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Ein erster Gast

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In Deutschland waren die Schweden für ihre freundliche Art bekannt, für das direkte Du und für ihr Lächeln. Alles dies traf auch zu, stellte Rainer fest, als er zu der ›Skatteverket‹ genannten Steuerbehörde fuhr. Das hinderte die freundliche, blonde, strahlendäugige Bearbeiterin aber nicht daran, bekümmert dreinzublicken und festzustellen:

»Ohne den Einkommensnachweis geht das nicht. Wir brauchen den Beleg, dass genug Eigenmittel für mindestens ein Jahr Aufenthalt vorhanden sind. Oder, dass hier in Schweden ein Beruf ausgeübt wird.«

»Aber ich hatte das doch schon bei der Einwanderungsbehörde eingereicht, beim Migrationsverket?«

Der Gesichtsausdruck der Bearbeiterin wurde um einen Deut bekümmerter. »Leider nützt uns das nichts. Skatteverket prüft die Unterlagen selber, und Migrationsverket gibt sie grundsätzlich nicht heraus.«

»Kann ich die Bankbelege ergänzen?«

»Leider nein. Es muss alles erneut eingereicht werden.«

»Da können wir nichts machen?«

Die Frau, so schön wie ein See in der Wintersonne, hob die Schultern. Sie war offensichtlich auch so hart wie das Eis eines Sees. »Leider nein.«

Ein wenig frustriert verließ Rainer das Amt und beschloss, erst einmal Wein einzukaufen. Den gab es ausschließlich in einer Handelskette namens Systembolaget. Praktischerweise lag eine Filiale gleich um die Ecke vom Skatteverket, neben der Bank. Angesichts dessen musste Rainer grinsen.

Nach einer Viertelstunde in dem Laden, der gut als Horrorkabinett für Geldbeutel herhalten könnte, entschied er sich für einen Dreiliterweinkanister. Immerhin war der in einer schönen Pappschachtel verpackt. In Deutschland hätte er nicht im Traum daran gedacht, Wein in anderen Behältern als in Glasflaschen zu kaufen, aber der Preis war hier einfach das gewichtigere Argument.

Nicht allein der Wein bot eine gewisse Herausforderung. Brot erwies sich als noch schwierigeres Terrain. Da es keine Bäckereien gab, stand Rainer wenig später vor dem Regal im Supermarkt und musterte die zahllosen Plastiktüten mit geschnittenem Industriebrot. ›Besonders malzig‹, ›mit extra Preiselbeersirup‹ und dergleichen stand auf den Packungen. Ein Brot, das nicht nach Äpfeln, Preiselbeeren, anderen Früchten oder einfach nur süß schmeckte, fand sich hingegen nicht. Nach einigem Suchen fand Rainer ein krustiges Weißbrot, aber als er es anfasste, ließ es sich zusammendrücken wie ein platter Fußball. Er seufzte und nahm ein dunkles Scheibenbrot, das wenigstens ein bisschen vertrauenerweckender aussah, und packte noch ein Preiselbeerbrot fürs Frühstück ein. Umgekehrt erwies es sich als schwierig, eine ungesalzene Butter zu finden. Rainer schüttelte den Kopf. Süßes Brot und salzige Butter, als wollte man mit dem einen das andere aufheben …

Als er zurückfuhr, nahm er nicht den direkten Weg. Die bergige Landschaft bot hinter jeder Kurve bezauberndere Ausblicke. Außerdem wollte Rainer nach ehemaligen Bergbaugruben Ausschau halten. Seine Höhlenklettererausrüstung wollte er schließlich nicht umsonst nach Schweden mitgenommen haben.

Als er die Umrisse eines großen Bauwerks zwischen den Bäumen erkannte, hielt er an und stieg aus. Da stand ein über sechs Meter hoher Klotz, zusammengefügt aus dem lavaähnlichen Gestein der Erzschmelzen; hier und da glänzte eine dicke, blaue und grüne Schmelzlasur auf dem porösen Schwarz. Die Seitenwände liefen nach oben hin schräg zu und trugen offensichtlich ein Plateau. Kiefern krallten sich in die Fugen auf der Oberseite. Nirgends war eine Treppe, ein Eingang oder sonst eine Öffnung zu entdecken.

Rainer rätselte, wozu dieses monströse Ding wohl gedient haben mochte. Es wirkte wie ein Bunker. Vielleicht gab es einen unterirdischen Zugang? Er bedauerte, dass er seine Kletterausrüstung nicht im Auto hatte, sonst hätte er sich das Ganze von oben ansehen können.

