Читать книгу Königreich der Pferde - Rudolf Jedele - Страница 4
Nordwind
ОглавлениеDie beiden Männer saßen in einem gar nicht einmal so kleinen Zelt, dessen Außenhaut aus zwei Lagen schwerem Filz bestand, einer sogenannten Jurte. Obwohl der Filz schwer und dick war, bot er nur den notwendigsten Schutz vor dem, was die Natur denen abverlangte, die in diesem Teil der Welt lebten.
Die Zeit der endlosen Nacht war zwar vorüber, doch immer noch waren die Tage nicht lang genug, um ohne eine Specksteinlampe oder eine Fackel die notwendigsten Handgriffe zum Überleben erledigen zu können. Am Himmel hingen mächtige schwarze Wolken und unter diesen Wolken fegte ein eisiger Sturm über das Land, das in einem Zwielicht aus weißen und grauen Farbschattierungen sämtliche Konturen verloren zu haben schien. Einzig die überall wild wuchernden Büsche reckten ihre blattlosen, dürren Ruten wie schwarze Spinnenfinger in die Luft und boten auf diese Weise den Blicken der hier lebenden Wesen ab und an einen Platz, an dem sie sich fangen und ein wenig ausruhen konnten.
Der Sturm war so stark, dass es selbst einem kräftigen Menschen nicht möglich gewesen wäre, gegen seine Richtung anzugehen und er war kalt. Eisig kalt. Goss man aus einem Behälter Wasser aus, so wurde aus diesem hartes Eis, noch ehe es den Boden erreicht hatte. Der Sturm und die Kälte waren die Feinde allen Lebens. Am meisten aber litten die wenigen Menschen dieses Landes unter den brutalen Bedingungen des Nordens. Der Sturm und die Kälte raubten den Menschen die Seele, so sagten die Eingeborenen und deshalb verließen sie ihre Behausungen niemals während der dunklen, kalten und stürmischen Jahreszeit.
Die Männer hatten ein eisernes Kohlebecken mit der Glut schwelender Knochen zwischen sich geschoben. Das Kohlebecken war die einzige Wärmequelle im Zelt und deshalb war es im Innern der Filzkuppel auch ziemlich kalt. Kalt genug jedenfalls, dass der Atem der beiden wie Dampfwolken aus Nasen und Mündern quoll, kalt genug, dass die knappen Wasservorräte und das wenige an Fleisch, das sie noch besaßen steinhart gefroren war und kalt genug, dass sich keiner der beiden mehr daran erinnern konnte, wann sie sich zum letzten Mal warm und wohl gefühlt hatten. Doch immerhin besaßen sie ein Kohlebecken und sie hatten Knochen genug gefunden, um Glut zu bekommen. Glut und etwas Wärme, zugleich aber auch einen beißenden und stinkenden Qualm, der einem die Augen tränen ließ und das Gefühl vermittelte, man müsste jeden Augenblick ersticken.
Auf der einen Seite des Kohlebeckens saß ein alter Mann, der in seiner Jugend ein beeindruckender Riese gewesen sein musste, das war immer noch zu sehen. Doch jetzt war sein Haar strähnig geworden, dünn und grau und er hatte gerade in diesem Winter mindestens ein Drittel seines Gewichtes verloren. Seine ehedem starken Zähne taugten nicht mehr viel und hatten begonnen auszufallen und damit konnte er seinen Körper auch nicht mehr mit ausreichend Nahrung versorgen und was er zu sich nahm, war schlecht gekaut. Wer ihn früher gesehen hatte, wenn er – mehr als sieben Fuß groß und mit unglaublich breiten Schultern – seine beiden Schwerter schwang oder mit seinem Freund und Begleiter Kampfübungen von atemberaubender Akrobatik absolvierte, konnte sich kaum mehr vorstellen, dass dies derselbe Mann war, der hier am Kohlebecken in einem alten Filzzelt kauerte. Er hatte einen uralten, von Motten zerfressenen Pelz um sich gewickelt und starrte trübe vor sich hin.
Es war nicht nur der Pelz der unansehnlich und alt geworden war, die gesamte Kleidung des Mannes war zerschlissen und verbraucht und hätte eigentlich komplett ersetzt werden müssen. Das Leder seiner Leggins war speckig und dünn, sein Jagdhemd hatte längst sämtlich Fransen und Stickereien verloren, nur seine Waffen waren noch in gutem Zustand. Das lange Messer im Gürtel, die beiden Schwerter, die neben ihm am Boden lagen, sie steckten in gut geölten Scheiden und waren sicherlich bereit, jederzeit eingesetzt werden zu können.
Der Mann war innerhalb dieses einen, letzten Winters alt geworden und hatte einfach begonnen zu zerfallen.
Sein Begleiter war offenbar deutlich jünger und in einer viel besseren Verfassung, obwohl auch ihm Gewicht fehlte und obwohl auch mit seiner Kleidung und Ausrüstung nicht mehr viel Staat zu machen war. Sein Haar war pechschwarz und ohne auch nur eine graue Strähne darin. Seit Haut war immer noch glatt und gebräunt und seine Zähne weiß, stark und fest. Man konnte ihn auf allerhöchstens vierzig, keinesfalls aber auf mehr als fünfzig Jahre schätzen, während der andere, der Große, vielleicht schon auf die Hundert zuging.
Der Jüngere trug ein nahezu identisches Jagdmesser am Gürtel, wie der alte Mann, doch darüber hinaus waren keine Waffen an ihm zu entdecken.
Doch, halt, neben dem Eingang des Zeltes hingen nebeneinander mehrere wuchtige Bogen aus schwarzem Horn an ihren Haken und daneben jeweils zwei große Köcher voller Pfeile. Einer davon gehörte sicher dem alten Mann, ein anderer also dem jüngeren der beiden. Aber es hingen noch zwei weitere Bogen mit den dazu gehörenden Köchern dort und es war nicht festzustellen, wem diese Geräte gehörten. Neben den Bogen lehnten zwei unterschiedlich große, am stumpfen Ende gefiederte Speere an der Zeltwand und neben den Speeren zwei gut einen Arm lange Stöcke mit einem Knauf und einem Dorn am oberen Ende und einer Griffschlaufe am unteren.
Zwei aufgerollte Seile aus geflochtenem Leder, die sich an einem Ende in drei, gut fünf Fuß lange Schwänze teilten und an denen drei runde, glatt polierte Steinkugeln befestigt waren, ergänzten das kleine Arsenal.
Die auffälligsten Waffen an dieser Wand aber waren vier wundervolle Schwerter von etwas unterschiedlicher Größe. Schwerter, die zu Kriegern aus einem unendlich fernen Land und einer längst vergessenen Zeit gehören mussten. Zwei lange und zwei kurze Klingen. Wenn man die Schwerter aus ihren Scheiden nahm, konnte man sehen, dass sie nur einseitig geschliffen waren, aber auch, dass sie von überragender Schärfe sein mussten. Es waren dies die Klingen von Schwertkämpfern, die ihre Waffen zu gebrauchen wussten und für die der Schwertkampf mehr bedeutete, als die bloße Auseinandersetzung zum Zweck des Tötens.
Kriegswaffen oder Jagdgeräte, wie immer man diese Utensilien sehen wollte. Die Schwerter waren sicherlich Kriegsgerät. Wo aber waren die Krieger, die mit diesen Waffen zu kämpfen wussten? Die dicke Staubschicht auf den schwarzen Scheiden ließ erkennen, dass sie sehr lange nicht mehr benutzt worden waren.
Auch der jüngere Mann hatte einen großen Pelz um seine Schultern geschlungen und dieser Pelz befand sich – wie die Kleidung des Mannes - ebenfalls in einem gerade noch vertretbaren Zustand. Dennoch war dem Pelz anzusehen, dass er einstmals zu einem außergewöhnlichen Tier gehört haben musste. Ehedem hatte dieser, in silbergrauem Glanz schimmernde Pelz zu einem Tier gehört, wie es weit und breit auf diesem Teil der Welt nicht zu finden war. Einem mächtigen Tier von einer gewaltigen Größe. Einer Größe, die selbst der Größe der weißen Bären des ewigen Eises kaum nachstehen mochte.
Es war still im Zelt. Sehr still. Das Heulen des Wintersturms war bei weitem das lauteste Geräusch das zu hören war und auch dieses Geräusch war durch den dicken Filz des Zelts gedämpft.
„Du willst dich also tatsächlich davon machen, Bruder?“
Der Jüngere hatte diese Frage gestellt, der Ältere antwortete. Allerdings nicht sofort. Erst nach geraumer Zeit hob er den Kopf, sah dem Freund und Ziehbruder, der ihm so gelassen gegenüber saß, mit triefenden Augen ins Gesicht und antwortete mit einem tiefen, immer noch dröhnenden Bass:
„Was bleibt mir denn noch zu tun?
Es ist alles längst getan, was ich tun musste und der Schmerz in meinen Eingeweiden tobt immer schlimmer. Ich mag aber nicht mehr leiden und deshalb ist es an der Zeit, dass ich gehe. Die Zeit so vieler guter Männer ist schon gekommen, so viele Freunde sind von uns gegangen, meine Frau hat mich schon vor unendlichen Jahren allein gelassen und reitet durch die sonnigen Steppen ihrer Jenseitswelt. Deine Frau ist ebenfalls in die tannengrünen Gefilde ihrer Geistheimat verschwunden und wartet dort seit endloser Zeit auf dich.
Was also hält mich noch auf dieser Welt?“
„Ich?“
„Du? Ja, dir zuliebe würde ich auch noch bleiben. Aber schau uns an. Ich bin innerhalb weniger Monde ein Greis geworden, den das Gift einer schlitzäugigen Hexe von innen heraus zerfrisst, während du immer noch in bestem Saft zu stehen scheinst. Ich wäre nur noch ein Ballast für dich, wenn ich bliebe und wer weiß, am Ende würde uns die Hexe doch noch finden und dann wärst auch du verloren. Muss das sein? Ich sage nein, das muss es nicht. Deshalb werde ich diese Welt verlassen und zusehen, dass ich meinen Clan und meine Freunde wieder finde und ich werde das Zelt errichten und dich erwarten. Meine Schwester hat mich schon gerufen und auch mein Vater hat schon ein paar Mal nach mir fragen lassen. Es ist an der Zeit, dass ich gehe.“ „Ich weiß ja, dass du Recht hast, Bruder. Auch ich sehne mich danach, diese Welt verlassen zu können und endlich meine Ruhe zu finden. Auch ich habe genug von all den Kämpfen, der ewigen Unrast, den unendlichen Wanderungen und der vielen Verluste, die wir erleiden mussten. Doch mir ist es scheinbar noch nicht vergönnt und so fällt es mir schwer, dass ich einen Weg ohne dich zu Ende gehen muss, wo du doch seit meinem ersten Schrei bei mir warst. Bruder, ich wünsche dir deshalb eine bessere letzte Reise, als du sie mit mir hattest. Gib mir noch einmal deine Hand und dann mach dich auf den Weg. Lass die Schmerzen und Qualen hinter dir und grüße mir unser Land.“
Der alte Mann nickte bedächtig und antwortete wieder erst nach einer langen Pause:
„So soll es sein Bruder. Ich bitte dich aber noch um eines. Nimm meine Schwerter an dich und trage sie, bis du einen würdigen Platz findest, sie ebenfalls zu bestatten. Ich will nicht, dass sie in diesem verfluchten Land bleiben. Nimm auch meinen Dolch an dich, denn in ihm steckt immer noch ein Teil meiner Seele. Meinen Bogen aber verbrenne und wärme dich an seinem Feuer, vielleicht hilft dir dies, die Kälte zu überstehen. Bestelle den Wölfen meinen letzten Gruß, falls sie wieder kommen und nun soll es genug der Worte sein. Lass mich gehen.“
Der Alte reckte seine einstmals mächtige und nun seltsam dürr gewordene Pranke über das Kohlebecken und der Jüngere ergriff sie mit beiden Händen und hielt sie mit festem Druck lange fest. Dann sagte er leise:
„Leb wohl, mein Bruder, die Sonne mag dich küssen, wenn du dein Ziel erreicht hast.“ „Leb wohl mein Bruder und hör nicht auf den Weg zum Leben zu suchen.“
Die Hand des alten Mannes entglitt den Fingern des Jüngeren, dann legte sich der Alte mit einem Seufzen zurück und schloss die Augen, um sie nie mehr zu öffnen.
