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Das Böse

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Die Höhle war zu tief, als dass einer der durchdringenden Schreie an die Oberfläche der Erde gelangen konnte. Gellende Schreie, schreckliche Schreie von wilder Intensität. Schreie, welche ein seltsames Wesen in nahezu regelmäßigen Abständen ausstieß. Kein auf der Erde lebendes Ohr wäre in der Lage gewesen, den Diskant dieser Stimme, die Tonlage der Schreie zu ertragen. Wen immer die Schallwellen eines dieser Schreie erreicht hätten, das betroffene Lebewesen hätte augenblicklich und unwiderruflich nicht nur sein Gehör, sondern auch seinen Verstand verloren.

Die Höhle war ein Gefängnis.

Das Wesen war mit schweren Bändern aus einem seltsam glänzenden Material an den Felsen einer vom Höhlenboden bis nahezu unter die Decke reichenden Säule aus massivem Granit gefesselt.

Wer immer dieses Werk vollbracht hatte, musste genau gewusst haben, worauf es ankam. Er - oder sie - war ohne Zweifel darüber informiert gewesen, von welcher Art das Wesen war, das hier seit endlosen Jahreszeiten einer ungewissen Zukunft entgegen schrie. Die Fesseln waren aus einem Metall geschmiedet, wie man es auf dieser Erde eigentlich nicht findet. Ein glühender Komet, so erzählten die Legenden, war auf diese Welt gestürzt, mit ihm war das Metall gekommen. Seit einige wenige Menschen herausgefunden hatten, von welcher Art dieses Metall war, galt es als das Wertvollste, das ein Mensch besitzen konnte.

Es gab niemand, der das Wesen betrachten konnte, doch hätte es jemanden gegeben, dann wäre rasch klar geworden, dass dieses an den Stein gefesselte Wesen ebenso wenig von der Erde stammen konnte, wie das Metall, von dem es festgehalten wurde.

Der Körperform nach handelte es sich um eine scheinbar nackte Frau mit schlanker Taille, einem ausladenden Becken, vollen Brüsten und langen Beinen. Es war der Körper einer attraktiven Frau und darüber hinaus einer, die als Mutter starker und gesunder Kinder bestens geeignet zu sein schien. Doch es war eben nicht nur einfach eine Frau, die da schreiend in den Bändern hing. Zumindest keine, die einer der zahlreichen, auf der Erde lebenden Arten und Rassen zugeordnet werden konnte. Am Fels war vielmehr ein Wesen angekettet, welches nur aus den schlimmsten Alpträumen eines kranken Gehirns entstanden sein konnte und irgendwann – hoffentlich erst in dieser Höhle - Gestalt angenommen hatte.

An jenen Stellen, wo die Gliedmaßen endeten, wo sich an einem menschlichen Lebewesen Hände und Füße befinden, entsprangen diesem Wesen die wuchtigen Klauen eines Greifs mit unglaublich scharfen Krallen. Krallen von solch entsetzlicher Härte und Stärke, dass sie mühelos in der Lage waren, selbst Eisen zu zerfetzen. Kein Panzer, keine von Menschenhand geschmiedete Waffe mochte diesen Krallen gewachsen sein.

Aus den Schultern wuchs ein schlanker und schön geformter Hals empor, doch auf diesem Hals saß ein Schädel, dessen Anblick für ein menschliches Auge unerträglich sein musste. Es war der Schädel eines riesigen Raubvogels, eines Aasfressers mit einem gewaltigen, scharfen Schnabel und mit Augen, die von der Größe des Handtellers eines Menschen waren. Wenn diese Augen geöffnet wurden, glühten sie in einem wild leuchtenden Orangeton. In der Mitte dieser Augen zeigten sich gelb schillernde, senkrecht stehende Pupillen, die sich sowohl zu schmalen Schlitzen zusammenziehen, als auch zu annähernd das ganze Auge füllende, runden Strahlern ausdehnen konnten. Das Licht, welches aus diesen Augen strahlte, war ebenso kein Licht von dieser Welt. Der Feind allen Lebens manifestierte sich in diesem Licht, denn schwarz wie geschmolzenes Pech breiteten sich die Zwillingsbahnen aus und auf was immer sie trafen, sie brachten allem Leben den Tod. Die tödlich schwarze Leuchtkraft dieser riesigen und furchtbaren Augen war derart groß, dass sich die armdicken Bahnen selbst in der Finsternis der Höhle deutlich abzeichneten und sich durch die Nacht bohrten, wie mörderische schwarze Lanzen in deren Zentrum ein brodelnder orangefarbener Kern waberte. Wenn diese Augen innerhalb einer bestimmten Reichweite auf einen lebenden Gegenstand trafen, begann dieser in Flammen aufzugehen oder einfach weg zu schmelzen.