Um den gigantischen Klotz herum entdeckte er weitere Spuren: Etwas, das wohl einst eine gemauerte Rampe gewesen war, führte auf eine von Gestrüpp und Kiefern fast völlig überwucherte Ebene. Als er sie betreten wollte, blieb er mit dem Fuß in etwas hängen. Er hielt es zunächst für Brombeergestrüpp, aber die Ranken waren ungewöhnlich dick. Er erkannte, dass es eine rostige Stahltrosse war, die hier vermutlich seit einem halben Jahrhundert aufgerollt lag. Nachdem er mit seinem Mobiltelefon Fotos gemacht hatte, suchte er sich seinen Weg zum Auto zurück. Mehr würde er erst mit seiner Ausrüstung herausfinden. Und zwar bald.

Als er den Motor anspringen ließ und losfuhr, verschwand der Klotz hinter ihm zwischen den Bäumen wie das Mahnmal aus einer anderen, finsteren Welt.

Rainer war so begeistert von seinem rätselhaften Zufallsfund, dass er beinahe die Gestalt übersehen hätte, die am Straßenrand kauerte. Neben ihr stand ein schwerer Wanderrucksack. Im ersten Moment wollte Rainer einfach weiterfahren, ein rastender Wanderer war hier in Schweden wahrscheinlich kein allzu ungewöhnlicher Anblick. Aber etwas passte nicht ins Bild. Der junge Mann, eher noch Jugendliche, wirkte nicht wie einer, der sich von einem langen Marsch erholte.

Als Rainer ausstieg und näherkam, sah er, dass der Junge am ganzen Leib zitterte. Er hatte die Beine angezogen und das Gesicht auf die Arme gelegt. Erst jetzt sah er hoch, so, als habe er das Auto vorher gar nicht bemerkt. Und in sein Gesicht stand blanke Angst geschrieben.

»Was ist passiert?«, fragte Rainer.

Doch der Junge starrte ihn nur schweigend an, als müsse er sich erst davon überzeugen, dass Rainer ein Mensch war und kein Ungeheuer.

»Komm, ich nehme dich mit«, sagte Rainer kurz entschlossen. »Du siehst ja aus, als wärest du dem Teufel persönlich begegnet!«

Aus dem Rucksack hingen verschiedene Sachen heraus, und der Junge war äußerst nachlässig gekleidet. Es wirkte nicht so, wie es unter Jugendlichen Mode war, sondern vielmehr so, als habe er die Kleider in größter Hast aus dem Rucksack gezogen. Er ließ sich widerstandslos auf den Beifahrersitz bugsieren. Rainer warf den Rucksack in den Kofferraum und fuhr los.

»Nun erzähl doch«, versuchte er es erneut, während sie durch den Wald fuhren. »Was ist geschehen? Dir ist doch irgendwas zugestoßen. Oder hast du …«, er zwinkerte, »… na, hast du vielleicht irgendetwas genommen?«

»Die Nacht«, flüsterte der Junge.

»Wie?«

»Die Nacht. Die Nacht darf uns nicht einholen! Vor der Nacht!«

»Ähm … so weit wohne ich nun nicht entfernt, dass wir in die Nacht kommen könnten. Mach dir keine Sorgen. Ähm. Aber jetzt stelle ich mich erst einmal vor, ich heiße Rainer. Und du?«

»Jarrik«, antwortete der Junge so leise, dass Rainer ihn kaum verstehen konnte. Dann starrte er auf die Straße und wiederholte kaum hörbar:

»Die Nacht darf uns nicht kriegen.«

»Junge, du musst ja wirklich einen High-End-Albtraum gehabt haben!«, murmelte Rainer. Sein Gast jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

»Ist jemand in Gefahr? Braucht jemand Hilfe?«

Rainer staunte immer wieder darüber, wie Annalisa alle Verwunderung hintanstellen und übergangslos zu den wichtigsten Dingen kommen konnte. Kaum dass Jarrik ausgestiegen war, hatte sie die Lage erfasst und übergangslos ihre professionelle Art einklinken lassen. »Hast du jemanden im Wald verloren?«

Jarrik sah sie einen Herzschlag lang an, offensichtlich überrumpelt von der direkten Art der Frau, die er zum ersten Mal sah, starrte dann aber wieder ins Leere und schüttelte nur knapp den Kopf.

Annalisa kniete sich vor ihn hin, nahm seine Hände und sah ihm von unten herauf ins Gesicht. »Ich bitte dich, sag es uns, wenn jemand unsere Hilfe braucht. Wir helfen.«

Annalisa fragte noch ein wenig weiter, eindringlich, einfühlsam, einfach wunderbar, wie Rainer fand. Dann stellte sie eine letzte Frage. »Warst du allein unterwegs?«

Der Junge nickte. Annalisa erhob sich und berührte den Jungen sanft an der Schulter. »Ist gut. Nimm erst mal einen Becher Wein.«

Ihre ernsthafte Miene war wie weggeblasen, und stattdessen war da wieder die fröhliche, unbeschwert wirkende Annalisa. Kein Stück gekünstelt, erkannte Rainer voller Bewunderung. Er liebte seine Frau.

