Читать книгу Shandra el Guerrero - Rudolf Jedele - Страница 7
Der Berg der Götter
ОглавлениеShandra hatte seine Krise bald überwunden. Shakira war es gewesen, die ihm letztlich rasch aus dieser Krise geholfen hatte und – natürlich – auch seine Blutsgeschwister Rollo und Jelena. Sie verstanden ihn und sie unterstützten ihn bedingungslos. Doch während der Bewältigung seiner Krise, war ihm dennoch nicht entgangen, dass in Ninive etwas Entscheidendes geschehen war.
Der alte Magranell, derjenige welcher in die Rolle des alleinigen Gottes geschlüpft war, hatte sich aus seinem von Shandra aufgebauten Block befreien können und eine seiner ersten Aktionen war gewesen, die vier anderen Räte, deren Hirne Shandra blockiert hatte, umzubringen. Das war eine Panne, die bald möglichst wieder ausgemerzt werden musste. Kein leichtes Unterfangen, aber wenn er die notwendige Ruhe dazu fand, ein durchaus lösbares Problem. Magranell hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es zu seiner Traumatisierung und zu seinem Koma gekommen war und Shandra hatte sich den Weg zu Magranells Geist stets offen gehalten. Doch er betrachtete das Problem nicht für so vordergründig wichtig, dass er sich zu einer unmittelbaren Handlung genötigt sah.
Andere Dinge waren wichtiger. Maßnahmen, die langfristiger wirkten, als es eine sofortige erneute Manipulation von Magranells Geist hätte sein können.
Shandra sah es als nächsten und wichtigsten Schritt an, die Rückkehr Shaktars nach Ninive in die Wege zu leiten. Was immer der alte Magranell dort anstellen mochte - er hatte ja immer noch sieben Räte zur Verfügung - würde dazu führen, dass Anglialbion wieder erstarkte. Bis dies aber geschah, musste Malaga gesichert sein und Cadiz gewonnen werden. Die Ansiedlungen Cordoba und Sevilla mussten von Chrianos gesäubert werden und auch dort gab es einige wenige Anglialbions, die man eliminieren musste.
Doch das waren die Aufgaben anderer.
Melusa musste sich um Cadiz, Sevilla und Cordoba kümmern. Rodrigo Diaz fiel die Aufgabe zu, Malaga zu sichern.
Dann aber, wenn Shaktar und sein Kommando auf den Weg nach Ninive gebracht waren, musste Shandra selbst mit seinem Heer über Granada nach Murcia ziehen, denn dort und in Almeria befanden sich die letzten starken Einheiten Anglialbions und Söldner unter dem Kommando des vielleicht schlimmsten Schlächters des Imperiums, unter Thomas Shifford.
Shifford, so hatte es Shaktar berichtet, der einige Zeit in dessen Garnison verbracht hatte, verband auf einzigartige Weise die Fähigkeiten eines hochkarätigen Prälaten mit den eines sehr guten Strategen und darüber hinaus mit denen eines eiskalten Massenmörders. Diesen Mann auszuschalten würde kein Honigschlecken werden.
Der Führungsstab in Malaga hatte sich schon intensiv mit diesem Thema auseinander gesetzt und sich Gedanken gemacht, wie man gegen diesen Schlächter vorgehen konnte. Shandra hatte sich dazu bereits Gedanken gemacht und eine Vorgehensweise geplant. Er erklärte:
„Zum ersten Mal brauchen wir unsere Energie für mehrere Maßnahmen gleichzeitig und müssen deshalb wesentliche Aufgaben untereinander teilen.
Unser Heer wird in wenigen Tagen um weitere zehn Einheiten gewachsen sein. Tausend Kriegerinnen und Krieger – zweihundert von ihnen gehören zu Samuels Volk – kommen zusammen mit Sombra, Ragnar und Samuel von der Grazalema herunter. Sie alle haben bereits gegen Anglialbion gekämpft und sind bewaffnet und geübt wie wir alle. Allerdings sind sie keine Reiter sondern ausschließlich Fußkämpfer. Wir werden also eine neue Strategie entwickeln müssen und wir werden weitere, unangenehm große Aufgaben lösen müssen, was die Versorgung - und auch die Entsorgungen - eines solch großen Heeres anbelangt. Deshalb muss Thomas Shifford noch ein wenig warten.
