Читать книгу Die Nadel im Heuhaufen - Rudi Kost - Страница 3

Dienstag

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Der Polizist schaute nach oben und seufzte. Ich tat ihm den Gefallen, schaute ebenfalls nach oben und seufzte mit. »Wie kann man nur so unvorsichtig sein!«, sagte er.

In den tragischen Momenten des Lebens treibt uns die Sprachlosigkeit unweigerlich zu Banalitäten. Man musste ihm das nachsehen.

Wir blickten hinauf in eine dunkle, viereckige Luke im Holzboden. Dort oben lagerten Heu und Stroh. Gemein­sam schauten wir wieder nach unten.

Fritz Huber lag seltsam verrenkt auf dem Betonboden der Scheune. Eigentlich interessant. Tote liegen immer selt­sam verrenkt da, niemals normal verrenkt oder einfach nur so verrenkt.

Wenigstens bestand kein Zweifel, dass der Bauer tot war. Seine Augen waren starr in die Ferne gerichtet. Unter sei­nem Hinterkopf hatte sich eine Blutlache gebildet. Er trug einen blauen Arbeitsanzug, auf dem ein wenig Heu ver­streut war.

Der Polizist war noch jung und etwas blass um die Nase. Er hatte wohl noch nicht viele Tote gesehen.

Ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Aber ich war tapfer und ließ mir nichts anmerken.

»Das weiß doch jedes Kind, wie leicht man da abstür­zen kann«, sagte er. Noch so eine tiefschürfende Bemer­kung.

»Gestürzt. Geschubst. Gesprungen. Wer weiß das schon.«

Der Polizeibeamte sah mich etwas argwöhnisch an. Ich trug mein Lässig-aber-elegant-Outfit: beige Jeans von Boss, einen sandfarbenen Cashmere-Rolli, eine hellbraune Leder­jacke von Versace. Er trug seine Uniform.

***

Wir standen im Hof des Anwesens. Vor den Fenstern des Bauernhauses mit seinem schönen Fachwerk verwelkten die letzten Geranien in der milden Herbstsonne.

Mittlerweile hatte sich das halbe Dorf versammelt. Nur die Huber-Bäuerin und der Sohn fehlten. Sie waren wegge­fahren, so gegen neun Uhr, erfuhr ich von einer Nachbarin. In solchen Dörfern bleibt wenig unbemerkt.

Ich mischte mich unters Volk. Man erzählte sich die Ge­schichten, die jeder kannte: wie der Sohn vom Reber beim Dachdecken abgestürzt war und sich fast das Kreuz gebro­chen hatte, wie dem Hummels-Bauer die Kettensäge ins Bein gefahren war, der Röger vom Baum erschlagen wurde, der Otter die Hand in die Häckselmaschine brachte … Ein Bauernhof ist ein gefährlicher Arbeitsplatz.

Doch unter die Betroffenheit mischten sich auch andere Stimmen. Fritz Huber war offenbar nicht sonderlich be­liebt gewesen im Dorf, und sein Tod stimmte die Nachbarn nicht gerade milder.

Als Kommissar Keller auf den Hof fuhr, hätte ich mich am liebsten verdrückt. Aber ich wusste, dass das keinen Sinn hatte, und arbeitete mich langsam vor.

»Und wer hat ihn entdeckt?«, fragte Keller gerade den jungen Polizisten.

Der sah sich suchend um und wies auf mich: »Der da!«

Keller entdeckte mich und seufzte. »Ich hätte es mir denken können.«

Ich grinste ihn an. »Jeder hat halt so seine Hobbys, She­riff. Und ich bin in diesem County eben für die Entdeckung der Leichen zuständig.«

Keller zog seine linke Augenbraue in die Höhe. Das hatte er sich von Roger Moore abgeschaut und bestimmt wochenlang vor dem Spiegel geübt. Ich kannte mich da aus. Ich hatte auch mal geübt, aber nach zwei Tagen auf­gegeben. »Wie kommt’s, dass ausgerechnet Sie ihn gefun­den haben?«

»Ich hatte einen Termin mit ihm.«

»Und warum?«

»Er wollte seine Lebensversicherung ändern. Jemand anders sollte begünstigt werden.«

»Wer sollte das werden?«

»Hat er nicht gesagt.«

»Warum haben Sie nicht gefragt?«

»Ich bin doch nicht neugierig.«

»Und wer war es bisher?«

»Wie üblich. Seine Frau.«

»Warum, um alles in der Welt, wollte er das ändern?«

»Weil ihm die Frau davonlaufen wollte? Weil er seine Frau satthatte? Keine Ahnung. Er hat’s mir nicht verraten. Ich hätte es schon noch erfahren.«

Nun wurde Keller doch etwas nachdenklich.

