Читать книгу JÄRNGÅRD - Ruben Philipp Wickenhäuser - Страница 4
Netz im Wald
ОглавлениеEs war das Haus, das sie sich gewünscht hatten. Rot gestrichen, mit weißen Fensterrahmen, Traufen und Ortgängen, genau so, wie sich jeder ein schwedisches Haus vorstellte. Schon der Weg hierher war wunderschön gewesen: Von der Landstraße zweigte eine Schotterpiste ab und schlängelte sich durch einen Wald voll lichter Birkenhaine, plätschernder Waldbächlein und sich im Sonnenlicht wiegender Rispengräser auf Lichtungen, auf denen einfach ein Elch stehen musste. Felsbrocken mit von Eisen rötlich schimmernden Flanken lagen dort, und es wäre gar nicht verwunderlich gewesen, Gnome und Elfen zwischen ihnen herumtollen zu sehen. Und mittendrin in diesem Traumland, ihr Haus.
Rainer hatte als Erstes seinen Computer angeschlossen, um den Internetanschluss auszuprobieren.
»Schon erstaunlich«, rief er seiner Frau Annalisa zu, die im Erdgeschoss ein Regal aufbaute. »Wir sitzen hier mitten im Wald und sind doch vom Rest der Welt nur einen Mausklick weit entfernt. Noch dazu schneller als in mancher deutschen Kleinstadt.«
»Komm mir nicht auf die Idee, dich einzumauern!«, warnte Annalisa lachend. »Du sitzt mitten in einer Landschaft, von der andere nur träumen können! Da musst du schon auch mal weg vom Schreibtisch.«
Er hörte ihr rabiates Hämmern heraufschallen und lächelte. Am liebsten hätte er sofort mit der Aktivierung seines Börsenhandelssystems begonnen, aber das Haus forderte seine Aufmerksamkeit. Wenigstens in der ersten Woche ihres Einzugs.
»Kannst du mir bitte helfen?«, rief Annalisa. Er schaltete den Rechner ab und ging die knarzenden Stufen des alten Holzhauses hinunter. Seine Frau zog gerade eine Inbusschraube an einem Regal fest.
»Holst du bitte die Kiste mit den DVDs aus dem Keller?«
»Gern!«
Der Keller bestand aus drei Räumen. Die Umzugskartons stapelten sich im hinteren Raum, der nahe der Außentreppe lag. Im Vorbeigehen warf Rainer einen Blick durch die angelehnte Tür des ersten Raumes und sah darin eine große Holztruhe stehen.
Merkwürdig, dachte er, an die kann ich mich gar nicht mehr erinnern.
Er ging hinein. Die Truhe bestand aus grob bearbeitetem Holz; das verrostete Schloss stand offen. Neugierig hob Rainer den Deckel an. Im Halbdunkel konnte er den Inhalt kaum erkennen. Es war wie ein dunkles, struppiges Fell … und darunter war etwas Helles …
Der Schädel eines Elches grinste ihn aus der Truhe heraus an, Haarfetzen an den bleichen Knochen, die Augenhöhlen schwarze Tümpel. Ein Schwall Fäulnisgestank stieg auf. Mit einem Schrei fuhr Rainer zurück, sodass der Deckel wieder zufiel.
Als er sich einigermaßen von dem Schrecken erholt hatte, nahm er eine Taschenlampe und hob den Deckel vorsichtig wieder an.
Seine Fantasie musste ihm einen Streich gespielt haben. Was er für einen Elchschädel gehalten hatte, waren eine mottenzerfressene Wolldecke und eine Plastikflasche. Erleichtert holte er die Kiste mit den DVDs.
»Hast du gerade geschrien? Du bist ja immer noch ganz verstört. Was war denn los?«, fragte Annalisa, als er die Kiste hochbrachte.
Rainer schüttelte nur den Kopf. »Nichts, nichts.«
Als er in dieser ersten Nacht in ihrem neuen Haus einschlafen wollte, da ließ ihn das Bild des Elchschädels nicht los. Er war sich vollkommen sicher, ihn in der Truhe gesehen zu haben.
Am nächsten Morgen hieß das kristallklare skandinavische Sonnenlicht sie willkommen. Annalisa hatte bereits den Tisch auf der Terrasse gedeckt, Brötchen und Marmelade hingestellt und las in einem dicken Buch. Kaffeeduft erfüllte das Haus.
»Ach, diese Unterwerfung ist streckenweise echt vulgär!«
Sie lachte und legte das Buch beiseite, während Rainer sich setzte.
»Aber jetzt gibt’s Wichtigeres. Wir müssen die Einkäufe bündeln. Die nächste Stadt ist zwanzig Kilometer entfernt. Nicht wie zu Hause, wo wir drei verschiedene Supermärkte um die Ecke hatten.«
»Dann fahren wir ein oder zwei Mal die Woche rein und laden den Wagen voll.«
Annalisa grinste. »Wenn das Essen knapp wird, schießt du halt einen Elch.«
Rainer biss in sein Brötchen und konnte nur mit Mühe das Unwohlsein verbergen, das ihn bei der Erwähnung des inoffiziellen schwedischen Wappentiers befiel.
Gegen Mittag fuhr ein roter Volvo auf ihren Hof.
»Oh, das ist doch der, der uns das Haus verkauft hat. Lasse!«, sagte Annalisa.