Minaro und Kirgan, ihr beide werdet die Zusammenführung leiten und die Kampfweise eines gemischten Heeres entwickeln, sowie die dazu notwendigen Übungseinheiten durchführen. Es gilt weiterhin das Ziel, dass unsere Kriegerinnen und Krieger schon körperlich so überlegen sein müssen, dass die Gefahr einer Verletzung oder gar des Sterbens in einer Schlacht auf ein Minimum reduziert wird.
Bernardo Legato und die Geister der Sierra werden mit euch zusammen alle Probleme der Versorgung und Beseitigung aller Rückstände zu lösen versuchen.
Rollo, Jelena und Shakira werden mit mir, Shaktar und seinen Söhnen, sowie Sombra und Samuel nach Norden ziehen, wo wir bei einem Volk Unterstützung im Kampf gegen Ninive zu finden hoffen, das in den Ruinen von Barcelona lebt. Sollte alles glatt gehen, werden meine Blutsgeschwister und ich danach wieder nach Südwesten reiten und wir und das Heer werden uns dann in Granada treffen. Shaktar aber wird dann zusammen mit Sombra, Samuel, Kerin und Erin und – so hoffe ich – mit der Unterstützung dieses Volkes in Ninive eindringen und dort für unsere Ziele arbeiten.
Das alles wird Zeit in Anspruch nehmen und damit unser lieber Thomas Shifford in dieser Zeit nicht allzu übermütig wird, werden wir ihm ein kleines Geschenk machen.“
Dann aber berichtete Shandra von dem riesigen Waran, der Shaktar von S’Andora bis herunter nach Malaga verfolgt hatte und dabei eine Spur der Verwüstung an der wilden und der weißen Küste hinterlassen hatte. Er informierte seine Hauptleute davon, dass er mit der Macht seines Schwertes – der Kraft des weißen Wolfes, des Warans und nun auch noch der Mamba – in der Lage war, dieses Monsterwesen praktisch nach Belieben zu kontrollieren.
„Ich werde also dieses Tierchen nach Almeria schicken und ihm ein genaues Muster derer mitgeben, die attackiert und getötet werden dürfen. Der Waran kann mit normalen Waffen nicht getötet werden. Shaktars schwarzes Schwert kann seine Haut durchdringen und auch meine Klinge ist dazu in der Lage, aber selbst Minaros tausendfach gefalteten Katanas würden kleinen Kratzer in seiner Haut hinterlassen. Man kann dieses Tier auch töten, wenn man es in eine Falle lockt und unter einer Steinlawine begräbt, doch viel mehr Möglichkeiten gibt es nicht. Thomas Shifford wird also viel Freude an unserer Geheimwaffe haben.“
Shaktar starrte seinen Sohn nach diesem Vortrag mit einem leichten Grausen in den eisblauen Augen an und meinte so leise, dass es nur die unmittelbar dabei sitzenden hören konnten:
„Mein Sohn, gerade eben habe ich mich gefragt, ob nicht doch du derjenige sein solltest, der in die Rolle des Satans schlüpft.“
Shandras Gesicht wurde von einem kleinen, vor Verlegenheit ein wenig schiefen Lächeln überzogen, als er erwiderte:
„Ich glaube nicht, dass ich auf Dauer hart genug für diese Aufgabe wäre. Ab und zu ein paar Bösartigkeiten, das ist eine Sache. Aber ein richtiger Satan zu sein? Nein, das könnte ich nicht.“
Trotz dieser Behauptung war niemand im Saal der Burg von Malaga, der nicht eine Gänsehaut über seinen Rücken kriechen spürte, als Shandra ein Bild des Warans in die Luft projizierte. Mit diesem Monster wollte sich eigentlich keiner von ihnen auseinander setzen müssen. Dann jedoch kehrte rasch der gewohnte Ton wieder in der Versammlung ein. Dagge unterbreitete den Vorschlag, dass man dem Waran vielleicht ein güldenes Kettchen und ein Täfelchen um den Hals hängen sollte, auf dem zu lesen sein würde
Mit Grüßen aus Malaga, Shandra el Guerrero.