»Und ausgerechnet, bevor Sie kommen, stürzt er vom Heuboden und bricht sich das Genick. So ein Zufall!«

»Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte ich.

Vor allem nicht, wenn es meine Versicherung eine hüb­sche Stange Geld kostet. Hunderfünfzigtausend Euro, das Doppelte bei einem Unfalltod, sind kein Pappenstiel.

Mittlerweile hatte der Arzt seine Untersuchungen abge­schlossen. Es war der Dorfarzt, den irgendwer aus dem Nachbarort geholt hatte, um das Offensichtliche festzu­stellen. Er fühlte sich sichtlich unwohl.

»Todeszeitpunkt zwischen acht und zehn Uhr«, sagte er.

»So genau legen Sie sich fest?«, fragte Keller verblüfft.

»Ist ja noch nicht lange her. Man sieht’s an der Blut­gerinnung.«

»Todesursache?«

»Er hat sich eindeutig das Genick gebrochen. Aber ob das die Todesursache war …«

»Anzeichen von Fremdeinwirkung?«

»Hören Sie, ich bin kein Pathologe. Dass er eine stark blutende Wunde am Hinterkopf hat, sehen Sie selbst. Ob er sich beim Sturz irgendwo angeschlagen hat oder ob es was anderes war, muss die Obduktion klären.«

»Kannten Sie ihn?«

»Er war mein Patient.«

»Hatte er irgendwelche Beschwerden?«

Der Arzt schaute Keller an und brachte das Kunststück fertig, würdevoll und beleidigt zugleich auszusehen.

»Haben Sie schon mal etwas von der ärztlichen Schweige­pflicht gehört?«

Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, konnte Keller ziemlich ruppig werden. »Die geht mir am Arsch vorbei. Ich habe hier einen nicht natürlichen Todesfall, wie das im Amtsdeutsch heißt, und ich will wissen, was die Ursachen sind und was ich ausschließen kann. Und ich will es sofort wissen. Also?«

Der Arzt kämpfte mit sich und seiner Würde. Wir Um­stehenden verfolgten das Duell interessiert. Ich war amü­siert. Ich kannte den Kommissar und wusste, wer gewin­nen würde.

Keller schaute den Arzt grimmig an, wie eine Bull­dogge vor dem Zuschnappen. Schließlich gab der Arzt seine Würde auf und war nur noch beleidigt.

»Fritz Huber war kerngesund«, meinte er patzig.

Man sah Keller an, was er dachte. Und dass er es am liebsten laut gesagt hätte.

»Schwindelanfälle oder so was?«, fragte er stattdessen.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Verbindlichsten Dank, Herr Doktor«, erwiderte Keller mit ätzender Liebenswürdigkeit und scheuchte den Arzt mit einer Handbewegung weg.

Dann starrte er auf den toten Fritz Huber hinab, zog einen Zigarillo aus der Tasche und begann, darauf herum­zukauen. Seit ich ihn kannte, war er dabei, sich das Rau­chen abzugewöhnen. Den Zigarillo malträtierte er immer, wenn er wütend war oder nachdenken musste.

Und jetzt musste er entscheiden, ob er den ganzen Appa­rat in Bewegung setzen sollte.

Er starrte mich an.

Ich starrte zurück.

Er kaute heftig.

Ich nickte ihm zu.

»Manchmal irre ich mich auch«, sagte ich.

Keller schaute mich böse an.

»Übrigens hat er mir geflüstert, dass er auch sein Testa­ment ändern wollte«, sagte ich leise zu ihm. Das musste ja nicht jeder hören.