Der Jüngere starrte mit blinden Augen vor sich hin und kam sich unsäglich einsam und hilflos vor. Beinahe eintausend Jahre lang war er über die Erde gewandert und stets war sein Bruder an seiner Seite gewesen. Sie hatten wilde Schlachten geschlagen, ein mächtiges Reich zerstört und waren um die ganze Welt gezogen. Sie hatten Länder gesehen und Wunder, von deren Existenz nur wenige Menschen wussten und sie hatten Ereignisse überstanden, die ihnen auch dann niemand geglaubt hätte, wenn es lebende Zeugen dafür geben würde.
Diese Zeiten waren vorbei, denn sein Bruder war von ihm gegangen, jetzt war er endgültig der letzte Überlebende der Grazalema und des Clans.
Er hätte weinen wollen, doch wer hat jemals einen Krieger weinen sehen? Er hätte sich in seinem Bärenfell verkriechen wollen, doch selbst der Bär hatte ihn seit langem schon verlassen. Auch in die Erde konnte er sich nicht eingraben, denn diese war zu eisenhartem Stein gefroren und selbst mit den Schwertern seines toten Bruders wäre es ihm schwer gefallen, eine Grube auszuheben.
Er starrte blicklos vor sich hin und war außerstande, einen Sinn für die Fortführung seines eigenen Lebens zu erkennen. Doch da, ganz so als stellte es eine Antwort auf seine unausgesprochenen Fragen dar, ertönte draußen ein Geräusch, das selbst im Sturmgeheul noch zu hören war. Der zweistimmige Gesang von Wölfen drang in das Zelt und mit einem Mal wusste der Mann, dass es für ihn noch nicht an der Zeit war, zu gehen.
Er hatte noch eine Reihe von Aufgaben vor sich, die es zu erledigen galt.
Die Jurte brannte lichterloh und in ihren steil in den kalten Himmel der Tundra aufsteigenden Rauch mischte sich der Geruch von brennendem und vergehendem Fleisch. Die Rauchsäule verfärbte sich zu einem öligen Schwarz und dann war der Mann sich plötzlich ganz sicher, dass die schwarzen Schlieren in der senkrecht aufsteigenden Säule die Form eines Mannes annahmen. Eines mächtigen Riesen, dessen gewaltiger Brustkorb von einem außerirdischen Lachen gedehnt wurde und aus dessen rauchgrauen Augen Blitze der überschäumenden Freude schossen.
„So hast du den Weg also gefunden Bruder? Grüße mir die Heimat, lass sie wissen, dass auch mein Weg sein Ende finden wird und wir schon bald wieder gemeinsam jagen werden.“
Der Mann hatte einen großen Schlitten mit seinen Habseligkeiten bepackt und vor diesem Schlitten warteten vier starke Rentiere darauf, eine lange Reise zu beginnen.
Vor zwei Tagen war der alte Mann in den Abendstunden gestorben. Eine Nacht lang hatte der Überlebende sich seiner Trauer hingegeben, dann, als am nächsten Morgen die blasse Sonne des bevorstehenden Frühjahrs sich ihren kurzen Weg entlang des östlichen Horizontes bahnte, als die seit Monden anhaltende Mittwinternacht eine erste wahrnehmbare Unterbrechung erfuhr, war der Mann aus der Lethargie seiner Trauer erwacht und hatte begonnen, seinen endgültigen Abschied vom Freund und Bruder vorzubereiten.
Die vier Rentierbullen waren ihnen seit langer Zeit treue Weggefährten gewesen. Je zwei von ihnen hatten einen Schlitten gezogen, doch der Mann benötigte für sich allein nur noch einen Schlitten. Er packte seine Habe zusammen, seine Jagdwaffen und Felle und alles, was noch an Essensvorräten vorhanden war. Er packte den Schlitten sorgfältig und deckte die Last mit dem großen, silbergrauen Bärenfell ab, welches ihn auf all seinen Wegen begleitet hatte. Er hüllte sich in die zwar zerschlissene aber immer noch halbwegs warme Reisekleidung aus Rentierfellen, die ihm seine letzte Gefährtin, die mandeläugige Sorcha genäht hatte, dann legte er Feuer an der Außenhaut der Jurte und sah zu, wie die Rauchsäule aufstieg und sich mit den dichten und tiefhängenden Wolken der zu Ende gehenden Polarnacht vereinigte. In seiner Linken hielt er einen mannslangen, geraden Stab, der von zahllosen Kerben übersät war. Der Stab war aus dem Holz einer andalusischen Korkeiche geschnitten worden und seine Kerben sagten dem Wissenden, welche Zeit seit seiner Herstellung vergangen war.
Der Mann mochte es selbst nicht so recht glauben, aber er wusste, dass er diesen Stab seit seinem Abschied von Al Andalus, immer sehr sorgfältig geführt hatte. Am frühen Morgen hatte er die Kerben wieder einmal gezählt und so wusste er, dass seit dem Tag, an dem er bei Cadiz den Drachen bestiegen hatte, welcher ihn zusammen mit einer kleinen Streitmacht zur nebligen Insel gebracht hatte, ganz genau achthundertsechsundneunzig Jahre vergangen waren. Damals war er vierundzwanzig Jahre alt gewesen und somit bestand kein Zweifel daran, dass sein aktuelles Lebensjahr das neunhundertundzwanzigste war.
Ein unfassbares Alter.
Nur sein Bruder war ihm noch ein paar Jahre – sieben an der Zahl – voraus gewesen und wenn er nun zurückblickte, wusste er, dass es kein Segen gewesen war, so alt werden zu dürfen. Die Reihe der Menschen und anderer Lebewesen, die er auf seinem Weg durch die Jahrhunderte hatte zurücklassen müssen, war ungeheuer lang und voller schmerzlicher Erinnerungen.
„Eigentlich ist mir nur der ewige Himmel geblieben. Nur er war mir treu, nur er hat mich auf all meinen Wegen begleitet und mich niemals verlassen.“
Während seine Blicke dem Rauch hinauf in den Himmel folgten, begann vor seinem inneren Auge die Zeit rückwärts zu laufen.
Die Wölfe an seiner Seite hatten sich vierzehn Mal erneuert, seit sie im Tal der grauen Bären zum ersten Mal seinen Weg gekreuzt hatten.
Shaitan, den wundervollen schwarzen Hengst von uraltem iberischen Blut hatte er bei seiner Abreise nach Anglialbion zurücklassen müssen und auch den prächtigen Vollblüter Dunbeath konnte er damals auf seine Reise nach Norden nicht mitnehmen.
Eine Reise, die nur einem einzigen Zweck gedient hatte.
Die Schwerter der Macht waren aus der Welt zu schaffen, denn ihre Macht war zu groß, um von Menschen beherrscht zu werden. Obwohl irgendwann eine Idee des Guten die Herstellung der Schwerter begünstigt hatte, waren sie in den Händen von Sterblichen zu Werkzeugen des Bösen verkommen.
Shandra erinnerte sich an die Menschen, die ihn auf diesem Weg begleitet hatten.
Jelena, die Reusin, die Gefährtin seines Bruders, die untrennbar mit ihnen verbunden gewesen war, zu ihnen gehört hatte wie die Haare zu einem Schädel, war nur knapp zweihundert Jahre alt geworden. Sie war eines natürlichen Todes gestorben, denn ihre Gene waren nicht auf eine ähnliche Langlebigkeit programmiert gewesen, wie die ihrer Gefährten.
Seine geliebte Shakira war diejenige unter den Menschen gewesen, die - neben seinem nun ebenfalls von ihm gegangenen Bruder – am längsten an seiner Seite gewesen war. Mehr als sechshundert Jahre waren sie Seite an Seite über die Erde gewandert, ehe sie dem heimtückischen Fluch und dem tödlichen Gift einer von abgrundtiefem Hass getriebenen Schamanin zum Opfer gefallen war.
Sorcha, die Frau aus Karakorum, die Enkelin der Schamanin Sungaeta war ebenso am Gift der Hexe gestorben, wie die vier Söhne und drei Töchter, die aus seinem Samen entstanden waren.
Kithuri, Sorchas jüngere Schwester hatte ebenfalls sterben müssen und mit ihr die beiden Töchter und der Sohn, Kinder aus den Lenden seines Bruders. Auch sie waren dem Hass der Schamanin zum Opfer geworden.
Natürlich waren das nicht alle Menschen und Tiere, die er hinter sich gelassen hatte, doch der Tod gerade dieser Menschen machte ihm besonders zu schaffen.
Der Mann spürte ein trockenes Würgen in seiner Kehle und aus den Tiefen seines Ichs stieg der brennende Hass in unverminderter Schärfe auf, ganz so wie er ihn in all den Jahren seit Shakiras Tod immer empfunden hatte.
„Sungaeta, die Zeit meiner Rache ist also gekommen. Jetzt, da auch mein Bruder mich verlassen hat, macht es keinen Sinn mehr, mich weiter zu verstecken. Ich werde mir zurück holen, was mein ist und ich werde die Rache vollstrecken, die ich dir am Totenfeuer Shakiras geschworen habe. Dreihundert Jahre habe ich gewartet, nun macht es keinen Sinn mehr, weiter zu warten.“
Der Mann hatte nie ergründen können, wodurch er sich den Hass und die Wut Sungaetas zugezogen haben mochte, doch ihre immerwährenden Angriffe auf ihn selbst und auf die Menschen, die ihm nahe standen, waren Fakt und nicht wegzudiskutieren.
Ja, jetzt war er endgültig allein, frei und ungebunden. Jetzt konnte er seine Rache vollziehen und er schwor es vor sich selbst.
„Beim ewigen Himmel, der mein Begleiter durch alle Abschnitte meines Lebens war, schwöre ich es. Ich, der ich einst Shandra el Guerrero war, werde dich, Sungaeta dorthin stoßen, wohin du einzig und allein gehörst. Die tiefste Schwärze des Vergessens soll über dich kommen und wenn ich meine Rache erfüllt habe, wird es sein, als hättest du niemals einen Fuß auf die Erde gesetzt. Ich werde dich auslöschen und mit dir jedwede Erinnerung in den Gedächtnissen von Menschen und Tieren, die dir begegnet sind. Dies wird meine Rache sein und ich schwöre, sie wird vollständiger sein, als alles was ich je im Leben getan habe.“
Langsam trat der Mann, der sich selbst Shandra el Guerrero genannt hatte, noch ein paar Schritte näher an die wabernde Flammenwand heran, die seinen toten Ziehbruder Rollo in dessen Geistheimat gebracht hatte und wärmte sich die bloßen Hände. Lange würden die Flammen nicht mehr anhalten, das wenige an Nahrung, das die Jurte zu bieten gehabt hatte, war nahezu aufgebraucht und wenn die letzte Flamme aufgezüngelt war, würde er das kleine Horn einer Antilope mit der noch warmen Asche füllen, das Horn gut verschließen und sich dann auf den Weg machen, um seine letzte Aufgabe zu beginnen.