Der Junge ließ sich wie eine Puppe zu dem kleinen weißen Tischchen führen und auf einen der Stühle setzen.

»Ist er denn schon sechzehn?«, fragte Rainer, während er sich mit dem Zapfhahnsystem des Dreiliterkanisters abkämpfte.

Annalisa schenkte ihm einen schiefen Blick. »Das fragt ja genau der Richtige. Erstens, guck ihn dir an, der ist älter. Okay, vielleicht nicht viel, aber bestimmt nicht jünger. Zweitens ist das jetzt kein Wein, sondern ein Medikament in seinem Zustand. Sofern du den Schlauch heute noch aufbekommst, heißt das.«

Rainer fluchte, als er den Plastikzapfhahn aus dem Pappkarton herauspulte und sich dabei den Finger einklemmte.

»Autsch, wer zum Teufel hat sich denn diesen Mist ausgedacht! – So, jetzt aber … bitte die Tassen!«

Der Wein schäumte in die Tonbecher.

»Also, gut sieht das aus, den Wein so zu zapfen. Wie in einem Weinkeller!«, kommentierte Rainer und zwinkerte Jarrik zu. Doch der starrte nur geradeaus. Immerhin hatte er zu zittern aufgehört und nahm auch den Becher entgegen.

»Auf unseren ersten Besucher!«, rief Annalisa und prostete ihm zu.

Zögerlich nippte der Junge am Wein. Annalisa musste lachen, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.

»Du trinkst nicht oft trockenen Roten, was?«, fragte sie.

Die Ahnung eines Lächelns schlich sich auf Jarriks düsteres Gesicht. Er setzte den Becher an und probierte erneut.

Ein Vorteil, in ein Haus inmitten schwedischer Wälder gezogen zu sein, war, keine Termine zu haben. So ließen sie den Nachmittag im Garten verstreichen, und ganz langsam entspannte sich Jarrik. Es war allerdings nicht aus ihm herauszubekommen, was mit ihm geschehen war.

Am Abend richteten sie ihm eine provisorische Bettstatt ein. Da die Verkäufer des Hauses der Tradition gemäß viele Möbel dagelassen hatten und sich darunter auch zwei Bettgestelle befanden, konnten sie ihm sogar ein richtiges Bett bieten.

»Danke«, sagte er leise, als sie ihm Gute Nacht wünschten und versicherten, das Licht im Flur brennen zu lassen.

»Wirklich merkwürdig«, meinte Annalisa, als sie ebenfalls schlafen gingen. »Der macht auf mich einen ganz vernünftigen Eindruck. Ein ganz normaler Jugendlicher.«

»Ach?«

»Nur vollkommen verstört. Etwas muss ihn so tief erschreckt haben, dass er einen Schock davongetragen hat.«

»Du bist die Psychotherapeutin«, gähnte Rainer. »Vielleicht ist er ja morgen etwas gesprächiger.«

Annalisa nickte. »Und ich kann die Waschmaschine ausprobieren. Die Klamotten in seinem Rucksack haben’s nötig. War ja schwarz vor Dreck, was da raushing.«

»Ja … aber er selbst sah aus wie frisch geduscht.«

»Na, er geht bestimmt täglich im See baden. Davon gibt es hier ja an jeder Ecke einen.«

»Und einer ist schöner als der andere«, stimmte Rainer ihr zu.

»Hoffentlich ist es nicht doch eine Katastrophe, so was wie ein verunglückter Freund oder gar die Eltern. Mitten in der einsamen Wildnis. Das würde seinen Zustand erklären.«

»Na, er hat die ganze Fahrt über nur etwas von der Nacht gesagt, dass sie uns nicht einholen darf oder so. Und du hast ja nichts aus ihm herausbekommen.«

»Deswegen glaube ich das auch nicht. Er hätte etwas gesagt. Morgen sehen wir weiter.«

»Du hast ja schneller einen Klienten gefunden, als man glauben könnte.«

»Red keinen Unsinn.« Sie küsste ihn auf die Nase. »Fürs Erste nehmen wir den nahe liegendsten Grund: Er hat sich von zu Hause irgendeinen künstlichen Drogenmist mitgenommen. Dann hat er einen Horrortrip erlebt. Allein mitten im Wald.«

»Ja, das klingt allerdings krass genug für einen Schock.«

»So, und jetzt vergiss das alles. Nützt ja keinem was, wenn wir morgen total verpennt sind.«

Rainer kuschelte sich an sie. Ihm fiel das Einschlafen schwer.

JÄRNGÅRD

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