Keller seufzte. »Also gut, das volle Programm.«

Nun würde sich also die Gerichtsmedizin mit der Leiche befassen. Die Spurensicherung würde anrollen und jeden Zentimeter unter die Lupe nehmen – eine mühselige Ar­beit in einer Scheune, die staubig und dreckig und voller Spinnweben ist. Hier etwas Brauchbares zu finden, glich wahrhaft der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

»Wo bleibt eigentlich Ihr Gartenzwerg?«, fragte ich.

Da kam er auch schon angewatschelt, der kleine, dicke Berger, Kellers Assistent. Als er mich sah, stöhnte er auf.

»Was macht der denn hier, Chef?«, fragte er.

»Auch wenn Sie’s nicht gern hören, Berger«, meinte ich. »Ich habe die Leiche entdeckt.«

»Aha«, sagte er nur.

Ich nickte Keller zu. »Morgen auf dem Revier fürs Protokoll?«

»Sie können den doch jetzt nicht laufen lassen, Chef!«, protestierte Berger.

»Der läuft von selber«, sagte ich. »Nicht wahr, Chef?«

Keller knurrte. Er hasste es, Chef genannt zu werden.

Und außerdem sah er viel Arbeit auf sich zukommen. Sei­nem Blick nach gab er mir die Schuld. Ich hatte ihm den Tag gründlich verdorben.

Es gab für mich im Augenblick auf dem Bauernhof der Hubers nichts mehr zu tun. Ich tratschte noch ein wenig mit den Dorfbewohnern, ohne etwas Wesentliches zu er­fahren, dann trollte ich mich und setzte die Tour fort, die ich mir für diesen Tag vorgenommen hatte. Es stand ohne­hin nur Kundenpflege auf dem Programm.

Normalerweise sind das für mich als Versicherungsver­treter erholsame und auch ergiebige Tage. Wir plaudern über dies und jenes, und die Bauern stecken mir zum Ab­schied eine Wurstbüchse zu oder was Frisches aus der Hausschlachtung.

Doch heute war ich nicht recht bei der Sache, und den Besuch bei der Witwe Huber an diesem späten Dienstag­nachmittag hätte ich gerne vermieden. Ich hasse Kondo­lenzbesuche. Ich fühle mich immer so hilflos dabei.

Bei den Hubers kam ich jedoch nicht in die Verlegenheit, mir irgendwelche hohle Phrasen abstottern zu müssen.

Ich hatte verweinte Augen und nasse Taschentücher er­wartet. Anita Huber und ihr Sohn Gerd jedoch benahmen sich nicht im Mindesten, wie man es von trauernden Hin­terbliebenen erwartet hätte. Sie gaben ein Bild stoischer Gelassenheit. Und kamen gleich zur Sache.

»Wann kriegen wir das Geld?«, fragte Anita Huber.

»So schnell geht es leider nicht. In solchen Fällen müssen die Untersuchungen abgewartet werden.«

»Welche Untersuchungen?«

»Erst muss die genaue Todesursache geklärt werden, dann erst kann der Totenschein ausgestellt werden. Und den Totenschein brauchen wir, damit die Versicherung aus­bezahlt werden kann.«

Ich hasse es, im Angesicht des Todes über diesen nüch­ternen Formalienkram zu reden.

Aber bei Anita Huber musste ich mir keine Gedanken machen. Die Frau sah mich nur prüfend an.

»Die Sache ist doch klar, oder? Der Fritz war halt unvor­sichtig«, sagte sie.

»Eben das muss untersucht werden«, erwiderte ich.

Ich konnte sie nicht einordnen. Sie musste früher mal hübsch gewesen sein, jetzt wirkte sie verhärmt. Bei meinen Besuchen hier im Hause war ich ihr selten begegnet. Alles Geschäftliche hatte der Huber-Bauer alleine geregelt, ganz, wie es die alte Rollenstruktur wollte. Die Gemahlin durfte nicht mal stumm dabeisitzen.

Ich startete einen Versuchsballon.

»Ihr Mann hatte mich für heute herbestellt. Wissen Sie, warum?«

»Nein.«

»Aber Sie wussten, dass ich kommen würde?«

»Nein.«

»Ihr Mann sagte was von der Lebensversicherung.«

Sie zuckte mit den Schultern. Nicht gerade mitteilsam, die trauernde Witwe. Übertroffen nur von ihrem Sohn. Der machte den Mund nämlich überhaupt nicht auf. Saß nur da und starrte mich an. Apathisch. Auf eigenartige Weise entrückt. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.