Der ewige Himmel sollte ihn begleiten und die Rentiere seine Lasten ziehen. Er hatte die Waffen von der Wand der Jurte genommen, auch den Bogen und die Pfeile seines Bruders, denn er brachte es nicht fertig, ein Gerät zu zerstören, das ihn und den Bruder so viele Jahrhunderte lang begleitet hatte. Er fragte sich zwar insgeheim, ob es jemals einen Menschen geben würde, dessen Kraft ausreichte, um diesen Bogen zu spannen und einen Pfeil von ihm abzuschießen, aber das waren Gedanken, über die sich andere den Kopf zerbrechen mochten, wenn es an der Zeit dazu war. Es waren die Waffen eines Helden und sie zu zerstören wäre ihm wie ein Sakrileg vorgekommen. So lag alles was er noch besaß gut verpackt auf dem Schlitten. Vier starke Rentiere würden ihn trotz seines beträchtlichen Gewichtes mühelos ziehen können. Der Krieger stellte seine Füße auf die Kufenenden des Schlittens und schnalzte mit der Zunge, ehe er einen gellenden Schrei ausstieß. Der Zeitpunkt war gekommen, der Schrei war das Signal für die Rentiere und mit einem mächtigen Ruck warfen sie sich in die Riemen, krachend lösten sich die festgefrorenen Kufen des Schlittens vom Schnee und dann waren sie unterwegs
Nun ging es endgültig nach Süden. Die beiden starken Wölfe begleiteten ihn, sie mochten ihm den Rücken frei halten. Über mehr Hilfe verfügte er nicht, mehr würde er auch nicht brauchen.
Shandra lenkte den Schlitten nach Südwesten und der ewige Himmel bestätigte ihm, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Plötzlich und absolut ungewöhnlich für die Jahreszeit riss die graue Wolkendecke auf und die gewaltige Kuppel des stahlblauen Himmels wurde sichtbar. Es war nur ein kurzes Aufblitzen, nur ein jäher Augenblick, doch er genügte Shandra als Zeichen.
Ein leises Lachen kam aus seiner Brust, er fühlte die Befriedigung in seiner Brust aufsteigen, er wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Die Tundra frisst zuerst die Seele der Menschen, ehe sie deren Körper verschlingt.
Die Angehörigen des Rentiervolkes, mit denen Shandra sich in den letzten beiden Jahrhunderten mehr oder weniger regelmäßig getroffen hatten, verbreiteten diese These in all ihren Geschichten und Legenden.
Im kurzen, heißen Sommer war die Tundra ein menschenfeindliches Ungeheuer aus bodenlosem Morast, aus alles verschlingenden Sümpfen und aus Flüssen und Strömen von geradezu ungeheuerlichen Ausmaßen. Myriaden von blutsaugenden Insekten, winzige Kriebelmücken aber auch Moskitos von der Größe eines kleinen Vogels bildeten den Hauptanteil des tierischen Lebens während dieser Zeit. Nur ein Narr hielt sich während des Sommers in der Tundra auf.
Der Winter erst machte die Tundra passierbar. Ein über Monate hinweg stetig und stark blasender Nordostwind buk Schnee und Eis zu einer festen Masse zusammen, die auch das Gewicht eines schweren Schlittens und die Tritte von Mensch und Tier tragen konnte. Der Winter sorgte so dafür, dass man die Sümpfe durchqueren konnte, ohne von den Moorhexen verschlungen zu werden. Allerdings war es alles andere als ein Vergnügen, die endlosen Weiten der Tundra vor Augen zu haben und nicht an der Erkenntnis zu verzagen, dass man selbst allenfalls ein Nichts angesichts dieser schieren Unendlichkeit darstellte.
Die Kälte saugte den Menschen die Kraft aus den Knochen und raubte ihnen den Mut. Es war so kalt, dass selbst ausgespuckter Speichel als klirrender Eisbrocken zu Boden fiel. Die Kälte und der Wind sorgten zusammen dafür, dass die Schneedecke der Tundra nur dünn blieb und nur aus diesem Grund zog es Winter für Winter riesige Herden von Rentieren und Karibus aus den Steppen und Wäldern hinaus in die Tundra. Unter der harten, aber dünnen Schneeschicht fanden die Tiere auch im strengsten und tiefsten Winter Moose und Flechten genug, um satt zu werden und die lange Polarnacht zu überstehen.
Der Mensch, welcher sich in dieser Jahreszeit daran machte, die Tundra zu durchstreifen, musste mehr mitbringen als nur den Glauben an sich selbst und an die eigene Unbesiegbarkeit. Kraft und schier unendliche Ausdauer waren ebenso charakteristisch für die Angehörigen der Rentiervölker, wie stoische Geduld, die man andernorts vielleicht eher als dumpfen Starrsinn bezeichnet haben würde.
Ein Mensch in der Wintertundra musste in der Lage sein, bei ununterbrochener Finsternis unter einem wolkenverhangenen, bleigrauen und tiefhängenden Wolkenhimmel seine Richtung bestimmen zu können. Wer dazu nicht in der Lage war, den verschlang die Tundra ohne Gnade.
Ein Mensch in der Wintertundra, musste damit zurechtkommen, dass die unnatürliche Weite auch unnatürlich still war. Das ununterbrochene Heulen des Nordostwindes stellte das alles beherrschende Geräusch dar. Ein Geräusch, das nur ganz selten unterbrochen wurde von dem Klappern der Geweihe umherziehender Karibu- und Rentierherden, von einem vereinzelt aufsteigenden Wolfsgesang oder vom Knacken brechender Eisschichten.
Die Bilder der Wintertundra verwirrten den Geist, denn der Wind ließ immer wieder und wie aus dem Nichts Schneehosen aufsteigen, jagte sie entlang des Horizontes und ehe ein Auge diese Windgeister wirklich erfassen konnte, waren sie schon wieder verschwunden.
All das zusammen ließ die Tundra zum Feind der Menschen werden.
Zum Feind der Menschen jedenfalls, die nicht den Rentiervölkern angehörten.
Shandra und Rollo hatten die Zeit genutzt, die sie gezwungener Maßen in dieser unwirtlichen Wildnis verbracht hatten. Sie hatten gelernt, die Tundra genauso zu akzeptieren, wie es ihnen die Nomaden der Rentiervölker vorlebten. Doch Rollo war gegangen, sein Weg in dieser Welt war zu Ende gewesen und Shandra war allein zurückgeblieben. Nur Geri und Freki, die beiden Wölfe, die ihn seit achteinhalb Jahrhunderten begleiteten, waren noch an seiner Seite, nur sie trugen dazu bei, Shandras Verstand zu erhalten, ihn vor dem Wahnsinn der Nacht, der Kälte und der Einsamkeit zu bewahren.
Shandra überließ es den Rentieren vor seinem Schlitten, die Reisegeschwindigkeit zu bestimmen. Er sorgte nur dafür, dass sie in Bewegung blieben und den Schlitten in die von ihm gewünschte Himmelsrichtung schleppten.
Am frühen Nachmittag des neunzehnten Reisetages erreichte er trotz seines durchschnittlich gemächlichen Tempos zum vierten Mal das Ufer des womöglich gewaltigsten Stroms, den ein Mensch je zu Gesicht bekommen haben mochte. Der Jenizzei mäanderte durch die Tundra wie eine gewaltige Schlange und sein Bett stellte auch jetzt, da der Strom immer noch von einer mehrere Klafter dicken Eisschicht gefangen gehalten wurde, eine unübersehbare Landmarke dar und zugleich ein Hindernis auf dem Weg, das überwunden werden wollte.
Eine unendliche weiße Fläche, eine unfassbare Weite, scheinbar ohne jede Unebenheit erstreckte sich bis an den Horizont. Eine Ebene, die jedem Betrachter zu sagen schien:
„Komm, trau dich und betritt mich. Dringe ein in mein Reich und erlebe, wie ich dich vernichte, ohne dass ich mich dazu auch nur im Geringsten rühren müsste.“
Neunzehn Tage waren vergangen, seit Rollo im Rauch des Feuers zu seinen Ahnen gegangen war. Neunzehn Tage auch, da sich zum ersten Mal ein rosaroter Streifen am östlichen Horizont des Himmels der Polarnacht gezeigt hatte und nun lag die Tag- und Nachtgleiche des Frühjahrs nicht mehr fern. Jeder Tag wurde durch ein wenig mehr Licht erhellt und die Lufttemperatur stieg ganz allmählich bis in den Bereich, da das Eis zu schmelzen beginnen würde.
Shandra erkannte, dass die Zeit vorüber war, da er in gemütlichem Tempo durch die im Frost erstarrte Tundra bummeln und zugleich seinen Gedanken nachhängen konnte.
Vier Tage, so schätzte er, müssten genügen, um den Jenizzei ein letztes Mal zu überqueren und danach sollte er in der Lage sein, in höchstens zehn Tagen den Anstieg zum Waldland, zur Taiga zu überwinden und den Saum des Urwaldes zu erreichen.
Dort würde er seinen Schlitten entladen und all sein Hab und Gut zu vier Packlasten bündeln müssen, welches er den Rentieren auf den Rücken schnallte. In der Taiga war es unsinnig, sich mit einem Schlitten auf eine Reise zu begeben.
Die Taiga stellte eine weitere Herausforderung für Geist und Körper eines Reisenden dar. Niemand vermochte das Alter der Bäume auch nur zu erahnen, die in diesem Gebiet wuchsen. Sicher war nur, dass das Alter dieses gewaltigen Urwalds nicht in Jahrhunderten sondern in Jahrtausenden zu bemessen war. Die Bäume ragten bis in den Himmel und das Unterholz war zumeist so dicht, dass ein Wanderer froh sein musste, wenn er zu Fuß und mit Packtieren durch kam.
Shandra war mehrfach bis tief in die Taiga hinein vorgestoßen, doch dann hatte er immer wieder umkehren müssen, weil der Bannzauber der Hexe Sungaeta ihn dazu gezwungen hatte.
Jetzt, da er am Ufer des Stroms stand, erzeugte der Gedanke an Sungaeta ein grimmiges Lächeln auf Shandras Gesicht. Ein Lächeln allerdings, das selbst unter wohlmeinendsten Umständen niemals als Ausdruck der Freundlichkeit zu deuten gewesen wäre.
Rollo war gegangen und damit hatte der Bann der Hexe den größten Teil seiner Wirkung auf Shandra verloren.
Während die Rentiere den schweren Schlitten in flottem Tempo über das Eis des Jenizzei zogen, hing Shandra seinen Gedanken nach.
Sungaeta war vermutlich die mächtigste unter den zahlreichen Hexen der Rentiervölker. Sie war eine Schamanin, die in innigster Verbindung zu den Welten der Geister und Dämonen stand, so sagte man und sie war uralt. Vielleicht sogar älter als Shandra. Sie wusste von Ereignissen aus angeblich eigenem Erleben zu berichten, die schon weit in der Vergangenheit lagen, als Shandra geboren worden war und sie schien allwissend zu sein. Sie kannte unzählige Einzelheiten aus Shandras Leben. Sie wusste um seine Herkunft und sie wusste um den Verbleib von Shaktar und Sombra. Sie wusste um die Schlachten und Kriege mit den Anglialbions und um Shandras Siege.
Sie wusste aber nichts über den Verbleib der magischen Klingen und das war es vermutlich gewesen, was sie zu Shandras erbitterter Feindin werden ließ.
Als die vier Freunde auf ihrer Reise nach Süden das Land Sibirsk durchwanderten und eines Tages die Siedlung Karakorum erreichten, ein Städtchen mit ein paar hundert Einwohnern und zwei Dutzend Handelsposten verschiedener Pelzhändler aus aller Herren Länder, waren sie von Sungaeta bereits erwartet worden.
Sungaeta war nicht nur Schamanin, sie war zugleich die Herrscherin über Karakorum und über die nördlichen Sippen der Rentiervölker. Ihr Ziel aber war es, die Herrschaft über alle Rentiervölker zu gewinnen und dazu wären die magischen Klingen –wenigstens eine von ihnen – mehr als nur gute Helfer gewesen.
