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Tumen, der Todesfluss, und Paektusan, der heilige Berg

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Ein Stück Ufer, ein Fluss. Ein flacher, träge dahinfließender Fluss, an die siebzig Meter breit. Darin spiegelt sich der graue Himmel. Schilf und Gebüsch auf der anderen Seite, dahinter eine Ebene. In der Ferne ein Berg.

Dort drüben ist Nordkorea. Wir stehen auf der chinesischen Seite der Grenze, inmitten der südkoreanischen Reisegruppe, mit der wir einige Tage unterwegs sind. Es gibt nichts zu sehen als nur diesen Fluss und den fernen Berg, an dessen Fuß helle Würfel auf eine Siedlung schließen lassen. Die Gespräche sind verstummt, man steht auf der Treppe zum Ufer und schaut hinüber.

Vom Flughafen Yanji aus sind wir eine gute Stunde in östlicher Richtung gefahren und werden diese Strecke wieder zurückfahren. Das Changbai-Gebirge mit dem Vulkanberg Paektu, unser Reiseziel, liegt in der Gegenrichtung. Die Gruppe ist eigens an den Fluss Tumen gereist, um einen Blick hinüber in die terra incognita zu werfen, in das verbotene Land, das man nur aus Filmen, Büchern, Erzählungen kennt.

An der Anlegestelle warten kleine Motorboote. Auf ihnen kann man sich in die Mitte des Flusses fahren lassen, exakt an die Grenze. Es ist die maximale Annäherung an Nordkorea.

»Ich mag nicht mitfahren. In wenigen Tagen werden wir im Land sein. Es ist lächerlich, an seiner Grenze im Boot hin und her zu fahren«, sage ich zu Yu-mi.

Sie steigt ein, streckt mir die Hand entgegen: »Komm! Nirgends ist die Spannung größer als an einer Grenze, die man nicht betreten darf. Hier bleibt das Land eine vibrierende Imagination. Sobald du in ihm bist, wird es simple Wirklichkeit.« Ich steige ein.

Die Boote füllen sich. Eine Viertelstunde Fahrt kostet zwanzig US-Dollar, für hiesige Verhältnisse viel Geld. Das Geschäft mit den Emotionen der Menschen, für die diese Landeshälfte tabu ist – obwohl Teil ihrer Geschichte, ihrer Identität, ihrer Sehnsucht –, ist einträglich. Es ist eine skurrile Fahrt ohne jede Abwechslung, einige Minuten flussabwärts, einige Minuten flussaufwärts.

Um die Bootshaltestelle herum wurde ein kleiner Vergnügungspark eingerichtet. Ein paar Männer kauern auf dem Boden um ein Brettspiel. Mütter stehen neben einer Schaukel und schauen ihren Kindern zu. Die Zwillingsräder, miteinander durch eine gemeinsame Sitzbank verbunden, mag bei diesem Wetter niemand mieten, es ist trüb und windig.

Für das Erinnerungsfoto an dieser entlegenen Ecke ist ein spezieller Rahmen gebaut worden, eine Art Fußballtor, an dessen oberer Latte die Wappen von Nord- und Südkorea angebracht sind. Anstelle des Torwarts bringt sich gerade eine Familie in Position. Ein Fluss, eine verlassene Ebene, ein Berg, auf dem sich die Antennen einer Militäranlage in die Höhe recken, das ist die Ansicht vom fremden Bruder, welche die Touristen nach Südkorea mitnehmen werden.

Aufgeregte Stimmen auf dem Rückweg zum Reisebus. Eine Frau will eine verdächtige Bewegung im Ufergebüsch wahrgenommen haben. War es eine Patrouille von Grenzsoldaten? Ein Flüchtling, der sich anschickte, das Wasser zu durchschwimmen? So entstehen Legenden. Den Tumen kümmern sie nicht, sein Wasser fließt ungerührt dem Japanischen Meer zu. Er entspringt am Paektusan, unweit von seinem Zwillingsfluss Yalu (koreanisch Amnokkang, auch Amnokgang; kang oder gang bedeutet Fluss), mit dem zusammen er den Grenzverlauf zwischen Nordkorea und China bestimmt. Während der Yalu nach Südwesten ins Gelbe Meer fließt, nimmt der Tumen Kurs Richtung Nordosten; auf den letzten siebzehn Kilometern bildet er die Grenze zwischen Nordkorea und Russland.