Das Wesen war Harpya. Dies war ihr Name und nur was mit der Erde verwachsen war, konnte von Harpyas Blicken nicht zerstört werden.

Wenn das Wesen seinen Schädel in den Nacken legte und den stark gekrümmten Schnabel eines riesigen Raubvogels zu einem weiteren, durchdringenden und das Trommelfell zerfetzenden Schrei öffnete, tauchte eine dicke, rot und violett schillernde Zunge auf. Sie schnellte über die Ränder der unglaublich scharf und bösartig wirkenden Zähne und wurde fast eine Armlänge weit in die Dunkelheit hinaus gestoßen. Von dieser Zunge tropfte rauchender Geifer, der auf den Stein des Höhlenbodens hinunter troff und dort schäumend und qualmend den harten Felsen aufzulösen begann. Nur so war es zu erklären, dass sich in einem Dreiviertelkreis um die Füße des Wesens eine tiefe Rinne zog, die fast ganz mit zähem und stinkendem Schleim gefüllt war, der aus dem sich zersetzenden Stein und dem Speichel des Wesens entstanden war.

Der Körper des Wesens – in der Finsternis der Höhle war das kaum zu erkennen – war über und über mit kurzem, dünnen Gefieder von undefinierbarer Farbe bedeckt. Dieses Gefieder aber war nicht aus einem Material entstanden, das verfaulen und verrotten konnte, wie es für ein natürliches Gefieder normal gewesen wäre. Jede einzelne der dünnen Federn stellte eine schreckliche Waffe dar, die von dem Wesen nach Gutdünken eingesetzt werden konnte. Mehrere der Federn steckten wie angewachsen in den gut und gern fünfzig oder mehr Fuß von der Steinsäule entfernt in den Felswänden der Höhle während andere sich in den wie angeordnet im Halbkreis auf dem Boden liegenden Knochenhaufen wiederfanden.

Der Namen des Wesens war Harpya und ein Satan musste es gewesen sein, der sie in seinem boshaften Hirn gezeugt und in diese Welt gebracht hatte.

Das Schrecklichste an Harpya waren jedoch die Wunden auf ihrem Rücken.

Direkt neben den Schulterblättern war die Haut zerfetzt worden und das rohe, blutige Fleisch bildete eiternde und schwärende Stellen. Aus diesen tiefen, von Maden wimmelnden Wunden waren einst die Schwingen einer Dämonin gewachsen und wer immer es gewesen war, der Harpya gefangen nahm, er – oder sie - hatte diese Schwingen abgetrennt. Sie lagen gut zwei Dutzend Schritte von der gefangenen Dämonin entfernt auf dem Boden. Auch diese Teile einer einstmals eine mordend durch das Land ziehenden Dämonin lebten immer noch. Vielleicht tausend Jahre waren seit Harpyas Gefangennahme vergangen, doch die Wunden würden sich niemals schließen und die Schwingen warteten nur auf den Augenblick, da sie wieder an ihren ursprünglichen und angestammten Platz zurückkehren konnten. Harpyas Körper verzichtete nicht freiwillig auf diesen wesentlichen Teil seiner ursprünglichen Gestalt. Dann aber, wenn dies geschah, mochte der Menschheit selbst der grausamste Tod wie eine göttliche Gnade erscheinen.

In der Höhle herrschte ein grauenerregender Gestank.