Man lachte herzlich über diesen Vorschlag, doch ausgeführt werden sollte er nicht.
Zwei Tage später erreichten Sombra, Ragnar und Samuel als Vorauskommando der neuen Truppen Malaga und wurden auf der Burg willkommen geheißen.
Das Wiedersehen von Shaktar und Sombra spielte naturgemäß eine zentrale Rolle in der Begrüßung, denn immerhin waren sie die leibhaftigen Eltern Shandras und die Katalysatoren für die Entwicklung in ganz Iberia, was die Auseinandersetzung mit Ninive und den Anglialbions betraf.
Shaktar war durch dieses Wiedersehen am Ziel einer mittlerweile fünfundzwanzig Jahre dauernden Suche angelangt und hatte zugleich seinen Schwur erfüllt. Ein Umstand, der ihm das künftige Leben sicherlich erleichtern würde.
Sombra aber begegnete dem Mann wieder, der sie entgegen aller Gesetze in Ninive zu dem gemacht hatte, was sie war und ihr die Fähigkeiten mitgegeben hatte, um überhaupt in einer Welt wie der Grazalema bestehen und leben zu können.
Die beiden Menschen, vor vielen Jahren ein leidenschaftlich verbundenes Liebespaar standen sich gegenüber, eisblaue und jadegrüne Augen begegneten sich und dann reckten sich zwei Paar Hände nach vorne und zwanzig Finger trafen sich und verschlangen sich ineinander. Stumm, ohne Worte fand die Begrüßung statt und dennoch konnte jeder der Anwesenden erkennen, von welcher ungeheuren Intensität dieses Wiedersehen war. Sie alle konnten sehen, weshalb diese beiden Menschen sich vor vielen Jahren über die strengsten Tabus, die schärfsten Gesetze ihrer Heimat hinweg gesetzt hatten und sogar die Verbannung in Kauf genommen hatten, um ihre Leidenschaft für einander ausleben zu können. Um die beiden entstand ein knisterndes Energiefeld, dann aber, mit einem Mal brach die Spannung ein, die vier Hände lösten sich, Sombra trat ganz dicht an Shaktar heran, schlang ihre Arme um seinen Nacken, küsste ihn auf den Mund und sagte mit leiser aber dennoch deutlicher Stimme:
„Es ist gut dich wieder zu sehen, Mann meines vergangenen Lebens und Vater meines Sohnes.“
Shaktar zögerte keinen Augenblick, er erwiderte den Kuss, dann antwortete er:
„Es tut gut auch dich wieder zu sehen, Liebe einer vergangenen Zeit und Mutter meines Sohnes. Er ist dir übrigens sehr gut gelungen.“
Nach diesen relativ förmlichen Sätzen trat Sombra wieder zurück in die Reihe und stellte sich zwischen Ragnar und Samuel, während Shaktar sich zu seinen beiden Söhnen begab und den jungen Männern demonstrativ die Arme um die Schultern legte.
Damit war klar, dass sich aus diesem Wiedersehen keine Spannungen im Heer der Grazalema ergeben würden und dass auch die Zusammenarbeit zwischen Sombra und Shaktar beim Angriff auf Ninive keinerlei Probleme bereiten würde. Die Vergangenheit war bewältigt und würde die Gegenwart und Zukunft nicht beeinträchtigen.
Shandra war es, der als erster zur Tagesordnung zurück fand und aufzeigte, dass nur wenig Zeit blieb, um Wiedersehensfreuden zu genießen. Schon in zwei Tagen wollte er nach Norden aufbrechen und es sollte eine schnelle und damit anstrengende Reise werden. Der Waran war bereits unterwegs nach Almeria und würde die Feinde an der Küste beschäftigen, dennoch plante Shandra den Umweg über die Sierra Nevada, um ganz sicher zu sein, dass ihre Pläne dem Feind nicht bekannt werden würden.
