er unwillkürlich die leise Sprechweise des Dschungels annahm.

Aus dem Affenhause drang ein Durcheinander von schnatternden Stimmen, und das Gesicht des Jungen erhellte sich. Er war immer ein Freund des Affenvolkes gewesen, und er musste jetzt an Doto denken, den guten alten Doto, der vielleicht gerade auf einem Baum in der Nähe des Arao-Dorfes saß und traurig nach Bomba Ausschau hielt. Mehr als einmal hatte der Affe das Leben des Dschungelboys gerettet, indem er ihn in seiner Gebärdensprache vor Feinden gewarnt hatte, die im Hinterhalt lauerten.

Gibo schien die Gefühle seines Herrn zu ahnen. Nach einer Weile erst berührte er ihn vorsichtig am Arm.

„Du wolltest das Tier mit den zwei Schwänzen und den Stoßzähnen sehen“, flüsterte er.

„Ja, komm“, murmelte Bomba. „Ich habe jetzt keine Zeit, mich um die Affen zu kümmern.“

Lautlos glitten sie weiter, bis sie das Reptilienhaus erreichten. Sie schlichen näher heran und spähten durch die Glasfenster. Ein Teich war dort zu sehen, der an die Sumpflöcher im Dschungel erinnerte. Tropische Pflanzen mit großen Blättern und riesige Farne wuchsen am Rand, und mehrere Krokodile schwammen träge darin herum oder lagen, reglos wie Baumstämme, am Ufer.

Wieder berührte Gibo seinen Gefährten am Arm und sie eilten weiter. Eine Minute später bogen sie um eine Ecke und standen plötzlich dem großen Freigehege vor dem Elefantenhause gegenüber. Bomba konnte den breiten Graben nicht sehen, der dazwischen lag. Er sah nur den riesigen grauen Körper, der langsam auf ihn zukam und sich dabei schaukelnd von Seite zu Seite bewegte.

„Er greift an!“, rief Bomba und griff unwillkürlich nach Pfeil und Bogen. „Ziele auch auf ihn!“, zischte er erregt seinem Gefährten zu. „Und wenn wir ihn nicht ins Auge treffen, dann müssen wir uns zurückziehen und es noch einmal versuchen.“

In diesem Augenblick waren die Monate vergessen, die hinter Bomba lagen — vergessen waren die Erziehung und die Zähmung durch das Großstadtleben. Bomba fühlte sich wieder als ein Dschungelwesen, das von einem anderen Dschungelwesen angegriffen wurde und sein Leben verteidigen musste. Und er handelte danach.

Bomba in einem fremden Land

Подняться наверх