Die Freunde waren in Karakorum zunächst gut empfangen und im Hause der Schamanin untergebracht worden. Sungaeta hatte große Bankette veranstaltet, um ihre weitgereisten Gäste zu ehren und sie hatte Shandra ins Vertrauen gezogen und ihm ihre Pläne offenbart. Ohne jeden Zweifel war sie von der Ausstrahlung des Kriegers zutiefst beeindruckt gewesen und ließ nichts unversucht, um ihn an ihre Seite zu bringen.
Sungaeta bewies Geduld und Einfühlungsvermögen und sie akzeptierte, dass Shandras Bindung an Shakira und seine Zusammengehörigkeit mit Rollo und Jelena von größerer Bedeutung waren als alles andere.
Sie bewies aber auch taktisches Geschick, denn ohne dass es den Freunden bewusst geworden wäre, hatte sie einen Bannzauber gewoben und dafür Sorge getragen, dass keiner ihrer Gäste auch nur auf die Idee kam, Sibirsk wieder zu verlassen. So vergingen die Monde und die Jahre und dann kam, was kommen musste.
Jelena begann zu altern und starb.
Rollo trauerte zusammen mit Shandra und Shakira viele Jahre lang um die Gefährtin, doch dann begegnete er der jungen Kithuri und begann sich langsam über den Verlust der blonden Reusin hinweg zu trösten.
Sungaeta beobachtete und versuchte immer wieder an das Geheimnis der magischen Klingen zu gelangen, doch was immer sie anstellte, sie biss auf Granit. Weder Rollo noch Shakira – von Shandra ganz zu schweigen – gaben ihr auch nur den kleinsten Hinweis über den Verbleib der Schwerter.
Da begann Sungaeta ärgerlich zu werden.
Eines Tages verschwanden die beiden wertvollsten Besitztümer Shandras spurlos aus dem Zelt der Freunde. Sowohl die kleine Rolle mit der magischen Haut als auch das Horn Olifant wurden am hellen Tag entwendet und tauchten nicht mehr auf.
Dann begann es Shakira schlecht zu gehen.
Zuerst war es nur eine einfache Erkältung, doch aus dieser wurde innerhalb kurzer Zeit ein echtes Siechtum und da die Haut verschwunden war, besaß Shandra keine Möglichkeit, seiner Gefährtin zu helfen.
Sungaeta ließ keinen Zweifel daran, dass sie Shakira zwar hätte helfen können, aber sie war nicht bereit dies ohne Gegenleistung zu tun.
„Geh und hole die magischen Klingen aus ihrem Verlies und übergib sie in meine Hände, dann mag deine Geliebte wieder gesund werden und noch viele Jahre an deiner Seite leben. Andernfalls …“
Ein gelangweiltes Achselzucken ließ offen, was die Alternative zu Sungaetas Forderung sein mochte.
Shakira starb innerhalb eines Jahres und Shandras Wut auf die Hexe war groß. So groß, dass er, nur um die Hexe zu ärgern, innerhalb weniger Monate eine andere Urenkelin Sungaetas in sein Bett holte. Sorcha war in vielen Dingen eine getreue Kopie Shakiras und ihr gelang, was Shakira nie gelungen war. Sie wurde von Shandra schwanger und gebar in sieben aufeinander folgenden Jahren sieben Kinder.
Auch Kithuri wurde von Rollo zur Mutter gemacht und mit jedem Kind, welches die beiden jungen Frauen zur Welt brachte, wurde Shandras Weigerung zur Preisgabe seines Geheimnisses konsequenter.
„Diese Schwerter dürfen niemals wieder in die Hände von Menschen gelangen, denn kein Mensch ist stark genug, der ungeheuren Macht der Klingen auf Dauer zu widerstehen. Eine der Klingen in deiner Hand wäre eine Bedrohung für dein Volk. Zwei der Klingen stellten bereits eine Bedrohung für die Menschheit dar und der Besitz aller Klingen würde diese Welt aus den Angeln heben. Nein, Sungaeta, du magst betteln oder drohen, du magst süß sein oder voller Wut, niemals werden wir dir die Klingen ausliefern. Nicht dir und auch nicht jemand anderem. Ich habe sie versiegelt und sie sollen bis ans Ende aller Zeit in dieser Versiegelung bleiben. Es ist dies die vernünftigste Lösung für alle.“
Sungaeta kochte vor Zorn. Ihre Wut, ihr Hass, aus grenzenloser Enttäuschung geboren sprengten alle Schranken der Vernunft. Eines Tages schickte sie Mörder aus und ließ Kithuri und ihre Kinder umbringen. Auch Sorcha und Shandras Nachkommen starben unter den Stichen und Hieben von Meuchelmördern, zugleich verhängte die Hexe einen wilden Fluch und Bannzauber über Shandra und Rollo. Sie ließ die beiden von ihren Schergen aus Karakorum hinaus in die Tundra jagen und verhängte den Bann über sie.
In Rollos Eingeweiden begannen urplötzlich wilde Schmerzen zu toben, welche durch nichts und niemand zu lindern waren und Shandra verlor jeglichen Mut und Willen, sich woanders als in den Weiten der Tundra aufzuhalten.
Rollos Sterben wurde zu einer schrecklichen Angelegenheit, denn die Kraft seines mächtigen Körpers machte es auch den Hexenkünsten Sungaetas nicht leicht. Sein Siechtum nahm kein Ende und Shandra saß wie willenlos, wie paralysiert dabei, beobachtete das Leiden des Freundes und fand nicht die Kraft, etwas dagegen zu unternehmen.
Rollos Tod, sein Abschied in die Geistwelt des Clans der Grazalema hatte letztlich den Fluch gebrochen. Shandra war wie aus einem bösen Traum erwacht und plötzlich in der Lage, seine längst beschworene Rache anzugehen.
Über all diesen Erinnerungen und Grübeleien verging Shandra die Reise wie im Flug.
Er war noch zwei Reisetage vom Saum des Waldlandes entfernt, als über ihm der erste große Keil der Wildgänse am roten Abendhimmel auftauchte und das Ende des Winters ankündigte.
Es begann zu tauen, das Wetter wurde von Tag zu Tag milder und der Schnee schmolz in rasender Geschwindigkeit, fast so schnell wie er im vergangenen Herbst gekommen war. Von den Flüssen und Strömen erklang Tag und Nacht das dröhnende Krachen des brechenden Eises und wenn die Eisschollen in der Strömung gegen einander geschmettert wurden, war das Ächzen und Knirschen bis zum Saum der Taiga hinauf zu hören. Die Tundra begann sich zu verändern und als sich Shandra am Rand der Taiga umwandte und auf seiner Spur zurück blickte, lag dort eine völlig andere Landschaft, als er sie in den letzten Tagen durchzogen hatte.
Die vorherrschende Farbe war ein dreckiges Braun, durchbrochen von tosenden, lehmgelben Fluten, reißenden Bächen, die rasch zu Flüssen, Strömen, ja zu wahren Meeren wurden.
Shandra hielt sich nur wenige Atemzüge lang damit auf, zurück zu blicken. Wichtig war nicht, was hinter ihm lag. Wichtig war, was ihn über kurz oder lang erwartete.
Zusammen mit Rollo war Shandra schon einige Male ins Waldgebiet vorgedrungen und bislang waren sie immer nach einigen Tagen von Sungaeta und ihren Helfern aufgehalten und zurück getrieben worden. Shandra hatte nie herausfinden können, auf welche Weise die Hexe von ihrem Eindringen in die Taiga erfahren hatte, doch wie auch immer, es war ihr nie verborgen geblieben. Aus diesem Grund nahm er an, dass sie auch diesmal erfahren würde, wo er, Shandra sich aufhielt und sie würde wie immer auftauchen und versuchen, ihn in die Tundra zurück zu zwingen.
„Du wirst dich wundern, Hexe. Diesmal wird alles anders sein als du es erwartest!“
Shandra hatte schon vor langer Zeit aufgehört, seine Kampfreflexe zu üben. In der Einsamkeit der Tundra hatte es nichts gegeben, gegen das zu kämpfen es sich gelohnt haben würde. Doch seit die Jurte verbrannt war und sein Ziehbruder diese Welt verlassen hatte, war in Shandra der alte Kampfgeist wieder erwacht. Er hatte seine Übungen wieder aufgenommen und jetzt, da er den entscheidenden Schritt in den Schatten des Urwaldes tun musste, war er bereit wie seit vielen hundert Jahren nicht mehr. Seine Muskeln, die Bänder und Sehnen waren wieder geschmeidig und belastbar, wie es sich für einen Krieger geziemte und seine Reflexe wieder so schnell wie die einer Katze. Seine Schwerttechnik war ein wenig anders, denn das Dai Katana, das Rollo getragen hatte, war eigens auf dessen hünenhaften Masse angefertigt worden. Shandra hatte gelernt, mit der mächtigen Klinge umzugehen. Auch mit den Wurfmessern und Shuriken hatte er wieder und wieder geübt und er war sich sicher, es auch mit einem Dutzend Gegnern zugleich aufnehmen zu können. Genau darauf aber, so nahm er an, musste er sich gefasst machen. Sungaeta würde ihn ganz sicher nicht ohne Helfer erwarten.
So weit war es allerdings noch nicht.
Auf Grund der früheren Erfahrungen rechnete er damit, ungefähr drei oder vier Tagesmärsche tief in die Taiga eindringen zu können, ehe er von Sungaeta gestellt werden würde. Dann erst musste er kämpfen. Bis dahin konnte er noch weiter üben.
Shandra übte und er suchte und fand auf seinem Weg durch die Taiga genügend Übungspartner, die ihm alles abverlangten. In den Wäldern lebten eine Reihe von Räubern, die in Shandra und seinen Rentieren eine leichte und am Ende des Winters hoch willkommene Beute zu erkennen glaubten und ihn oft ohne zu zögern sofort attackierten.
Zweimal waren es Schneeleoparden, dann ein starker Luchs, doch sie alle gingen leer aus. Auch ein kleines Rudel schwarzgrauer Wölfe versuchte sein Glück. Dann war es ein mächtiger Braunbär und am Morgen des vierten Tages begegnete er dem eigentlichen König der Taiga.
Ein gewaltiger Tiger, lehmgelb mit kräftiger, schwarzgrauer Zeichnung, einer nahezu rein weißen Kehle und ebenso fast weißen Tatzen tauchte am Grat eines mit dichtem Buchengestrüpp bewachsenen Hanges auf und beobachtete, wie sich Shandra mit seinen vier schwer beladenen Rentieren genau den Hang hinauf quälten. Kein Mensch ist in der Lage, die Mimik eines Tieres mehr als nur zu erahnen. Auch nicht ein so alter und erfahrener Krieger und Waldläufer wie Shandra. Aber Shandra verfügte über andere Möglichkeiten und, obwohl er diese über eine sehr lange Zeit hinweg nicht genutzt hatte, glaubte er zu erkennen, was hinter den leicht zugekniffenen gelben Augen der mächtigen Katze vor ging.
Wenn die kleine Truppe ihren Kurs nicht änderte, würde ihr praktisch im Rachen des Tigers münden und es hatte den Anschein, als freute sich das riesige Raubtier bereits auf eine leicht erbeutete Mahlzeit.
Shandra fixierte das riesige Tier, studierte es und fragte sich im nächsten Augenblick, auf welche Art er einen Angreifer dieses Kalibers am besten bekämpfen sollte. Zugleich wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er einem Gegner dieses Kalibers höchstens einmal in seinem langen Leben gegenüber gestanden hatte. Er gönnte sich den Luxus und ließ seine Gedanken kurz schweifen. Der graue Bär der Grazalema, dessen Fell ihn seit nunmehr länger als neun Jahrhunderten begleitete, mochte sich in einer ähnlichen Kategorie befunden haben, wie dieser sibirische Tiger dort oben auf dem Kamm.
Ein Entschluss musste gefasst werden und Shandra traf seine Entscheidung so, wie es sich für einen einstmals gefürchteten Krieger geziemte.