Der Gestank von Verwesendem und Verwestem, der ätzend scharfe Gestank nach Vogelkot und einer ganzen Reihe anderer, undefinierbarer Gerüche lag in einer solchen Schärfe und Dichte in der Luft, dass die Geruchsorgane eines, die Luft atmenden Wesens, schon beim ersten Einatmen verätzt worden wären.

Über dem Wesen gab es eine kleine Nase im Fels und von dieser tropfte mit der Regelmäßigkeit eines mechanischen Werkes Wasser herunter. Die einzelnen Wassertropfen fielen dem Wesen auf den nach vorne hängenden Schädel und zerplatzten, rannen als kleine Bäche an den Schläfen des hässlichen Geierkopfes herab, benetzten die Schultern und Oberarme des Wesens, um dann irgendwo zwischen den Kielen des seltsamen Gefieders zu verschwinden.

Der Rhythmus des herabfallenden Wassers war absolut gleichmäßig und stellte in der Regel das einzige Geräusch in der Höhle dar. Nur dann, wenn das Wesen den Kopf hob, die Augen öffnete und die schwarzen Lichtbahnen durch die Höhle schweifen ließ, wenn es nach einem Rundumblick den Kopf in den Nacken legte und einen seiner schrecklichen Schreie ausstieß, nur dann wurde der Rhythmus des fallenden Wassers unterbrochen.

Das Wesen war vor langen Jahrhunderten von einem anderen Lebewesen gefangen genommen, in die Höhle gebracht und an den Felsen geschmiedet worden. Ob dieses andere Lebewesen mehr Mensch gewesen war als Harpya, war ein Geheimnis, das vielleicht niemals enthüllt werden konnte.

Harpya verkörperte das Böse in dieser Welt.

Der Name des Helden, der dieses Böse in Fesseln geschlagen hatte, war in Vergessenheit geraten. Ebenso hatten die Menschen vergessen, woher er stammte, ob er Mann oder Frau gewesen war, welches seine Sprache war und ob er selbst tatsächlich das Gute verkörpert hatte. Der Held war aus einem fernen Land gekommen und wieder in den Weiten der Welt verschwunden, sobald er sein Werk getan hatte.

Die Höhle lag im Gestein einer kleinen Insel und diese Insel lag mitten in den menschenfressenden Fluten eines ungebärdigen, wilden und eiskalten Meeres. Die Insel zu erreichen erforderte größtes seemännisches Können, denn nur an wenigen Tagen eines Jahres zeigte sich das Meer von einer Art, die es vorstellbar machte, ein von Menschenhand gebautes Gefährt seinen Wogen anzuvertrauen. Die Insel selbst, kaum mehr als ein Eiland, wurde den größten Teil des Jahres von einer mehr als mannshohen Schicht aus Schnee und Eis bedeckt. Nur die riesigen weißen Bären des hohen Nordens betrachteten diese Insel als einen Teil ihrer Heimat. Die weißen Bären und eine Handvoll derer, die sich selbst Menschen – Inuit – nannten.

Es hatte eine Zeit gegeben, da war Harpya frei gewesen und in der Lage überall hinzugehen, wonach ihr der Sinn stand. Harpya hatte diese Freiheit weidlich genutzt.

Sie war es gewesen, die diese Welt in Atem gehalten hatte und immer und überall für Spannung sorgte. Es gab keinen Regierungssitz und keinen Fürstenhof auf der Welt, an dem sie nicht wieder und immer wieder aufgetaucht wäre, um allein mit ihrer Anwesenheit die Atmosphäre bei Hofe zu vergiften. Wenn Harpya auftauchte, brachte sie Neid und Missgunst, Hass und Streit, Mord und Totschlag, heimliche Intrigen und brutale, öffentliche Gewaltakte mit sich und niemand vermochte sich vor Harpyas Einfluss zu schützen oder sich diesem zu entziehen. Von der armseligsten Hütte bis zum vornehmsten Palast, kein Haus und kein Heim waren vor ihr sicher.

