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Bleibet bei mir und wachet mit mir! Unsere Gemeinschaft mit Jesus

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Wie oft hört man: Wenn ich allein mit meinem Herrgott sein möchte, gehe ich im Wald spazieren! Ein Gang durch einen im Frühling grünenden oder durch einen herbstbunten Wald kann durchaus zu meditativen Nachdenken über sich und die dies- und jenseitige Welt führen. Man hört aber auch, Glauben sei Privatsache. Dieser Irrtum, weit verbreitet, sieht an fundamentalen Dingen des Glaubens vorbei, nämlich, dass Glauben sich nicht nur beim sonntagmorgendlichen Spaziergang durch den Wald verwirklichen lässt, sondern vor allem auch der Gemeinschaft bedarf. Die Gemeinschaft garantiert etwas ganz Wesentliches, nämlich, dass Glauben weitergegeben werden kann. Die Gemeinschaft garantiert, dass der Glaube gemeinsame Glaubensinhalte besitzt. Ohne gemeinsame Glaubensinhalte wäre es nur eine persönliche Meinung. Die gemeinsamen Glaubensinhalte, eine Übereinstimmung gewährleistend, geben dem einzelnen Gläubigen Identifikation in der Gemeinschaft, Leitmotive zum Handeln und zum Entscheiden im täglichen Leben und die Gewissheit, dass der Nachbar, jeder Mitgläubige, von gleichen Leitmotiven ausgeht. Das gibt eine ganz solide Grundlage für das Zusammenleben in unseren Gemeinwesen, mindert die Gefahr von Konflikten, speziell auf der soziokulturellen Ebene, auch auf der ökumenischen Ebene, und erhöht die Gewissheit, in der Gemeinschaft aufgehoben zu sein.

Die Rosette ist ein Sinnbild für eine auf einen zentralen Punkt, einen Mittelpunkt hin ausgerichtete Gemeinde oder Gemeinschaft. Jedes Stück einer Rosette für sich allein bedeutet nichts, ist sozusagen wertlos. Wir wollen versuchen, die einzelnen Teile für sich zu sehen und uns einzufühlen, wie es wäre, wenn jedes Teil für sich bliebe und nicht zum Ganzen der Rosette fände. So wie die Rosette erst Rosette wird, wenn alle Teile ihren Platz gefunden haben, so sucht der Mensch die Gemeinschaft, möchte nicht von Natur aus allein bleiben, nicht auf sich gestellt bleiben. Denn er ist ein auf Gemeinschaft ausgerichtetes Wesen und daher Teil seiner Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft wird erst durch die Teilhabe der vielen Wirklichkeit.

Jede Gemeinschaft ist vielfältig. Ihre Glieder sind eigenständige und eigenartige Teile. So ist es wichtig, dass alle Teilglieder auf Gemeinsames hin, auf etwas Verbindendes hin ausgerichtet sind, sonst zerfällt sie. Das sehen wir sinnbildlich an der Rosette: Die einzelnen Teile der Rosette, zu einem Ganzen zusammengefügt, machen erst einen Sinn und bringen die Symmetrie, die Schönheit und Vollkommenheit der Rosette in der Gesamtschau voll zur Geltung und uns nahe. Die Rosette formt sich aus den segmentförmigen Teilen zu einem harmonischen Ganzen. Sie hat einen zentralen Punkt, das ist ihre Mitte. Alle Teile ordnen sich diesem Prinzip unter und zeigen auf diese Mitte.

Die Rosette ist ein altes Symbol des Menschen, ein Jungsches Symbol. Als Rad, das das Leben der Menschen in unendlicher Vielfachheit gestaltet, hat es aus dem praktischen Leben heraus eine spirituelle, ja mystische Überhöhung erfahren. So wurde das Rad, die Rosette, schon früh zu einem christlichen Symbol, das auch bald in kirchlichen Bauwerken Eingang fand. Es ist das charakteristische Symbol für Harmonie und Vollkommenheit. Mittelalterliche Baumeister haben aus den Elementen, die sie für die Gestaltung der Fenster verwendeten, ein grosses Rund geformt. Solche kreisförmigen Fenster mit reicher Ornamentik und leuchtenden Gläsern wurden zu Schmuckstücken vor allem französischer Kathedralen.

Die Rosette steht für Harmonie und In-sich-abgeschlossen-sein. Sie steht für das Vollkommene, so, wie die mittelalterlichen Menschen ein in sich geschlossenes religiöses Weltbild hatten, das Teil war des Ganzen, einer kosmischen Harmonie, des Reiches Gottes, seiner Engel und Heiligen. Er fühlte sich darin wohl geborgen. Nichts konnte für ihn verderblicher, zerstörender sein, als von dieser Harmonie ausgeschlossen zu sein. Nichts war für ihn bedrohlicher, als aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Doch wie oft wurden und werden Menschen aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, aus körperlichen oder aus geistig-seelischen Gründen, wegen ihrer Rasse, ihrer Herkunft, ihrer Religion!