Er griff in die Führleinen der Rentiere und hieß diese anzuhalten. Als nächstes suchte er nach einer Möglichkeit zum Anbinden und da sich nichts anderes anbot, wickelte er die Leinenenden um einen großen Stein, der aus dem Firnschnee ragte.
Shandra legte langsam seinen schweren Mantel ab, dann begann er absolut zielstrebig den Hang hinauf, dem Tiger entgegen zu steigen.
Die riesige Katze beobachtete Shandras Bemühungen und Vorbereitungen mit ihren gelb funkelnden Augen ganz genau und ließ dabei dennoch keinerlei Merkmale von aufkommendem Jagdfieber oder dergleichen erkennen. Fast hatte es den Anschein, als würde die Katze es akzeptieren, wenn Shandra einfach weiter zöge. Doch Shandra wollte nicht einfach weiterziehen. Er suchte die Auseinandersetzung mit dem mächtigen Tier, denn er wollte wissen, wo er in Sachen Kraft, Schnelligkeit und Tötungswillen bereits wieder angekommen war. Gelang es ihm, dem Tiger standzuhalten, ihn vielleicht sogar zu besiegen, dann würde er auch mit einem halben Dutzend Schergen der Hexe keine größeren Probleme bekommen. Allerdings war es ihm nicht daran gelegen, den Tiger tatsächlich zu einem Kampf zu zwingen und ihn gar noch zu töten. Nur seine Reflexe wollte und musste er prüfen.
Solange der den Hang unter sich hatte, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als fast auf allen Vieren zu gehen. Der Hang war steil und unter der immer noch gut einen Fuß starken Schicht aus hartem Firn befand sich eine dicke Lage alten Laubes und herunter gefallenem Totholz, es war schwierig, sicheren Tritt zu finden. Es wurde erst besser, als er die Höhe des Grates erreicht hatte und sich nun auf Augenhöhe mit dem Raubtier befand.
Shandra richtete sich auf, atmete tief durch, pumpte frischen Sauerstoff in seine Lungen, ehe er sich langsam und voll angespannter Wachsamkeit auf den Tiger zu bewegte. Er setzte seine Füße voller Bedacht, er glitt nahezu lautlos auf den wartenden Gegner zu und da geschah etwas, das ihn beinahe aus der Fassung brachte.
Plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, begann sich die Welt zu verändern. Mit einem Mal fühlte sich sein Körper fast wie schwerelos an, in seinen Muskeln, Bändern und Sehnen erwachte eine fast schon ungeheure Spannkraft und Geschmeidigkeit. Seine Nase begann Gerüche zu registrieren, die er schon beinahe vergessen gehabt hatte und sein Gehör empfing Frequenzen von ungeahnter Bandbreite. Die Schärfe seiner Augen steigerte sich in geradezu beängstigender Weise und er war zudem in der Lage zusätzlich zu den normalen Farben auch das gesamte Wärmespektrum zu sehen.
Shandra konnte das unbeschreibliche Glücksgefühl kaum glauben. Er hätte jubeln können, laut hinaus schreien was er empfand, denn etwas für immer verloren Geglaubtes kehrte in diesen Augenblicken zu ihm zurück.
Das Herz des Bären hatte ihn verlassen, als er den weißen Wolf in den Tiefen des Polareises versenkt und für immer versiegelt hatte. Neunhundert Jahre war er ohne dieses Gefühl der überlegenen Kraft und der unbesiegbaren Instinkte auf der Welt herum geirrt und jetzt, in diesem Augenblick stellte er fest, dass er dieses Herz nie verloren hatte. Es war nur verschüttet gewesen.
Jetzt, ganz plötzlich, war der Bär in ihm wieder da.
Seine unerschütterliche Kraft, seine kaum zu überbietender Mut und dies alles gepaart mit der Schläue eines Königs der grauen Bären, war zu ihm zurück gekehrt und setzte die Begegnung mit dem Tiger in ein vollkommen anderes Licht.
Seltsam, aber auch der Tiger hatte die Veränderung in dem Menschen gespürt, der da auf ihn zu gekrochen kam. Zuvor hatte er Shandra vielleicht als ein leichtes Opfer betrachtet, eine Beute, die man – wie alle Menschen – einfach mal so, im Vorübergehen schlägt. Dann war die Veränderung eingetreten und nun sah sich der Tiger einem unbekannten Lebewesen gegenüber, einem Raubtier, welches ihm in allen Belangen womöglich ebenbürtig zu sein schien.
Wilde Tiere - auch nicht die stärksten und wildesten unter ihnen - haben niemals das Bedürfnis, einander gegenseitig zu zerfleischen um den Nachweis zu erbringen, wer der Stärkere ist. Dies ist eine Verhaltensweise, die nur den Menschen zu eigen ist. Wilde Tiere kämpfen um ein Revier, um eine Beute, um das Recht der Paarung, aber niemals aus Prinzip.
Der Tiger sah eindeutig keinen Sinn darin, mit diesem unbekannten Wesen einen Kampf auszufechten. Umso mehr nicht, als er an diesem Tag bereits eine erfolgreiche Jagd hinter sich gebracht hatte. Langsam wich die Spannung aus dem mächtigen Körper, die Krallendolche wurden eingezogen, die Augen weiteten sich von schmalen Schlitzen zu großen, runden und gelb leuchtenden Lichtern. Die nach hinten geklappten Ohren richteten sich auf, drehten sich nach vorne und dann erhob der Tiger sich in gelangweilter Lässigkeit, wendete auf der Stelle und verschwand auf der anderen Seite des Grates ohne Shandra noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
Shandra hatte sich auf einen dicken Wurzelstock gesetzt und starrte blicklos in das Dämmerlicht des Hochwaldes.
Der Bär war zurück gekehrt!
Zum ersten Mal seit hunderten von Jahren fühlte Shandra sich wieder ein klein wenig als der, welcher er in jungen Jahren eine Zeitlang gewesen war, als Shandra el Guerrero.
Nach einiger Zeit stieg er zu seinen Rentieren hinunter, führte sie über den Grad und dort in ein kleines Flusstal hinein. Er folgte dem Gewässerrand flussaufwärts und kam auf diese Weise recht zügig voran. Er folgte dabei eher unbewusst denn absichtlich einer deutlich im Firnschnee lesbaren Spur. Es war die Spur des Tigers und es war, als führte ihn die riesige Katze zu einem ganz bestimmten Ziel.
Shandra fragte sich, was er am Ende dieser Spur wohl finden mochte.
Der ungeheure, endlose Urwald, die Taiga machte Shandra täglich mehr zu schaffen. Viel mehr als es die Weite der Tundra und ihre manchmal so unfassbare Lautlosigkeit je vermocht hätte. Er war vom Tag seiner Geburt an ein Mensch der Steppe, der Weite gewesen. Seine Blicke über den Horizont schweifen zu lassen war ihm Zeit seines Lebens eine liebe Gewohnheit gewesen, die er genutzt hatte.
In den Steppen und in der Tundra vermochte ein Jäger und Krieger oft schon am Morgen die Gefahr zu erkennen, die ihm am Abend drohen mochte.
Hier, unter den uralten Baumriesen der Taiga gab es weder einen Horizont zu sehen, noch konnte man seine Blicke schweifen lassen. Es sei denn, man hatte Spaß daran, jeden Stamm, jeden Busch mit seinen Blicken abzutasten. Gefahren und Ereignisse waren hier in der Taiga immer überraschende Vorgänge. Hinter jedem Stamm, unter jedem Busch konnte sich ein Angreifer verbergen und wäre dort nur durch Zufall zu entdecken. Die permanent vorhandene Geräuschkulisse erzeugte in ihm eine enorme Spannung, verursachte eine ununterbrochene Alarmbereitschaft und aus Spannung und Alarmbereitschaft erwuchs eine erhöhte Aggressivität. Selbst die geschärften Sinne des erfahrenen Jägers waren mit den ununterbrochenen Eindrücken häufig überfordert.
Am meisten aber machte ihm die Tatsache zu schaffen, dass er vollkommen auf sich allein gestellt unterwegs war. Es gab niemanden, mit dem er reden, sich austauschen konnte und die Einsamkeit förderte sein Aggressionspotential in nie gekannte Sphären. In ihm brodelte ein Vulkan der Wut und des Hasses, ohne dass er in der Lage gewesen wäre, seine Emotionen auf ein eindeutiges Ziel zu justieren.
Um dieser immer stärker werdenden Gefühle in seinem Inneren besser Herr zu werden, hatte er zuerst sein Reisetempo bis an die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit gesteigert. Immer schneller war er durch die Wälder gehuscht, doch irgendwann war er auf natürliche Grenzen gestoßen. Die Rentiere, die sein Gepäck schleppten, waren im Gewirr des Urwaldes nicht annähernd so schnell und beweglich wie draußen in der Tundra und so blieb ihm nur die Wahl, entweder auf sein Gepäck zu einem großen Teil zu verzichten oder aber sein Marschtempo der maximalen Geschwindigkeit der vier Rentiere anzupassen.
Als nächstes begann er vermehrt mit den beiden Wölfen herum zu balgen, die ihn für gewöhnlich wie dunkle Schatten in einem gewissen Abstand begleiteten. Nur wenn er ihnen ein Zeichen gab, kamen sie so nahe heran, dass er sie anfassen konnte und dann entwickelte sich oft eine freundschaftliche Balgerei, durch die er eine Menge der angestauten Gefühle abbauen konnte. Durch das Spiel mit den Wölfen stärkte Shandra natürlich auch die Geschmeidigkeit seiner Muskeln, Bänder und Sehnen und verbesserte seine Reflexe.
Dennoch, schon bald stellte er fest, dass körperliche Anstrengungen und verstärkte Bewegung nur einen kleinen Teil der Wut in ihm zu kompensieren vermochten. Was ihm vielmehr fehlte, war eindeutig ein Gesprächspartner. Der Klang einer menschlichen Stimme in seinen Ohren, Worte deren Ursprung nicht aus seinem eigenen Geist kam. Doch genau dieser Gesprächspartner fehlte ihm und war auch nicht dadurch zu ersetzen, dass Shandra immer häufiger mit halblauter Stimme zu sich selbst sprach.
Mehr als einen Mondzyklus war er bereits durch die Taiga gezogen und immer noch gab es nicht das kleinste Anzeichen dafür, dass Sungaeta ihn verfolgte, ihn aufzuhalten trachtete. Ebenso wenig, wie es Hinweise auf die Existenz anderer Menschen gab.
Shandra und die Taiga, etwas anderes schien nicht mehr auf dieser Welt zu existieren.
Sungaetas Abwesenheit war ungewöhnlich, denn alle Versuche die Tundra zu verlassen, die er zu früheren Zeiten zusammen mit Rollo unternommen hatte, waren spätestens nach einem halben Dutzend Tage zu Ende gewesen. Stets waren sie von der Hexe gestellt und unter Androhung schrecklicher Strafen in die Tundra zurück gejagt worden.
Shandra vermochte nicht nachzuvollziehen, auf welche Weise es der Hexe gelungen war, ihn selbst und noch viel mehr Rollo derart einzuschüchtern. Ob es damit zusammenhing, dass es ihr schon vor mehr als fünfhundert Jahren gelungen war, die Haut und das Horn, die letzten beiden der magischen Relikte, die Shandra für sich behalten hatte, an sich zu bringen?
Wann immer Shandra sich an diesen Diebstahl erinnerte, kochten Wut und Hass besonders intensiv in ihm hoch.