Ich fuhr zurück nach Schwäbisch Hall. Fritz Huber ging mir nicht aus dem Kopf. Sollte das wirklich nur ein tra­gischer Unfall gewesen sein? Ich fragte mich, ob es auch nichttragische Unfälle gab.

Huber hatte eine hohe Lebensversicherung. Ungewöhn­lich hoch für einen Bauern. Er wollte sie umschreiben las­sen. Auch ungewöhnlich. Und kurz zuvor war er tödlich verunglückt. Noch ungewöhnlicher.

Ich war neugierig geworden. Und ein wenig misstrau­isch. Ich beschloss, vorerst einmal nicht zu glauben, dass er einfach so vom Heuboden gestürzt war. Bis zum Beweis des Gegenteils.

Zur Entspannung joggte ich noch ein paar Runden durch den Park. Es half nicht viel. Huber joggte mit. Ich wollte es immer noch nicht glauben.

Kochen bringt mich immer auf andere Gedanken. Ich schaute im Kühlschrank nach. Nichts davon machte mich an. Gehen wir also essen, Herr Huber.

In der Innenstadt gibt es ungefähr sieben Restaurants, bei denen man sich nicht den Magen verrenkt. Schon von Berufs wegen sollte ich mich überall hin und wieder bli­cken lassen. Aber jeder hat so seine Vorlieben. Also ging ich auf einen Teller hausgemachte Kutteln in mein Stammlokal. Damals war das die »Sonne«, als die Familie Würtz noch Regie führte.

Normalerweise plauderte ich mit der Wirtin so ausgiebig, wie es der Restaurantbetrieb zu ließ. Wir tauschten den neuesten Klatsch und ereiferten uns über die Eskapaden der Stadtverwaltung. Aber an diesem Abend war ich ein maulfauler Gast. Ich saß in Hall, war in Gedanke jedoch in Hohenberg. Warum wollte Huber die Versicherung umschreiben? Und auf wen? Hatte das etwas mit seinem Tod zu tun? Oder war doch alles nur Zufall?

Ich würde keine Ruhe haben, bis ich die Antworten wusste. Und ich würde auch keine Ruhe geben, bis ich sie hatte.

Nach dem Essen brauchte ich noch einen Absacker. Ich sah mich in den Kneipen um, fand jedoch niemanden, des­sen Gesellschaft mir nach so einem Tag genehm gewesen wäre. Bis ich schließlich auf meinen alten Kumpel Robert traf. Wir hatten fast alle Probleme der Menschheit gelöst, als man uns hinauswarf. Das ist die Tragik des Lebens. Es fehlt immer das letzte Bier zur end­gültigen Lösung.

Ich machte mich auf den Heimweg. Die alte Stadt lag still und friedlich da. Es war eine klare, kalte Herbstnacht. Auf der Henkersbrücke schaute ich in die braunen Fluten des Kochers. Da jetzt hinunterfallen! Aber es war nur Was­ser, kein Betonboden. Ich würde es überleben.

Außer mir war niemand in der Neuen Straße unterwegs. Für eine Stadt, die je nach Bedarf ihre erste Erwähnung auf das Jahr 1037, 1156 oder 1204 zurückführt, war die Straße tatsächlich noch neu.

Beim großen Stadtbrand von 1728 war ein Großteil der Altstadt abgefackelt. Wo das Feuer haltgemacht hatte, kann man heute noch sehen. Erhalten geblieben waren die mittel­alterlichen Fachwerkbauten, den Rest hatte man barock neu erbaut.

Damals war auch die Neue Straße angelegt worden, als Brandschneise und als gerader, schneller Weg zum Lösch­wasser des Kochers.

Die Horde Jugendlicher, die sich vor der Disco am Hafenmarkt auf einen multikulturellen Dialog vorberei­tete, hatte davon garantiert keine Ahnung. Die hatten andere Sorgen. Gleich würde die Schlägerei losgehen. Rus­sen gegen Türken.

Das war nichts Ungewöhnliches hier. Ich machte, dass ich weiterkam.

Die Nadel im Heuhaufen

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