Es besteht für unsere moderne Gesellschaft eine grosse Gefahr, wenn Menschen in übertriebenem Masse Individualität suchen und sich abschotten, in die innere Immigration gehen. Es ist nicht das gesellschaftliche Leben gemeint – im Gegenteil, hier finden die Menschen viel zu viel Ablenkung. Angesprochen ist das geistige Leben, die innere Abschottung, die die Menschen daran hindert, über Werte zu sprechen, die für uns alle für das innere Leben unserer Gesellschaft so wichtig sind. Freilich: Es hat ganz den Anschein, als würde unsere Gesellschaft ganz gut ohne das Gespräch über Werte auskommen. Wer derartiges befürwortet, hat nicht gemerkt, wie übel und zersetzend das Reden in unserer Gesellschaft geworden ist. Das spiegelt ich beispielhaft im politischen Leben wider, wo wie selbstverständlich mit Lügen und Unwahrheiten und mit populistischer Heuchelei die Menschen betört werden, um den Sieg einfahren zu können.

Deshalb ist auch die christliche Symbolik der Rosette sinnbildlich für jeden von uns so bedeutungsvoll: In ähnlicher Weise wie für die Gemeinschaft sollte Christus stets die Mitte unseres Lebens sein. So wie die Rosette viele Segmente hat, hat unser Leben viele Bereiche. So wie die Segmente der Rosette sich je auf die Mitte hin ausrichten, sollten wir stets aufs Neue versuchen, uns auf Christus hin auszurichten. Aber kein Bereich darf oder sollte ohne seinen Bezug auf Christus bleiben.

Wir leben unser Leben in vielen Bereichen, draussen in der Welt, im Beruf, in der Freizeit, vor allem aber in der Familie. Ebenso leben wir in mannigfacher Weise unser Leben innen in uns, bei uns. Mit unseren Gebeten und Meditationen fangen wir an, im Innersten zu leben. Aber nicht nur das Spirituelle ist gemeint, nicht allein das Beten und Meditieren, sondern der Fluss unserer Gedanken, unserer Wünsche und Hoffnungen, die uns im Inneren tagaus, tagein bewegen und begleiten und unser Menschsein vom Inneren her bestimmen. Ob eine schlichte und einfache Rosette, ob eine schöne, grosse und herrlich gestaltete Rosette: sie rufen uns unerbittlich zu: Ich will das Spiegelbild Deines Lebens sein und nicht nur ein ästhetisches Prinzip!

In unserem Alltag sind wir über unserem Denken hinaus in unserem Handeln gefragt, sind wir gefragt, welche Maximen wir unserem Handeln zugrunde legen, sind wir in unserer echten, uneigennützigen Liebe gefordert. Mit einer Liebe, wie sie Christus uns abfordert. Sie muss unsere Maxime sein, die unser Leben bestimmt. Sie muss ganz auf Christus hin ausgerichtet sein, wie alle Teile der Rosette auf ihre Mitte hin ausgerichtet sind. So sind wir befragt, ob Christus der zentrale Punkt in unserem Leben ist, auf den hin alles ausgerichtet ist, auf den hin wir alles ausrichten sollten.

In einem kurzen Abschnitt (Mt 18,17) beschreibt er die Verantwortung, der nachgekommen werden muss, wenn jemand gesündigt hat und zur Rechenschaft gezogen werden muss. Und wenn der Betreffende selbst vor der Gemeinde nicht sein Unrecht einsehen will, so sei er, so fordert Jesus, für dich wie ein Heide oder ein Zöllner. Im Kontext Jesu Urteilens müssen wir das als eine schwerwiegende, harte Massnahme ansehen! Die Aussage gibt uns einen Eindruck, wie wichtig für Jesus die Gemeinschaft und ihr ungestörtes Leben sind. Dies unterstreicht er in zwei weiteren Versen (18,19-20): „Weiter sage ich euch, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlichen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Auch Paulus beschreibt in seinen Briefen immer wieder, wie bedeutsam die Gemeinde für das religiöse Leben ist, und wie sich die Gemeindemitglieder untereinander verhalten sollen.

Angesichts seines Todes forderte Jesus seine Jünger auf, bei ihm zu bleiben. Er hatte sie mit in den Garten Getsemani genommen, wo er beten wollte. Doch war Jesus in jener Nacht ganz auf sich gestellt. Denn die Jünger schliefen, während er betete, obwohl er sie gebeten hatte (Mt. 20,38): „Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibet hier und wachet mit mir!“ Selbst, als er sie nochmals aufforderte: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet!“ (20,41), sanken sie wieder in Schlaf. Er musste sich ganz einsam und verlassen fühlen angesichts der ihm vor Augen stehenden Qualen und Marter, die er zu gegenwärtigen hatte und vorausahnte.