Es war in jener Zeit gewesen, als Shakira gerade von ihnen gegangen war und sich bei Rollo die ersten Anzeichen der geheimnisvollen Krankheit zeigten, die ihn am Ende so jämmerlich hatte sterben lassen. Sungaeta hatte es verstanden, sich in Shandras Vertrauen einzuschleichen und so konnte sie ihn dazu bewegen, ihr die Haut zu überlassen, denn nur mit Hilfe dieser Haut in Verbindung mit ihren eigenen, überragenden Fähigkeiten als Heilerin bestünde eine kleine Chance, Rollo wieder gesund zu machen. Als sie die Haut aber erst einmal in ihren Händen hielt, fiel es ihr nicht mehr besonders schwer, ihm eines nachts auch das Horn von seinem alten Wehrgehenk zu stehlen.
Shandra hatte den Diebstahl erst Tage später bemerkt, denn solange sie sich im unmittelbaren Umfeld Sungaetas bewegten, war ihm stets, als wäre sein Gehirn in Watte gepackt und seine Reaktionen erfolgten immer langsam und mit großer, zeitlicher Verzögerung. Er hatte nicht die Kraft aufgebracht, sich gegen Sungaeta zu wehren. Wie gelähmt in seiner Kraft, unfähig eine andere als die von der Hexe gewollte Entscheidung herbeizuführen, hatte er den Diebstahl hingenommen und war seiner Wege gegangen. Rollo hatte ihm deswegen Vorhaltungen gemacht, doch nichts was der Bruder hätte anführen können, wäre zu Shandra durchgedrungen.
Jetzt, da er in absoluter Einsamkeit wie ein düsterer Schatten durch die Taiga wanderte, wurde ihm nach und nach bewusst, was er der Hexe Sungaeta alles zu verdanken hatte. Natürlich hatte die Hexe niemals auch nur den kleinsten erkennbaren Versuch unternommen, Rollo zu heilen oder ihm wenigsten mit Hilfe der Haut das Leben leichter zu machen. Sungaeta benützte die Haut vielmehr ausschließlich dazu, ihre verschiedenen Liebhaber wieder auf Vordermann zu bringen, wenn sie durch die Ausschweifungen und Orgien mit der Hexe erschöpft waren.
Die Erinnerungen an Sungaetas Verrat und an ihren Diebstahl, die Erinnerung an ihre Hinterlist und an Rollos unendlich langes Leiden und seinen qualvollen und einsamen Tod trugen nicht dazu bei, Shandras Hass und Wut zu verringern.
Die Rückkehr des Bärengeistes in Shandras Gefühlsleben festigte die Grundlage für all seine Wut und all seinen Hass. Auf diese Weise stellte sich mehr und mehr die richtige Gefühlsbasis ein, um die Rache an Sungaeta vorzubereiten und später zu vollziehen. Allerdings erinnerte sich Shandra an eine alte Weisheit, die er während seines Heranwachsens immer und immer wieder von seinem Ziehvater Ragnar gehört hatte. Rollos leiblicher Vater hatte seinen Zöglingen eingebläut, dass Rache schon immer eine Speise gewesen war, die man vorzugsweise kalt zu sich nehmen sollte. Aus diesem Grund musste er alles daran setzen, mit den immer stärker werdenden Gefühlen fertig zu werden, sie zu zähmen, zu kanalisieren und in Bahnen zu lenken, auf welchen sie ihm nicht zur Gefahr wurden, sondern ihm halfen, seine Rache wahr werden zu lassen.
Die Kälte seiner Gedanken, die ihn vor Jahrhunderten zu einem derart erfolgreichen Strategen gemacht hatten, sie begann nach und nach die Oberhand in Shandras Geist zu gewinnen und diese Kälte führte ihn wieder nach oben, an die Spitze, dorthin, wo der Planer und Schlachtenlenker stets seinen Platz gefunden hatte.
Shandra nutzte die Gelegenheit, da er eine kleine Lichtung fand, sich wieder einmal zu orientieren.
Es war später Nachmittag und die Strecke, die er an diesem Tag noch zurücklegen konnte, ehe die Nacht hereinbrach, war nicht von irgendeiner Bedeutung. Er war auch an diesem Tag weitergekommen, als er geplant hatte.
Er beschloss also auf dieser Lichtung sein Camp aufzubauen und hier die Nacht zu verbringen.
Mittlerweile war das Frühjahr schon so weit fortgeschritten, dass selbst im dichten Schatten der Bäume kaum mehr Schnee lag. Nur in ganz versteckt liegende Kuhlen und Senken fand man noch Reste der weißen Masse, die Shandra zuerst so verabscheut hatte und die ihm doch im Laufe der Jahrhunderte seines Lebens vertraut genug geworden waren. Er lernte auch ihre guten Eigenschaften kennen und zu schätzen. Solange noch Schnee zu finden war, gab es zum Beispiel keinen Mangel an Trinkwasser und in den schneegefüllten Senken konnte man wunderbar Fleisch und andere Nahrungsmittel aufbewahren. Dinge, die leicht verderblich waren, blieben in den mit Schnee gefüllten Senken und Mulden über viele Tage hinweg genießbar. Für die Rentiere hatte die Zeit der Fülle begonnen, sie fanden überall genug junge Triebe, frisches Gras und blühende Kräuter, Moose und Farne, die den Hunger von ihnen fern hielten und alle Mangelerscheinungen des langen Winters rasch kompensierten. Innerhalb weniger Tage hatten sie den kompletten Fellwechsel vollzogen und ihr Fleisch begann, das Sommerfell glatt zu ziehen und mit Glanz zu füllen. Dennoch fühlten sich die vier starken Bullen in der Düsternis der Taiga genauso unwohl, wie Shandra. Die einzigen, denen die Taiga wirklich Spaß zu machen schien, waren Geri und Freki, die beiden starken Schwarzwölfe. Die Jagd im Urwald wurde ihnen um ein Vielfaches leichter gemacht, als draußen auf der Tundra. Hier konnten sie sich wie die Raubkatzen an die Beute anschleichen und blitzschnell zupacken. Beute machen, ohne dass es dazu langer, kraftraubender Hetzjagden bedurft hätte, das gefiel den beiden großen Rüden.
Auch an Wasser herrschte niemals Mangel und als es rasch noch wärmer zu werden begann, fanden sie immer einen kühlen Platz, an welchem sie sich verstecken und ausruhen konnten. Shandra gewann den Eindruck, die Wölfe wären möglicherweise sogar gerne im Urwald geblieben.
Shandra nahm den Rentieren die Traglasten ab und fesselt ihnen die Vorderbeine zusammen. So konnten die Hirsche äsen und sich ziemlich frei bewegen, doch wegzulaufen vermochten sie nicht. Dann baute er schnell und routiniert sein kleines Zelt auf, welches er sich aus Teilen der großen Jurte gebastelt hatte, ehe er diese als Scheiterhaufen für seinen Freund und Ziehbruder benutzt hatte. Als das Zelt stand, streifte er unter den nächsten Bäumen herum und hatte rasch genügend Totholz gesammelt, um ein kleines aber sehr heiß brennendes Kochfeuer zu errichten. Aus seinen Vorräten holte er das letzte Stück einer Hirschlende und bereitet sie vor, über den Flammen gebrutzelt zu werden. Er holte mit seinem Wasserkessel genügend Schnee aus einer naheliegenden Kuhle und hängte den Kessel über die Flammen, damit der Schnee schmelzen konnte. Shandra bereitete sich allabendlich einen kräftigen Kräutersud zu, der seine Abwehrkräfte stärkte und Erkältungen zu vermeiden half.
Shandra hatte sich aus einem Rentierfell ein Sitzkissen zusammen gefaltet. Auf diesem hockte er jetzt entspannt am Feuer, beobachtete den Waldrand entlang der kleinen Lichtung und ließ seine Gedanken schweifen, während seine Sinne, sein Unterbewusstsein nicht aufhörte, die Geräusche des Waldes zu registrieren und den Rand des Schattens zu beobachten. Er hörte die Annäherung der Wölfe viel früher, als er die erste Bewegung unter den Bäumen wahrnehmen konnte. Er begrüßte die beiden schönen und starken Tiere wie gewohnt liebevoll und er freute sich, dass sie offenbar die Absicht hatten, die Nacht bei ihm im Camp zu verbringen. Er mochte es, wenn die beiden Wölfe sich an seinen Flanken nieder taten und ihm während der Nacht das Gefühl gaben, er sei doch nicht ganz allein auf dieser Welt.
An diesem Abend schien sich etwas ganz Besonderes anzubahnen, denn die Wölfe suchten seine Nähe auf eine Art, die ganz und gar ungewöhnlich war. Sie schmiegten sich besonders eng an ihn und hielten ihre goldfarbenen Lichter wie hypnotisiert auf ihn gerichtet. Die Wölfe warteten auf etwas, das war unübersehbar. Ein Ereignis von hoher Bedeutung stand unmittelbar bevor.Shandra war satt und entspannt.
Der Nachthimmel wölbte sich über ihm und es war eine der Nächte, die über der Frühjahrstaiga besonders seltenen sind. Der Vollmond überzog den Himmel mit seinem samtenen Glühen und kein einziges Wölkchen behinderte die Sicht auf die Flammenpunkte der Sterne. Es war dunkel auf der Lichtung und nur das Knacken der brennenden Zweige in Shandras Feuer und die fernen Geräusche des nächtlichen Urwalds störten die Stille minimal und da geschah es.
Shandra hatte vergessen wie es sich anfühlt, wenn sich Geist und Körper plötzlich voneinander zu trennen beginnen. Jetzt kehrte die Erinnerung zurück, der Geist des Bären war in ihm und übernahm plötzlich das Kommando. Shandras Körper wurde still und steif und dann begann sich sein Geist vom Körper zu lösen und schwebte als ein beinahe transparentes, silbern schimmerndes Abbild seiner realen Gestalt hoch oben auf der Höhe der Baumwipfel über der kleinen Lichtung. Shandra fühlte sich ausgesprochen wohl, obwohl er nackt und die Nacht alles andere als warm war. Er sah sich neugierig um und ihm war so, als müsste er jeden Augenblick Besuch bekommen. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht, denn in der klaren Nachtluft schwebte in diesem Moment eine kleine, kaum erkennbare Wolke auf ihn zu, verhielt genau ihm gegenüber, dann verdichtete sich der Dunst und das Abbild eines mächtigen, grauen Bären materialisierte vor Shandras Augen in der Luft.
Die uralten Augen des Bären waren voller Weisheit, aber auch voller Trauer. Shandra ahnte, woher die Trauer kommen mochte. Lange tauchten die Blicke des Bären und des alten Kriegers ineinander ein, dann begann der Bär leise zu sprechen.
„Bruder Mensch, du hast mich getötet und mein Herz gegessen und dich damit als würdigster unter den lebenden Menschen jener Zeit gezeigt. Ich vertraute dir und siehe da, ich wurde betrogen. Du warst stark. Aber am Ende warst du doch schwach, auch nur ein Mensch. Du hattest alles gewonnen und hieltest die mächtigste Magie in deinen Händen, die zu jener Zeit auf der Erde existierte. Weshalb hast du die Macht aus deinen Händen gegeben und die Schwerter versiegelt?“
Shandra überlegte eine kleine Weile. Was der Bär ansprach lag so unendlich lange zurück, dass Shandra glaubte, nur noch eine nebelhafte Erinnerung an jene Ereignisse zu besitzen. Doch an eines erinnerte er sich noch genau.