Ein kleines Problem war noch zu lösen.
Prinzessin Chelida war immer noch in Malaga und solange Shandra in der Nähe war, würde sie keine Gefahr darstellen. Doch auch Shandras mentale Leistungsfähigkeit hatte Grenzen. Blieb Chelida in Malaga, wo sie mittlerweile ein sehr inniges Verhältnis zu Rodrigo Diaz aufgebaut hatte, musste Shandra den Block in ihrem Geist lösen und niemand, auch er nicht, vermochten vorher zu sagen, was dann geschehen mochte.
Doch auch dieses Problem löste sich fast wie von selbst.
Schon einen Tag nach Sombras Ankunft tauchte ein schnittiger und sehr schneller Segler, ein relativ kleiner Zweimaster in der Bucht von Malaga auf und seine Flagge zeigte das Symbol Bels, des Sonnengottes der Gaeloch. Borasta war nach Malaga gekommen und er hatte nur ein einziges Anliegen:
Herauszufinden, was aus Chelida geworden war. Nach kurzer und intensiver Beratung zogen sich Chelida, Borasta und Shandra für einen halben Nachmittag in ein abgeschiedenes Zimmer auf der Burg zurück und Shandra säuberte Chelidas Gehirn unter Borastas Aufsicht von allem Wissen, das sie durch ihre Anwesenheit während der Sitzungen Shandras und seiner Hauptleute erworben hatte.
Schon am nächsten Tag segelte der schnittige Segler in schärfstem Tempo zurück zu den nebligen Inseln.
Sie beide, Chelida und Borasta nahmen erneut wichtige Botschaften an König Edward mit, doch Shandra war überzeugt, dass auch diese Botschaften nichts bewirken würden.
Doch mit Chelidas Abschied war ein weiterer Abschnitt in der Auseinandersetzung mit den Anglialbions beendet. Ein traurig blickender Rodrigo Diaz de Vivar blieb als Erinnerung an den Besuch der Prinzessin in Malaga zurück.
Die Zeit war abgelaufen, die Vorbereitungen getroffen, am nächsten Tag bestiegen Shandra und seine Gruppe – mit Ausnahme Samuels - die Pferde und machten sich auf den Weg nach Granada und dann über die Sierra Nevada, Murcia und Calpe nach Barcelona.
Als sie den schmalen Weg von der Alcacaba hinunter ritten, sahen Shandra und Rollo sich an und an ihrem Blick war zu erkennen, was sie fühlten. Rollo war es, der es aussprach.
„Sieh, wie sich die Pferde und die Wölfe freuen, dass wir aus diesem steinernen Gefängnis heraus kommen. Ich fühle mit den Pferden und Wölfen. Wir haben sehr gute Freunde in Malaga gewonnen und erfolgreich gekämpft, aber nun bin ich froh, wieder unter der Sonne laufen und reiten zu können und im Licht der Sternen schlafen zu können.“
Seltsamer Weise war es niemand aufgefallen, wie sehr Shandra und Rollo unter dem Leben in einem aus hartem Stein und dazu noch aus mächtigen Quadern gefügten Gebäude gelitten hatten. Erst jetzt, da Rollo diesen Stoßseufzer von sich gegeben hatte, wurde ihnen bewusst, welch eine schwierige Zeit hinter den beiden leidenschaftlichen Jägern liegen musste.
Nun war diese Zeit zumindest vorläufig vorbei, die Natur hatte sie wieder und die beiden nutzten diesen Umstand weidlich aus.
Ihre Reiseroute sah vor, dass sie zwei Tage lang der Küste folgen würden um dann, in Almunecar nach Nordwesten in die Berge abzubiegen. Auf den Pass von Almunecar hinauf zur Gran Escuela und damit zum Fuß des Mulhacen war Shandra besonders gespannt, denn er hatte schon viel über diese Bergwildnis gehört, in der sich die Geister des Mulhacen unentwegt mit denen des Meeres stritten.