Rainer legte einen Hammer beiseite. »Ja, das sieht nach seinem Auto aus! Komm.«
Lasse hieß sie willkommen im Land. Er freue sich, dass sie das Haus gekauft hatten und dadurch wieder Leben in die Gegend käme. Er wohne ja selber praktisch um die Ecke, »only two kilometers from you«, sagte er und lachte.
Sie sprachen über dies und das, und Lasse hörte sich mit großem Interesse an, dass Rainer passionierter Höhlenkletterer war.
»Da behaupte noch einer, die schwedische Wildnis wäre einsam«, kommentierte Annalisa, als das Knirschen der Reifen verhallte.
»Na ja, so belebt wie Hamburg ist es jetzt nicht.«
»Und deswegen sind wir ja hier!«
»Genau.«
Am Abend stellten sie fest, dass das Wasser aus den Leitungen eine rostrote Farbe angenommen hatte.
»Wie Blut.« Annalisa zog eine schauerliche Grimasse.
»Das ist das eisenhaltige Gestein hier. Da ist wohl der Filter in unserer Quelle kaputt!« Rainer seufzte. »Ich fahre morgen gleich mal in die Stadt und schaue nach einem neuen Filter. Ach ja, und unseren Antrag auf eine Personennummer beim Skatteverket kann ich da auch gleich abgeben.«
Als es Nacht geworden war, machten sie mit Weinbechern in der Hand einen kleinen Spaziergang. Der Mond schien über die Wipfel der Bäume und verwandelte sie in Scherenschnitte auf dem Diamantteppich der Sterne. Es war angenehm warm.
»Wie ruhig es hier ist«, flüsterte Annalisa.
»Und wie gut die Luft!« Rainer atmete tief ein. Sie gingen ein Stück auf der Schotterpiste entlang und nippten an dem vorzüglichen trockenen Rotwein. Weit vor ihnen begann ein funkelnder Fleck zwischen den Bäumen zu irrlichtern.
»Schau mal! Ist das ein Graugnom mit Laterne?«, wunderte sich Annalisa.
»Eher ein Auto. Ist ja mehr los als bei uns auf der Straße«, meinte er.
Tatsächlich kam ihnen ein Volvo im Schritttempo entgegengefahren und hielt neben ihnen. Die Fensterscheibe wurde heruntergekurbelt. Im Glimmen der Armaturen erkannten sie Lasse mit seiner Frau und einem großen, schwarzen Hund.
»Hej!«
»Hallo.«
»Wie geht es? Sollen wir euch mitnehmen? Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens!« Rainer lachte. »Wir genießen die Nacht.«
»Dann seid vorsichtig«, riet der Mann.
»Wegen der Wölfe?«, fragte Annalisa im Scherz.
Lasse blieb ernst.
»Hier lebt ein Rudel, aber Wölfe greifen Menschen nicht an. Bären schon eher.«
»Jagt ihr Bären?«
»Wir fahren Patrouille. Es ist eine Räuberbande gesichtet worden, die einsame Höfe ausräumt. Die fahren mit dem Umzugswagen vor, und in einer halben Stunde ist das Haus leer. Aber nicht mit uns.«
»Oh! Ja, über diese breiten Straßen kommt man selbst mit einem Umzugswagen mühelos durch den Wald«, sagte Rainer unbeholfen.
»Ja, das sind die alten Eisenbahntrassen«, erklärte Lasse. »Vor hundert Jahren wurde hier überall Erz abgebaut. Und genau hier stampften Dampfrösser entlang. Du bist doch interessiert an alten Gruben? Die gibt es hier überall.«
Annalisa lachte und prostete Rainer zu. »Ha, erwischt, du bist nur wegen der alten Gruben hierhergezogen! Da strahlt der kleine Höhlenforscher aber, was?«
Lasse lachte ebenfalls. »Ja, Höhlen erforschen könnt ihr hier allerdings. Für die meisten Stollen hat sich noch nie jemand interessiert.«
»Oh ja! Was für eine Gelegenheit!« Rainers Augen leuchteten auf.
»Übrigens, bald beginnt die Elchjagd, willst du nicht mit unserer Jagdgruppe mitkommen? Vielleicht kommen wir auch an ein paar alten Sachen vorbei.«
»Elchjagd? Aber … na aber gern!«, antwortete Rainer überrumpelt.
Wenig später fuhr der Wagen weiter. Als er zwischen den Bäumen verschwand, erinnerten seine Rücklichter an die Augen eines Ungeheuers.
»Elchjagd?«, wunderte sich Annalisa.
»Ähm … na ja, das klingt doch spannend. Außerdem, das Angebot hätte ich schlecht ablehnen können, oder?«, erwiderte Rainer. Aus irgendeinem Grunde hatte er dabei ein schlechtes Gefühl. Er schob es auf die unheimliche Begegnung im Keller.
»Die armen Elche. Gehen wir zurück«, sagte Annalisa und schlang ihr Jäckchen enger um sich. »Mir wird kalt.«
Auf dem Rückweg wirkte die Schotterpiste düster. Die Stille wurde drückend. Es war, als seien die Bäume näher an den Weg herangerückt. Rainer war auf unbestimmte Weise erleichtert, als er die Haustür aufsperrte und das elektrische Licht anknipste.
Feine Rinnsale zähen, grauen Nebels flossen unbemerkt am Fuß des alten Bahndamms entlang und vereinigten sich zu Strömen, ehe sie sich wieder auflösten.