Korea ist an drei Seiten von Meer umflossen. Auf dem Land markieren Yalu und Tumen die Grenze. Seit der ersten politischen Einheit der Halbinsel im 10. Jahrhundert unter dem Reich Koryŏ (das dem Land den Namen gegeben hat) trennen sie die Koreaner von ihren Nachbarn. Trotz Einfällen der Jurchen, Mandschus und Mongolen bildeten sie eine Grenze, die periodisch zwar verletzt, überschritten, ignoriert wurde, letztlich aber als Abschluss des von den Koreanern beanspruchten Gebiets Bestand hatte.

Die beiden Flüsse sind es auch, über die aus Nordkorea Geflüchtete nach China, von da nach Südkorea oder in andere Länder gelangen. Wie vielen die Flucht geglückt ist, darüber gibt es nur Schätzungen; seit der Gründung der Demokratischen Volksrepublik Korea sollen es bis zu 300’000 sein, wobei die Dunkelziffer weit höher liegen dürfte. Die meisten ließen sich in China und Russland nieder. Die verlässlichsten Zahlen stammen aus Südkorea, wo zwischen 1953 und 2020 über 33’000 Flüchtlinge registriert wurden.1 Nach der Machtübernahme von Kim Jong-un nahm der Flüchtlingsstrom ab. Er liegt inzwischen bei jährlich rund tausend Menschen, für die lange die Bezeichnung defectors, Überläufer, verwendet wurde. Der Begriff defector ist irreführend, da er die Geflüchteten nicht nach dem Grund ihrer Flucht unterscheidet und auch Menschen, die während der Hungersnot in den neunziger Jahren aus dem Land flohen, als Abtrünnige stigmatisiert. Mehr und mehr setzt sich die Bezeichnung refugee durch, einer, der flieht, weil er existenziell bedroht ist, sei es durch Hunger, sei es durch fehlenden Schutz vor Willkür, Folter, Arbeitslager oder der Hinrichtung.

Da an der schwer bewachten Grenze zu Südkorea kein Durchkommen ist und der Fluchtweg über das Meer nur selten gewagt wird, spielen sich die meisten Flüchtlingsdramen entlang des Yalu und des Tumen ab. Gegen das nötige Fluchtgeld steht den Flüchtenden ein Netz von Schleppern und Fluchthelfern zur Seite, welche die entsprechenden Pfade kennen und die Grenzsoldaten bestechen. Geflüchtete berichten von abenteuerlichen Transfers bis vor den Fluss, den sie dann allein zu durchqueren hatten. Wie viele Menschen in den nächtlichen Kontrollen der Armee hängen geblieben sind, wie viele erschossen wurden, darüber weiß niemand Bescheid.

Auf der Rückfahrt bleibt es still im Bus. Man wollte bloß mal einen Blick auf den anderen Teil der koreanischen Halbinsel werfen und stand unvermittelt vor einem Fluss, der Schauplatz so mancher Tragödie ist. Man wollte sich auf einem kleinen Bootsausflug amüsieren und fuhr über einen Abgrund. Man stieg am chinesischen Ufer an Land, ohne von einer Kugel getroffen zu werden, nur weil man die richtige Staatsbürgerschaft besitzt.

Der zweite Blick auf Nordkorea eröffnet sich zwei Tage später oben auf dem Gipfelgrat des Paektusan auf 2700 Metern Höhe. Den Ausblick mussten wir uns mit viel Geduld verdienen. Am Vortag war das Wetter so schlecht, dass wir uns am Fuß des weitläufigen Changbai-Gebirges in Bereitschaft halten mussten, in Gesellschaft von Dutzenden chinesischer Reisegruppen. Auch heute warteten wir zunächst vergeblich. Die Gipfel waren von Wolken verhüllt. In den höheren Regionen habe es geschneit, die Schneeräumungsarbeiten seien im Gang, hieß es. Wir mussten mit einer Ersatzwanderung Vorlieb nehmen, stiegen entlang von Bächen zu kleinen Bergseen hoch, vorbei an dampfenden Schwefelquellen und Wasserfällen, blickten in steile Taleinschnitte und bestaunten bizarre Lavaformationen. Eine beeindruckende Landschaft, aber nicht das, was wir sehen wollten. Am Nachmittag dann, einige Reisegruppen waren schon unverrichteter Dinge ins flache Land zurückgekehrt, kam bei den chinesischen Führern Hektik auf. Es konnte ihnen auf einmal nicht rasch genug gehen: Hier, in diesen Bus einsteigen! Kaum waren wir ein paar Minuten gefahren, aussteigen, in einen anderen Bus umsteigen, losfahren, aussteigen. Schließlich wurden wir willkürlich auf kleinere Geländewagen aufgeteilt, Chinesen, Koreaner und ein Europäer, und ab ging’s, mit Allradantrieb die steile Rampe des Bergs in Haarnadelkurven hinan, in forciertem Tempo hoch zu einem Parkplatz ein Stück unterhalb des Vulkanrands.