Christus hat also in jener Nacht vor seinem Tode im Garten Getsemani das Ausgestossen-sein, das Alleinsein-müssen und das Verlassen-werden erfahren müssen. Dass seine Jünger ihn in jener Nacht im Stich liessen, war für Jesus vielleicht schmerzhafter als die Gewissheit des bevorstehenden Leidens und Todes. Unwillentlich allein sein müssen, verlassen werden von jenen, auf die es ankäme, wenn es erforderlich wäre, ist schwer zu ertragen und trifft tief. Viele von uns sind alleine, einsam oder auch verlassen. Liebe Menschen verlassen uns. Sie verlassen uns vielleicht, weil sie glauben, sie könnten nicht mehr mit uns zusammenleben; sie verabschieden sich von uns manchmal ohne Gruss und sind nicht mehr da. Manche verlassen uns, weil sie ins himmlische Reich heim gerufen werden. Sie lassen uns zurück in Trauer und Betrübnis.

Die Jünger Jesu waren wie weggetreten, waren für ihn nicht da. Sie hatten Jesus aus den Augen verloren, sie schliefen. Sie waren nicht mehr auf den Mittelpunkt ihres Lebens, auf den Herrn, ausgerichtet. „Bleibet bei mir und wachet mit mir!” bat Jesus vergeblich. Musste er nicht bitter enttäuscht sein? Er, der uns versprochen hatte: „Wenn drei in meinem Namen zusammen sind, bin ich mitten unter ihnen.“

Für uns Christen sind Christi Leid und Tod Pforte zu neuem Leben. Wie Christi Leid und Tod Pforte zu ewigem Leben sind, kann Alleinsein in Gebet und Meditation auch eine Pforte, eine Chance sein. „Aber ist nicht auch Einsamkeit eine Pforte?, fragt Martin Buber, „Tut sich nicht zuweilen im stillsten Alleinsein ein unvermutetes Schauen auf? Kann sich nicht der Verkehr mit sich selbst geheimnishaft in einen mit dem Geheimnis verwandeln? Ja, ist nicht erst der keinem Wesen mehr Verhaftete würdig, dem Wesen gegenüberzutreten?” Weichen wir daher nicht dem Alleinsein und der Stille mit uns aus. Lassen wir sie an uns heran. Versuchen wir nicht, ihr aus dem Weg zu gehen, wenn sie naht. Sie kann uns helfen, die Mitte des Lebens zu finden. Die Stille des Alleinseins, von der Martin Buber spricht, darf allerdings nicht mit Alleingelassenwerden verwechselt werden.

Das Rund der Rosette führt den Menschen auf sein Selbst zurück, in welchem er ganz sich selbst sein sollte. Unsere Unzuglänglichkeit hindert uns oft daran. Versuchen wir wenigstens, zu uns selber ehrlich zu sein, unsere Gefühle wahrzunehmen und zu ihnen zu stehen. Versuchen wir aber auch, wenn erforderlich, den Verstand nicht weg zu lassen. Und so, wie wir mit uns umgehen, sollten wir mit unserer Mitwelt umgehen: offen, ehrlich, einfühlsam, vernünftig. Treten wir der Welt mit wachem Blick und Verstand gegenüber! Der Mensch soll, muss zu seiner Gemeinschaft stehen. Die Gemeinschaft braucht ihn ebenso wie er ihrer bedarf. Es ist eine Wechselbeziehung, ein Geben und Nehmen.

Bleibet bei mir und wachet mit mir!” forderte Jesus seine Jünger auf, war sein Wunsch vor seiner Festnahme. „Bleibe bei mir und wache mit mir!” richten auch immer wieder todkranke, hilfsbedürftige Mitmenschen als Bitte an uns. Braucht vielleicht ein Kind meine Hilfe? ein Hilfloser? ein Armer? Erwartet oder erhofft ein Kranker sich einen Besuch? Haben wir ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte eines bedrückten Menschen? Ein Wort des Trostes für einen Nachbarn in seinem Leid? „Wache und bleibe bei mir!” Suchen und helfen wir also, das Alleinsein unserer Mitmenschen zu überwinden. Es ist die beste Arznei und wird die beste bleiben, ihrer und unser Alleinsein und Einsamsein zu überwinden. Wir Menschen werden uns selbst in der Gemeinsamkeit des gegenseitigen Annehmens und Tröstens. Sei du heute für einen anderen da, damit morgen einer für dich da ist.

Barmherzigkeit und Gnade - Jesu Versprechen

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