„Ich wusste sehr wohl um die Macht, die mir gegeben worden war. Ich wusste aber auch, dass solche Macht niemals in die Hand eines einzelnen Menschen gehören konnte. Ich hatte begriffen, dass diese Macht nicht natürlichen Ursprungs war und dass die Magie der Macht auf Dauer nicht in die Hände Einzelner gehören konnte. Kein Mensch ist stark genug, solche Macht für immer und ewig zu kontrollieren. Die Gefahr, dass die Magie der Schwerter die Kontrolle über den Geist des Menschen gewann, der sie eigentlich beherrschen sollte, war viel zu groß. Ich selbst habe die Versuchung gespürt. Ich habe damals nicht nur einen Augenblick lang darüber nachgedacht, wie es wäre, mit Hilfe der magischen Schwerter ein weltumspannendes Reich zu schaffen. Ein gutes Reich, natürlich. Aber wäre mir das gelungen? Ich war mir meiner selbst nicht sicher, wie konnte ich da erst an zukünftige Inhaber dieser Macht glauben? Nein, ich weiß genau, dass es richtig war, die Schwerter zu versiegeln und ich hoffe, ich habe es auf eine Art getan, die weder von Menschen, noch von Göttern, nicht von Trollen und Dämonen rückgängig gemacht werden kann. Die Menschen sind stark und zäh. Sie brauchen keine Magie, um auf dieser ihrer Erde zu leben und zu überleben. Ich weiß, dass ich gut daran getan habe, die Schwerter zu versiegeln. Hast du mich deshalb so lange gemieden, mein Bruder?“
Der Bär nickte bedächtig.
„Ja, auch deswegen. Aber auch, weil ich zu erkennen glaubte, dass du mit den Schwertern auch jene Art von Mut abgelegt hattest, die dich von allen anderen Menschen unterschied. Du warst der geborene Krieger und hast aufgehört, dieser zu sein. Erst jetzt habe ich begriffen, dass du der Hexe nicht gewachsen warst, weil du um dich um diejenigen sorgtest, die dir wichtig waren. Auch ich bin nichts weniger als allwissend. Als ich erkannte, dass der Krieger in dir wieder erwachte, als der Scheiterhaufen deines Ziehbruders zu brennen begann, beschloss ich, dich auf deinem letzten Weg zu begleiten. Du hast es verdient.“ „Mein letzter Weg steht bevor? So darf ich endlich den Menschen folgen, die mir zu ihren Lebzeiten so viel bedeutet haben?“ „Die Zeichen sagen es.“ „Dann machen mir die Zeichen seit langer Zeit wieder einmal Freude. Kannst du mir Genaueres sagen, Bruder Bär? Wann werde ich meine letzte Reise beginnen? Wohin wird mein letzter Weg mich führen? Werde ich Rollo wiedertreffen? Oder gar Shakira? Wo werde ich im Leben nach diesem Leben jagen?“ „Du weißt, dass die Zeichen über solche Einzelheiten keine Auskunft erteilen, nicht wahr? Du weißt es, also weshalb fragst du? Der letzte Weg steht dir unmittelbar bevor, dies sagen die Zeichen. Sie sagen aber nicht, wann dieses Unmittelbar sein wird und nicht, wie lange der Weg selbst sich dahin ziehen mag. Doch in deinem ganz besonderen Fall sagen sie etwas absolut Ungewöhnliches. Deshalb bin ich auch hier.“ Der Bär legte eine kleine Pause ein, während welcher er Shandra mit seinen gelben Raubtieraugen durchdringend musterte. Dann aber fuhr er fort:
„Dein letzter Weg könnte sogar schon begonnen haben. Doch da du bist, wer du bist, kann dieser Weg nicht zu Ende sein, ehe du nicht noch ein paar Aufgaben – kleinerer oder auch größerer Art, wer mag das schon beurteilen – erledigt hast.“
Wieder entstand eine kleine Pause, ehe der Bär fortfuhr.
„Du musst deine Rache an der Hexe vollziehen. Ich habe mit den Schmieden darüber gesprochen und auch mit anderen, für gewöhnlich weisen und kühl überlegenden Wesen. Die Hexe Sungaeta darf nicht mehr am Leben sein, wenn du diese Welt verlässt. Sie stellt einen Anachronismus dar und ein Ungleichgewicht auf der Erde, in dem Moment, da du nicht mehr bist. Das darf nicht sein, es würde die Welt aus den Angeln heben und alles vernichten, was in den letzten fast viertausend Jahren neu geschaffen wurde. Die Schmiede und Ihresgleichen haben nicht mehr die Möglichkeit, unmittelbar in die Ereignisse einzugreifen, seit du die Magie der Schwerter versiegelt hast. Deshalb kommt dir die Aufgabe der Vollstreckung zu. Sie haben das Urteil gefällt. Dies ist eine deiner Aufgaben.“
„Eine lösbare Aufgabe, die nur wenig Zeit in Anspruch nehmen wird.“
„Die Hexe wird dir etwas hinterlassen. Ein lebendes Wesen, dessen Bedeutung vielleicht sogar noch größer für die Welt ist, als es einstmals die deine war. Deine Aufgabe wird es sein, diesem Lebewesen das notwendige Rüstzeug mitzugeben, dass es den Aufgaben gewachsen sein wird, die es erwarten.“
„Ich soll wieder einmal den Lehrer spielen? Nun gut. Von welcher Art ist dieses ominöse Lebewesen?“
„Das wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass es sich ohne entsprechende Anleitung zu einem schrecklichen Monster entwickeln kann und wahrscheinlich auch wird. Das muss vermieden werden. Du wirst das Wesen auf den richtigen Weg bringen, ehe du dein Lebensziel erreichen kannst.“
„Hast du noch mehr Ansprüche dieser Art an mich?“
„Bruder, diese Forderungen stammen nicht von mir. Nicht allein von mir, jedenfalls. Erfülle sie und du wirst es nicht bereuen.“
Der silbern glänzende Astralleib des Bären verblasste nun rasch und Shandra fühlte sich plötzlich nicht mehr wirklich wohl außerhalb seines Körpers. Rasch sah er sich um, dann glitt er hinunter und hinein in die Hülle, die sein Körper war und er war froh, die beiden Wölfe an seiner Seite, in seinem Leben zu wissen. Ganz eng an ihn geschmiegt sorgten sie für Sicherheit, Wärme und Geborgenheit und Shandra konnte sich mit genügend Zeit und Gelassenheit in seinem Körper wieder zurechtfinden.
Es war lange her, dass sich Shandra in einer ähnlichen Situation befunden hatte und damals waren es die Urahnen der beiden Wölfe gewesen, die ihm jetzt zur Seite standen. Shandra wusste, dass es sich auch bei diesen beiden Tieren um ein Mysterium handelte, denn wie sonst war es möglich, dass sie sich schon so oft erneuert hatten? Immer dann, wenn der natürliche Lebenszyklus der Wölfe erreicht war, hatten diese sich eines Nachts gemeinsam davon gemacht. Doch stets waren wenige Tage später neue Wolfswelpen in Shandras Leben aufgetaucht und in diesen neuen Tieren waren stets die Eigenschaften und Erfahrungen all ihrer Vorgänger vorhanden gewesen. Seltsamer Weise war es Shandra nie eingefallen, sich gegen dieses Mysterium, gegen diese Magie zu wehren. Er hatte die Existenz der Wölfe stets dankbar angenommen und sie zu einem Teil seines Lebens werden lassen.
Nun, da er zwischen den beiden starken Tieren lag und ihre Wärme in seine Glieder strömen fühlte, liebte er die beiden besonders intensiv, denn sie waren zu seiner letzten und einzigen Bindung an das Leben in dieser, seiner Welt geworden.
Shandra schlief zwischen die beiden Wölfe geschmiegt ein. Sein Schlaf war tief und traumlos und als er früh am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich ausgeruht und entspannt und die Erinnerung an seine Begegnung mit dem Bären der Grazalema glich der Erinnerung an ein reales Ereignis.
Er nahm die ihm gegebenen Informationen ebenso an, wie er die ihm gestellten Aufgaben akzeptierte. Er wusste nun, wohin sein Lebensweg führte und was er zu tun hatte. Das Wie würde sich wie von selbst ergeben. Dessen konnte er sich sicher sein. Shandra befand sich an der Grenze seines Seins und er freute sich darauf, diese Grenze zu überschreiten, obwohl ihm bewusst war, dass auch er diese Welt nicht verlassen würde, ohne Wunden und Narben zu hinterlassen.
Die Wölfe verließen das Lager lange, ehe Shandra seine Packlasten auf den Rentieren festgezurrt hatte und ebenfalls zum Aufbruch bereit war. Sie waren Jäger und sie versorgten sich selbst. Dennoch, das wusste Shandra, waren sie nie soweit von ihm weg, als dass sie in einer Krisensituation nicht zu seinen Gunsten hätten eingreifen können und, dass sie dies auch tun würden. Zumindest diese beiden würden ihn vermissen und um ihn trauern, wenn er die Grenze des Seins auf dieser Welt überschritt.
Shandra hing seinen Gedanken nach, solange er die Rentiere bepackte.
Immer wieder erinnerte er sich an die Worte des Bären und dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass er schon in seiner Jugend mit einem gewissen Fatalismus auf alles reagiert hatte, was an ihn heran getragen worden war. Ohne sich groß zu wehren hatte er Aufgaben übernommen und ohne groß zu fragen war er Wege gegangen, die andere ihm gewiesen hatten. Vielleicht wäre es ja doch besser gewesen, wenn er mehr Widerstand gegen seine Auftraggeber gezeigt und so manches intensiver hinterfragt hätte. Aber offenbar waren ihm diese Eigenschaften nicht mitgegeben worden. Seit unendlicher Zeit erinnerte sich Shandra wieder daran, wie und von wem er gezeugt worden war und er erinnerte sich an seine Mutter Sombra. Sie war eine geklonte und im Labor eines verrückten Wissenschaftlers hergestellte Frau gewesen. Trotzdem war sie ein Mensch mit einer überragenden Persönlichkeit und sehr starkem Willen gewesen. Aber – wie er selbst – mit einem ausgeprägten inneren Zwang, die übertragenen Aufgaben auch auszuführen. Ein Instrument letztendlich von Kräften und Mächten, die zu erfassen er auch jetzt, nach einem nahezu tausendjährigen Leben immer noch nicht in der Lage war.
Alle Lasten waren gleichmäßig verteilt und sicher befestigt. Shandra griff die Führleine des ersten Rentiers und schnalzte kurz mit der Zunge, zum Zeichen, dass der Marsch beginnen konnte. Die Zeit des Sinnierens und Grübelns war vorüber, es war wieder an der Zeit, zu handeln.
Je tiefer Shandra in die Urwälder der Taiga vordrang, desto unwegsamer wurde das Gelände. Am Anfang waren die Anstiege von der Tundra her nur flach gewesen, doch mittlerweile durchzogen Schluchten und Klippen die Taiga und die Anstiege zu den Pässen, die Shandra überwinden musste, waren stets um ein Stück länger, als der nachfolgende Abstieg. So stieg Shandra nach und nach immer höher, einem mächtigen Gebirge entgegen. Wuchtige, gewaltige Felsriesen, die allerdings noch weit von ihm entfernt waren. Es war mühsam, mit vier Rentieren durch diese Wälder zu wandern, doch Shandra hatte keine Idee, von welchen Teilen seiner Ausrüstung er sich trennen sollte, also plagte er sich weiter mit den vier Tieren ab.
Er und Rollo hatten viele Jahre lang in der Tundra und an den Grenzen zur Taiga Pelztiere gejagt und ein wesentlicher Teil dieser Jagdausbeute stellte nun die Traglasten der Rentiere dar. Shandra nahm an, dass er die Felle brauchen würde, wenn er in die Nähe anderer Menschen gelangte. Dann musste er in der Lage sein, Tauschgeschäfte zu machen. Deshalb konnte er weder die Pelze von Vielfraß und Feh und erst recht nicht die schier unbezahlbar wertvollen schwarzen Zobelpelze zurücklassen. Nur mit dem Wert dieser Pelze, davon musste er ausgehen, würde ihm eine vertretbar einfache Rückkehr in die Gemeinschaften anderer Menschen gelingen. Er nahm also die Mühe mit seinen vier Rentieren hin und akzeptierte, dass er deswegen nur relativ langsam voran kam.
Gefördert durch all die Plagereien und Mühen, schweiften Shandras Gedanken auch tagsüber immer wieder ab. Immer wieder überdachte er seine Situation und stellte seine Entscheidungen vor sich selbst in Frage.