Shaktar, Shakira und Jelena kannten diesen Weg bereits, denn Shaktar war ihn schon einmal hinauf gestiegen und die beiden jungen Frauen waren über diesen Weg von der Hochebene herunter geklettert.
Sie hatten nicht vor, ihn Granada eine Rast einzulegen, auch wenn Sybila deswegen vielleicht gekränkt sein würde. Zum Ausruhen war später noch Zeit, zunächst aber war das Ziel Barcelona zu erreichen. Sie würden der Route in umgekehrter Richtung folgen, die Shakira und Jelena genommen hatten, als sie noch auf der Suche gewesen waren und erst oberhalb von Murcia wieder auf den alten Handelsweg an der Küste einschwenken.
Einen guten Monat, so rechnete Shandra, würden sie sicher brauchen, um Barcelona zu erreichen, denn es waren mehr als tausend Meilen bis dorthin.
An diesen ersten beiden Tagen, die sie im Sand und am Strand entlang ritten, benahmen sich sowohl die Wölfe als auch Shaitan und Dragon wie Welpen oder Fohlen. Sie hatten ununterbrochen nur Unfug im Kopf, tollten herum wie ausgewechselt und Shandra und Rollo förderten diesen Übermut auch noch, denn auch sie beide hatten gründlich die Nase voll von engen Räumen, Verwaltung und Politik. Auch ihr Bewegungsdrang war so groß, dass sie an beiden Tagen ihre Sättel und ihr persönliches Gepäck von den beiden Mulis tragen ließen, die Shaktar am Handseil führte und schon am Morgen mit den ungesattelten Pferden und den beiden Wölfen los liefen und erst am späten Nachmittag wieder kamen.
Die beiden Jäger und Krieger strahlten um die Wette und Rollo schwor, dass er, sobald er wieder Grasland unter den Füßen hatte, drei Tage lang nur rennen wollte. Rennen, um die Lungen frei zu bekommen, rennen um die verklebten Muskeln, Bänder und Sehnen wieder zu lösen und rennen, einfach um des Rennens willen. Shandra sagte nichts zu diesem Schwur, aber wer ihn kannte, wusste auch, dass er an Rollos Rennerei teilnehmen würde, wenn es irgendwie ging.
Diese beiden ersten Reisetage verliefen, als machten sie einen Sommerausflug. Der Himmel an der Sonnenküste war wolkenlos blau, das Meer – abgesehen von den Gezeiten – lag still wie ein See und sie waren allein, soweit das Auge reichte.
Am Vormittag des dritten Tages, einen halben Tag später als geplant, wanderten sie durch die kleine Ansiedlung Almunecar und stießen unter Shaktars Führung in ein langes, schmales Tal vor, an dessen Ende eine scheinbar unwegsame Bergwand stand. Und genau über diese Wand mussten sie hinauf steigen nach Gran Escuela.
Shandra war fasziniert vom Anblick der schroffen Zinnen, der Klippen, Schluchten und Schründe, von denen sie dort erwartet wurden und er erkannte schon von weitem, dass diese Wildnis in der bizarren Form ihres Gesteins wohl nur noch vom Torqual de Antequera übertroffen wurde. Als sie den tiefsten Punkt des Tals erreicht hatten, war es später Nachmittag geworden und sowohl Shaktar als auch Jelena und Shakira rieten davon ab, den Aufstieg noch während der Abendstunden zu beginnen, denn mehr als eine Nacht in dieser Wildnis konnte lebensgefährlich werden. Es gab Wetterumschwünge, die so krass waren, wie nirgendwo sonst.