Harpya, so hatten die Menschen das Gefühl, war allgegenwärtig, denn wenn sie an einem Platz für den Moment genug Unfrieden gestiftet hatte, breitete sie ihre gewaltigen Schwingen aus, erhob sich in die Luft und sauste davon, um nur Augenblicke später an einem anderen Platz aufzutauchen, an dem es sich lohnen mochte, das Böse zu schüren und stark zu machen.

Harpya war die Dämonin des Bösen und sie hatte ein riesiges Betätigungsgebiet.

Das Land war aufgeteilt. Zahllose kleine Grafschaften und Fürstentümer bildeten eigene Herrschaftsbereiche, die sich untereinander bekriegten und bekämpften. Oft stammten die Herrscher aus demselben Familienschoß und waren eng verwandt. Sie waren Vettern und Basen, auch Brüder und Schwestern und dennoch bekämpften sie einander mit wilder Wut und ohne jedes Erbarmen, denn Harpya war da und sorgte dafür, dass die Boshaftigkeit immer genügend Nahrung fand. Nur wenn stets und ständig irgendwo im Land gekämpft und getötet wurde, fühlte Harpya sich wohl, denn nur dann wurde ihr Blutdurst annähernd gestillt.

Harpyas gesamte, ihr noch verbliebene Lebenskraft hing an den Erinnerungen an eine Vergangenheit, in welcher sie die Welt mit ihrer Boshaftigkeit beherrscht hatte. Aus diesen Erinnerungen schöpfte die Dämonin ihre Kraft, ihnen verdankte das Wesen, dass seine Brust sich unablässig weiter hob und senkte, dass die Lungen funktionierten und das Herz schlug. Von diesen Erinnerungen wurde der brennende Hass auf alles menschliche Leben auf dieser Welt wach gehalten. In diesen Erinnerungen war der brennende Wunsch verborgen, eines Tages die Fesseln zu zerbrechen und aus der Höhle hinaus in die Welt der Menschen zurück zu kehren.

Harpya wäre bereit gewesen, alles dafür zu tun, wozu ein Dämon in der Lage ist, hätte sie damit ihre Freiheit wieder gewonnen. Doch die Fesseln an ihren Hand- und Fußgelenken, die stählernen Bänder an Hals und Taille, die Ketten, mittels derer ihre Fesseln am Stein der Höhle befestigt waren, widerstanden allen Versuchen Harpyas, als handelte es sich um die Bemühungen eines kleinen Kindes.

Wenn der Frust zu groß wurde, wenn sie einmal mehr ihre Ohnmacht hatte eingestehen müssen, dann warf Harpya ihren bizarren Geierschädel in den Nacken und stieß ihre höllischen Schreie aus und jeder dieser Schreie sollte die Menschen erreichen und sie daran erinnern, dass das Böse nicht von dieser Welt verbannt war, sondern nur in einem trügerisch sicheren Gewahrsam gefangen gehalten wurde.

Doch Harpya war nicht immer allein.

Es gab Zeiten, da näherte sich ein lebendes Wesen der Höhle und schlüpfte durch den bestens verborgenen und für menschliche Augen absolut unauffindbaren Eingang in die Heimstatt des Bösen und dann geschah etwas, das jeder Vorstellung Hohn spricht. Harpya wurde in einem heftigen und zügellosen Akt von einem kleinen, menschenähnlichen Wesen zu einer ekelhaften Vereinigung gezwungen und wenn dieses Wesen die Höhle wieder verließ, war Harpya schwanger.

Kurze Zeit später kehrte das Wesen zurück und entfernte die Leibesfrucht durch uralte Magie und geheimnisvolle Chirurgie aus Harpyas Körper und verschwand erneut, um sich lange Zeit nicht mehr wieder zu zeigen.

Es gab Inuit, die beobachtet hatten, wie sich dieses kleine Wesen dem Berg mit der Höhle näherte und dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt verschwunden war. Keiner dieser Menschen war alt geworden, doch der eine oder andere hatte noch lange genug gelebt, um seine Beobachtungen weiterzugeben.

So war im Laufe der Zeit eine Sage entstanden.

Die Sage von einem unermesslichen Schatz im Schoße des Berges?

Nein, die Sage vom Schoß des Bösen….

Königreich der Pferde

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