Von dort marschieren wir in einer langen Kolonne auf einem Trampelpfad durch den Schnee in Richtung Gipfelgrat. Tief unten erstreckt sich in leichten Wellen das Land. Weite hellgelbe Felder ziehen sich hinüber in die Mandschurei, Schatten von Wolken segeln darüber weg. Vor uns am Steilhang ragen vereinzelte Felsbrocken aus dem Schnee. Es ist kalt, die Leute sind in ihre Jacken eingehüllt, haben sich Mützen aufgesetzt, stapfen aufwärts, den Blick zum Boden, um nicht auszurutschen. Die Vulkankrete ist durch eine Absperrung aus Seilen gesichert. Die Menschen stehen dicht an dicht auf einem rund hundert Meter langen Abschnitt, der vom Schnee geräumt ist. Einige haben sich uns zugewandt.

»Warum schauen sie her und winken?«, fragt Yu-mi.

Sie blicken nicht zu uns, sie schwenken ihre Telefone und machen Selfies. Oder sie lassen sich ablichten, mit dem Bergpanorama im Hintergrund. Als wir oben ankommen, entfährt uns wie allen ein Laut des Staunens. Der Boden bricht ab, senkrecht fällt der Vulkanfels in die Tiefe. Hunderte Meter unter uns erstreckt sich in dem ausgreifenden Kessel glatt und unbewegt der Kratersee. Die Sicht hinüber auf die verschneite Caldera, wo irgendwo die Grenze zu Nordkorea beginnt, auf die schwarzen Zacken der erstarrten Lava und hinab in den weit geschwungenen Krater nimmt einem beinahe den Atem. Im See spiegelt sich der stahlblaue Himmel, silbrige Wolken ziehen darüber hin. Oben und unten sind vertauscht, man blickt hinunter in das Firmament. Fast zehn Quadratkilometer Fläche bedeckt der Himmelssee, er reicht bis in eine Tiefe von 384 Metern und zählt zu den bedeutenderen Kraterseen der Erde.

Immer schon und bis heute wird der Paektusan von den umliegenden Völkern verehrt. Der legendäre Gründer des ersten koreanischen Staates, Tan’gun, soll hier als Frucht der Verbindung des Himmelsgottes Hwanung und einer Bärin geboren worden sein. Als höchster Gipfel der koreanischen Halbinsel gilt er im nördlichen wie im südlichen Teil als Symbol eines vereinigten Korea, auch wenn sich Nordkorea bemüht, ihn als den heiligen Berg der koreanischen Revolution der Historiografie des Staates einzuverleiben. Das schwer zugängliche Bergmassiv diente Kim Il-sung, dem späteren Staatsgründer Nordkoreas, und den von ihm geführten Partisanen als Zentrum des Widerstands gegen die japanische Besatzung. In einem Geheimlager in einer verschneiten Blockhütte soll nach nordkoreanischer Darstellung auch Kim Jong-il, der Sohn und Nachfolger Kim Il-sungs, das Licht der Welt erblickt haben. In Wirklichkeit wurde er weit weniger romantisch in einem sowjetischen Ausbildungslager in Russland geboren.

Heute teilen sich Nordkorea und China den Berg. Die Aufteilung fand ohne Beteiligung der Koreaner statt, 1909 in der Gando-Konvention zwischen China und Japan, als Korea unter japanischer Kolonialverwaltung stand; das Abkommen wurde erst 1963 von nordkoreanischer Seite akzeptiert. Der heilige Berg ist längst zu einem Politikum geworden. Und der Tagestourismus auf seine Caldera hat die Aura des Spirituellen, die ihm seit Urzeiten anhaftet, entzaubert. Dennoch vertraute der Ausflug der Präsidenten von Nord- und Südkorea mit ihren Gattinnen vor zwei Tagen auf seine alte Symbolkraft. Von ihm sollte das Signal ausgehen, dass es eines Tages einen friedlichen Zugang aller Menschen und Völker zu diesem Berg geben wird.

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1Das südkoreanische Ministerium für Wiedervereinigung führt eine offizielle Statistik über Flüchtlinge aus Nordkorea, vgl. www.unikorea.go.kr/eng_unikorea/relations/statistics/defectors/.

Herbst in Nordkorea

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