Die Meereswinde trugen warme, feuchte Luft in die Felsen hinein, die Sonnenstrahlen hatten den Fels erhitzt und so entstand eine warmer Luftstrom, der mit hoher Geschwindigkeit die Höhe von mindestens zweieinhalbtausend Schritt überwand und sich oben, auf der Hochebene entspannen und ausbreiten wollte. Dort aber stieß dieser warme Luftstrom auf die eisigen Fallwinde, die vom Gletscher des Mulhacen herunter fegten und sofort begannen die beiden unterschiedlichen Brüder einen wilden Kampf auszufechten, der bis in die Nacht hinein dauerte.
In den Felsen wechselte das Wetter oft in wenigen Augenblicken von drückender Hitze in eisige Kälte, von warmem Regenwetter in unangenehm kaltes Schauerwetter mit eisigem Wind und gefrorenen Kristallen in der Luft. In solchen Momenten konnten die ohnehin schmalen Saumpfade zu tödlichen Fallen werden. Ein unbedachter Schritt, eine winzige Unaufmerksamkeit konnte genügen und schon lag man fünfhundert oder mehr Schritte tiefer und war nicht mehr zu retten. Ablenkungen aber gab es genug im Fels, denn die ständig wechselnden Winde und die vielen, hoch aufragenden und zumeist fast senkrechten Felswände bildeten ein Paradies für alle Vogelarten, die gerne segelten und sich von solchen Auf – und Abwinden mit Begeisterung tragen und treiben ließen. In oft haarsträubender Geschwindigkeit und atemberaubend dicht am Fels jagten alle möglichen Arten von Vögeln an den Felsen entlang, hinauf und hinunter und stießen dabei häufig schrille Schreie der Lust am Fliegen aus. War nun ein Mensch oder auch ein Tier oder beides zusammen im Fels und es geschah, dass einer dieser Vögel mit weniger als einer Handbreit Abstand an ihm vorbei zischte, war es nicht ungewöhnlich, dass einer oder auch alle erschraken und schon war es geschehen.
In den Tiefen der Schluchten und Schründe lagen Skelette von abgestürzten Menschen und Tieren in rauen Mengen.
Der Weg durch diese Wildnis war also bei Tag schon sehr gefährlich. Bei Nacht aber enthielt er fast eine Todesgarantie.
Sobald die Sonne unterging, fehlten den warmen Seewinden der Nachschub an Energie und die kalte Luft vom Gletscher des Mulhacen errang die Oberhand. Es kühlte rasch ab und die Feuchtigkeit in der Luft begann sich auf den Felsen nieder zu schlagen. Je länger die Nacht dauerte, desto kühler, ja, kälter wurde es und nicht selten ging die Temperatur so weit zurück, dass sich im oberen Drittel der Felsen auch Eis auf dem Stein bilden konnte. Doch auch ohne Eis war jeder Tritt, jedes Stück Weg, jeder Stein mit einer glitschigen Schicht kondensierender Nässe belegt und wer zehn Schritte tat, konnte damit rechnen, mindestens einmal ausgerutscht zu sein.
Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hatte, versuchte nachts durch die Felswand zu steigen. Und jeder, der am frühen Morgen den Aufstieg begonnen hatte, tat alles, um Abend den Pass zur Gran Escuela erreicht zu haben.
Sie verzichteten an diesem Abend auf ein Feuer, denn im Tal unten war es warm und trocken und so begnügten sie sich mit einem kalten Imbiss. Dann saßen sie gemütlich zusammen und unterhielten sich über die jüngsten Ereignisse und über Dinge, die ihnen bevorstehen mochten.
Shaktar und Sombra überlegten, wie sie es am besten anstellen sollten, in die Sicherheitssysteme Ninives einzudringen, wenn sie die Stadt erst einmal erreicht hatten, Shandra aber beschäftigte sich in erster Linie mit seinen beiden Halbbrüdern Erin und Kerin.
Er fand heraus, dass die beide jungen Männer über einen ausgesprochen hellen Verstand verfügten und alles, was mit Naturgesetzen und mit technischen Vorgängen zusammen hing intuitiv begriffen.
Erin konnte erklären, weshalb manche Vögel gute Segler waren und andere nicht, Kerin wusste zu bestimmen, aus welchen Metallen der Stahl bestehen musste, aus dem Sombra vor langer Zeit Shandras Jagdmesser geschmiedet hatte. Beide wussten ganz genau, weshalb dreifach gefiederte Pfeile besser geradeaus flogen, als zweifach gefiederte und als ihnen Shandra seinen Hornbogen zeigte, verstanden sie das System im Handumdrehen.
Begabte Jungs, wie Rollo feststellte, denn auch in den Bereichen, in denen er besonders stark war, der Jagd, dem Lesen von Fährten und der Verarbeitung von erlegtem Wild kannten sie sich sehr gut aus und so fand Rollo es fast schade, dass man solche Talente nach Ninive schicken musste.
Doch beide hätten nichts anderes gewollt, denn so oft die Sprache auf die fliegende Stadt kam, so bald Shaktar oder Sombra von den technischen Wundern in dieser Stadt erzählten, begannen ihre Augen zu glänzen, ihre Gesichter röteten sich und sie lauschten mit atemloser Spannung und speicherten jedes Wort.
Ihre Ausrichtung auf Technik war derart augenfällig, dass Sombra wie von selbst damit begann, den beiden Jungmännern immer mehr und in immer deutlicheren Worten über die Gesetze der Natur und über das Recht auf Ausgleich innerhalb aller Systeme der Natur zu erzählen. Sie hatte begriffen, dass man diese beiden Talente nicht ausschließlich der Technik übergeben durfte und wurde in ihren Bemühungen auch von den anderen Mitgliedern der Gruppe nach besten Kräften unterstützt. Vielleicht, so hatte Shaktar im Laufe des Abends laut überlegt, ergab sich ja eine vernünftige Verbindung zwischen dem Wissen um alte Techniken und den Bedürfnissen der neuen Erde und vielleicht lag dann das Schicksal der Entwicklung in den Händen seiner Söhne …
Kühne Gedanken, immerhin.
Die Zeit verging ihnen wie im Flug und dann war es auch schon Zeit, sich schlafen zu legen, denn sie wollten so früh wie möglich mit dem Aufstieg beginnen und hatten vor, den nächsten Sonnenaufgang schon ein ganzes Stück höher zu erleben.
Der Aufstieg geriet zu einer echten Strapaze. Die Pferde mussten geführt und immer wieder beruhigt werden, wenn ein großer Geier, ein Adler oder ein Gerfalke wie ein Geschoß an ihnen vorbei zischte und dabei gellende Schreie hören ließ. Die Steppenpferde, die Shakira und Jelena ritten waren solche Klettertouren nicht gewohnt und steckten mit ihrer Unruhe bald auch die Maurenpferde an, auf denen Sombra und Shaktar saßen. Die Mulis wurden nervös und wäre Rollo, der Herr aller Mulis nicht gewesen, wer weiß zu welchem Fiasko das ganze Unternehmen geraten wäre. Er war es, der Ruhe vermittelte, der die Tiere im Griff hatte und sie sicher durch alle Schikanen und Gefahren geleitete und als sie am späten Nachmittag nur noch einen schmalen Pfad durch eine Senke zu überwinden hatten, um dann auf einem bequemen Weg den Pass zu erreichen, war die ganze Gruppe froh, das Abenteuer dieses Aufstiegs überstanden zu haben.
Dort oben aber blieben sie stehen und vor allem Shandra und Rollo starrten mit angehaltenem Atem über die weite Ebene, die sich bis hin zum Fuß des majestätisch aufragenden Mulhacen zog.
Grasland, wie sie es von ihrer Heimat kannten und liebten. Voll von riesigen Herden grasfressender Tiere und deren Jäger, genau so, wie es im Grasland eben sein musste. Das Gras war, der Jahreszeit entsprechend, bestimmt mehr als hüfthoch und gelb und braun, nicht mehr grün, denn es war schon Ende des Herbstes in diesem Jahr. Nicht mehr langem dann würde es hier oben vielleicht sogar Schnee geben. Jetzt schon, an diesem Spätnachmittag wehte ihnen von Nordosten her eine kühle und ziemlich steife Brise entgegen und diese Brise machte, dass das Grasland wie ein Meer wirkte. Die Ähren der Gräser waren voll mit reifen Körnern und der Wind beugte die Halme. Dann aber richteten sie sich wieder auf und so entstand eine Wellenbewegung, die dafür sorgte, dass das Grasland in jedem Augenblick sein Gesicht veränderte. Helles Gelb und dunkles Braun wechselten einander ab und dort wo Hügel aufragten oder einzelne Felsen, wo große Herden grasender Tiere den Wind und das wogende Gras störten, bildeten sich Wirbel, die dem Grasland wiederum ein völlig anderes Ansehen verliehen. Ein Anblick voller kraftvoller Harmonie und stillem Frieden und hinter diesem Meer aus Gras thronte majestätisch und stolz der Berg der Götter, der Mulhacen. Shandra und Rollo, Sombra und Samuel sahen diesen königlichsten aller iberianischen Berge zum ersten Mal aus dieser Nähe und die Wucht und Schönheit dieses Anblicks traf sie wie die Faust eines Riesen. Die Brust wurde ihnen eng und sie begannen wieder einmal zu verstehen, weshalb dieses Land Al Andalus seine Menschen mit so viel Liebe erfüllte. Wer diesen Anblick sehen und nicht von tiefer Liebe zu diesem Land, seiner wilden Schönheit und zu seiner einfach überwältigenden Natur erfasst wurde, musste ein Herz aus Stein haben.
Die tief stehende Sonne des späten Nachmittags übergoss die weiße Haube, die das obere Drittel des Mulhacen bedeckte mit rotem Licht und die Kontraste der Felsregionen waren scharf wie mit einem Messer geschnitten. Die Almen und Matten unterhalb der Felsen und dann, noch tiefer die dunkelgrünen, fast schwarz wirkenden Pinien, Tannen und Eiben lagen bereits im Schatten und ihre Konturen verwischten im schwindenden Tageslicht und dennoch wirkte der Berg an keiner Stelle bedrohlich oder gar beängstigend. Dieser majestätische Berg war ein Freund der Menschen.
Shandra spürte die Graupeln auf seiner Haut und wieder einmal wusste er, dass es sich für dieses Land zu kämpfen lohnte. Solche Schönheit durfte auf gar keinen Fall dem Raubbau und der Verwüstung von Menschen wie den Anglialbions oder den Chrianos ausgeliefert werden.
Tiefer Frieden zog ein in Shandras Gemüt. Alle Ängste und Spannungen fielen von ihm ab und er wusste wieder ganz genau, dass er richtig gehandelt hatte und auch mit seinen weiteren Plänen auf dem rechten Kurs lief.
Zugleich mit dieser Erkenntnis war da aber noch etwas. Ein verspürte ein geradezu zwingendes Bedürfnis, auf der Spitze des majestätisch aufragenden Gipfels zu stehen und in das Land ringsum hinaus zu schauen.
Der Berg der Götter hatte zu ihm gesprochen und Shandra hatte verstanden.
Er bat seine Freunde, immer weiter nach Nordosten, dem Fuß des Mulhacen entgegen zu ziehen und irgendwo ein Nachtlager aufzuschlagen. Wenn er diese Nacht nicht wieder kam, dann sollten sie am nächsten Tag dem Fuß des Mulhacen folgen und erst dann mehr nach Norden Abbiegen, wenn der Berg sich nach Osten wandte. Vielleicht blieb er länger als einen Tag weg, aber sie sollten sich keine Sorgen machen. Er würde sie finden, doch jetzt rief ihn der Berg und er musste dem Ruf folgen. Er lenkte Shaitan nach Nordosten und gab ihm den Kopf frei. Der Hengst pflügte wie ein schnelles Schiff durch die Wogen des Grases und zu beiden Seiten folgten ihm zwei dünne Linien. Geri und Freki begleiteten Shandra und liefen mit ihm dem Berg entgegen.