„So ist der Krieger in mir zurückgekehrt?
Der Bär sagt, er hat ihn erkannt. Ich selbst habe ihn noch nicht wieder entdecken können. Ich ahne allenfalls, dass da etwas sein könnte, dass früher einmal Shandra el Guerrero gewesen war. Ich plane meine unmittelbare Zukunft nicht wie ein Krieger, sondern eher wie ein Händler. Ich fürchte mich davor, anderen Menschen mit leeren Händen gegenüber zu stehen und sie durch die Kraft meines Körpers, meines Geistes und durch meine Kampfkunst für mich zu gewinnen.
Bin ich dennoch auf dem Weg, am Ende meines Lebens wieder der Krieger zu werden?“
Shandra folgte einem Höhenzug, auf dem die Tannen etwas weniger dicht standen. So kam er ein wenig schneller voran, doch seine Tagesetappen waren immer noch unglaublich kurz im Vergleich zu den Strecken, die er in derselben Zeit auf der Tundra oder in einer Steppe hätte zurücklegen können. Aber er kam voran und war deshalb doch zufrieden. Die Taiga verlangte ihm zwar weiterhin vieles ab, aber da ihn niemand hetzte, da er ohne jeden Zeitdruck unterwegs war, was spielten da ein paar Tage mehr oder weniger, die er für eine Etappe seiner Reise benötigte, denn für eine Rolle?
Am Abend saß Shandra wieder an seinem kleinen Kochfeuer.
Er hatte am Nachmittag ein fettes Schneehuhn erlegen können und bereitete es nun in einer Kochgrube neben dem Feuer zu. Die Füllung aus jungem Huflattich, der gerade seine gelben Köpfe aus dem gefrorenen Boden zu schieben begann, würde ihm einen besonderen Genuss verschaffen und zugleich seiner Gesundheit nützen, seine Abwehrkräfte stärken.
Während er am Feuer saß, waren Shandras Gedanken zu seiner Begegnung mit dem Geist des Bären zurückgekehrt. Er war immer noch zutiefst beeindruckt von der ungeheuren Präsenz des Bärengeistes nach so langer Zeit ohne Kontakt. Zugleich aber machte ihm die Forderung des Bären zu schaffen, dass er Sungaeta zwingend töten müsse.
Woher, so fragte er sich, nahmen eigentlich die Geister, die sein Leben so sehr geprägt hatten, immer noch das Recht, ihm den Tod von Menschen abzuverlangen?
Hatte er ihnen in seiner Zeit als Krieger, Stratege und Schlachtenführer nicht schon Menschenleben genug zu Füßen gelegt?
Niemand in seiner Welt und in seiner Zeit mochte mehr Menschen getötet oder ihren Tod veranlasst haben, als gerade er, Shandra el Guerrero. Natürlich, niemals war ein Menschenleben unbegründet ausgelöscht worden. Aber seit vielen Jahrhunderten stellte sich Shandra immer und immer wieder dieselben Fragen.
„Ist der Tod eines Menschen durch einen anderen Menschen überhaupt zu rechtfertigen? Welcher Mensch, ob allein oder im Verbund mit anderen Menschen, hat das Recht, sich zum Richter und Henker über andere Menschen zu erheben?“
Es gelang ihm nicht, zu diesen Fragen auch passende Antworten zu finden. Nicht an diesem Abend, auch nicht an den folgenden Abenden, obwohl er sich unablässig darum bemühte. Stattdessen tauchte eine neue, zusätzliche Frage in seinem Geist auf:
„Ob es zu all diesen Fragen überhaupt Antworten gab?“
Viele Tage und Nächte waren vergangen, seit er dem Geist des Bären begegnet war und dessen Informationen empfangen hatte. Tage, während welcher er weiterhin in südwestlicher Richtung unterwegs war. Tage, während derer er wieder und immer wieder die Spur der großen Katze kreuzte, die unbeirrt in dieselbe Richtung wie Shandra wanderte und dabei auch noch nahezu dasselbe Marschtempo einhielt. Tage, verbunden mit Nächten, während derer er oft schlaflos auf seinen Fellen lag und über seine Begegnung mit dem Geist des Bären grübelte.
Mittlerweile war der siebte Monat des Jahres seiner Wanderung nach Südwesten angebrochen. Der Weg durch die Taiga war in den letzten Tagen etwas leichter geworden, denn die permanenten Anstiege, das Überwinden immer neuer Höhen und Pässe führte Shandra ganz allmählich über die Baumgrenze hinaus. Die Bäume wurden immer niederer und gedrungener, dann wichen sie kräftigen, den Boden deckenden Sträuchern und als auch diese verschwanden, konnte Shandra eines Tages an einem frühen Vormittag endlich wieder den freien Blick in alle Himmelsrichtungen genießen. Vor ihm lag der Aufstieg zu einer Passhöhe und irgendwie stellte sich bei ihm das Gefühl ein, dass er mit dem Erreichen dieses Passes den höchsten Punkt seiner Reise durch die Taiga und das Gebirge erreicht hatte. Er drehte sich nicht um und sah zurück. Noch nicht. Erst wenn der die Passhöhe erreicht hatte, wollte er zurück in seine Vergangenheit schauen, ehe er die unmittelbare Zukunft in Augenschein nahm.
Der Aufstieg über die mit kurzem Gras bewachsene Gebirgsflanke war steil und anstrengend und Shandra kam nur langsam voran. Doch bis zur Mitte des Nachmittags hatte er es geschafft. Auf dem höchsten Punkt des Passes ragte ein mindestens drei Mann hoher Monolith aus der Erde und am Fuße dieses Monolithen hielt Shandra an, sicherte seine Lasttiere und nahm sich endgültig die Zeit, sich umzudrehen und in das Land zu blicken, das hinter ihm lag, in seine eigene Vergangenheit.
Er blickte über das schwarzgrüne Meer der Taiga. Einen Ozean aus Bäumen, welchen er in den letzten Monden durchquert hatte und er konnte weit draußen sogar den Saum des Urwaldes und den Beginn der Tundra noch recht deutlich im Schein der Nachmittagssonne erkennen. Die Tundra selbst aber versank im Dunst des Sommertages und so war Shandras Rückblick nur begrenzt erfolgreich. Er konnte die Länge des Weges, den er seit Rollos Abschied und Sterben zurückgelegt hatte, allenfalls erahnen.
Nun wandte er sich um und sah hinaus in seine unmittelbare Zukunft.
Er hatte richtig vermutet, sein Weg hatte ihn zu einem Punkt eines mächtigen Gebirgsmassives geführt, der ihm eine wirklich erstklassige Aussicht auf das Gelände ermöglichte. Zugleich befand er sich vielleicht sogar an der einzigen Stelle, an welcher die wuchtig und schroff zum Himmel aufragenden Berge und Massive überwindbar aussahen. Von seinem Punkt aus hätte er am frühen Morgen wohl einen wunderbaren Ausblick in das tiefer liegende Land gehabt, jetzt aber, am Nachmittag, blendete ihn die bereits tief im Westen stehende Sonne zu sehr. So vermochte er nur zwei Erkenntnisse als sicher zu registrieren.
Zum einen konnte er sich davon überzeugen, dass er sich tatsächlich auf dem höchsten Punkt seines Weges befand und über welch gewaltiges Gebirgsmassiv ihn dieser Weg geführt hatte.
Dann, als seine Augen an dem vor ihm liegenden Abstieg entlang wanderten, erkannte er tief unter sich ein Plateau. Es war schwer zu sagen, über welche genaue Fläche sich dieses Plateau ausbreitete, doch so viel war zu erkennen, klein war es nicht.
Es war jedenfalls groß genug, dass die Zelte, die dort unten aufgebaut waren, wie kleine bunte Flicken auf einem grünen Teppich aussahen. Shandra konnte, von der klaren Bergluft nicht behindert, fünfzehn solcher Farbtupfer zählen. Vierzehn dieser Flecken waren in hellen Tönen, irgendwo zwischen weiß und einem sattem Gelb liegend eingefärbt. Das fünfzehnte Zelt aber leuchtete in einem kräftigen Rot und war bedeutend größer, als die anderen.
Shandra atmete mehrmals tief durch.
Sein Brustkorb hob und senkte sich unter so kräftigen Atemzügen, als hätte er den Aufstieg auf den Pass rennend hinter sich gebracht. An seinen Schläfen bildeten sich dicke, pulsierende Adern und die Farbe seines Gesichts glich beinahe der Farbe einer reifen Buchecker. Sein ganzer Körper stand plötzlich unter einer enormen Spannung und diese innere Spannung verschaffte sich Luft, indem sich Shandras Wangenmuskeln wie dicke, harte und ständig zuckende Stränge über seine Kieferknochen spannten.
Dort unten wartete die schlimmste aller Feindinnen auf ihn.
Die Zelte gehörten den Sungaiten und das große, rote Zelt war ganz sicher das Zuhause der Stammesmutter, der Hexe Sungaeta.
Die Zelte waren in einer eindeutigen Struktur angeordnet, so wie er es von Sungaiten kannte. Das rote Zelt der Hexe bildete das Zentrum einer Zange. Der Eingang des roten Zeltes zeigte nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Zu beiden Seiten, also nach Süden und Norden standen je sieben helle Zelte und in jedem dieser Zelte lebten in aller Regel zehn sungaitische Krieger. Die Krieger eines jeden Zeltes bildeten aber keinesfalls eine zufällig entstandene Gemeinschaft. Nur enge Blutsverwandte lebten in einem gemeinsamen Zelt. Väter und Söhne, Brüder und allenfalls noch Vettern. Sie bildeten eine Sippe und zugleich eine Kampfgemeinschaft.
Der Abstand von Zelt zu Zelt betrug jeweils etwa dreißig Schritte und mit diesem Abstand signalisierten die einzelnen Sippen, dass sie zwar zu einem Stamm gehörten, aber dennoch sehr viel Wert auf die Unabhängigkeit der Sippe legten.
Shandra wusste, das vom Geist des Bären angekündigte Ziel war nun ganz nahe.
Die Sungaiten waren Nomaden und ihr Volk war klein. Nur wenige mehr als zweihundert Seelen gehörten dem Stamm an.
Sungaiten….
Sie allesamt waren direkte Nachkommen der Hexe. Kinder, Enkel und Urenkel, bis hin zur fünften Generation bestand der Stamm ausschließlich aus Menschen, in deren Adern Sungaetas Blut floss. Sungaetas Blut aber zeugte einen ganz besonderen Menschenschlag. In wessen Adern Sungaetas Blut auch zirkulierte, es stattete diesen Menschen mit finsteren Kräften, mit schwarzer Magie und mit eiskalter Grausamkeit aus. Ein Sungaite tötete ein Lebewesen mit der gleichen gleichgültigen Beiläufigkeit, wie der Tiger ein Reh riss. Der Unterschied war nur, dass der Tiger nur zum Erhalt seines Lebens und zur Sicherung des Fortbestandes seiner Art tötete. Sungaiten hingegen töteten aus purer Lust.
Nur so war auch zu versstehen, dass, so klein das Volk der Sungaiten auch war, die anderen Nomadenvölker in Tundra und Steppe den Stamm fürchteten wie kaum etwas sonst. Nur wenig von dem, das ihnen in der Weite ihrer Länder begegnen konnte, erzeugte ähnliche Gefühle. Es sah aus, als wäre nahezu der komplette Stamm durch die Berge gezogen und hatte dort unten auf dem Plateau sein Lager aufgeschlagen. Die Völker in Steppe und Tundra konnten aufatmen.
Shandra war sich absolut sicher, dass sich Sungaeta nur aus einem einzigen Grund dort unten festgesetzt hatte. Sie wartete auf ihn, auf Shandra el Guerrero, denn so wie Shandra den Bärengeist als Informant besaß, so verfügte auch die Hexe über Informanten und Berater aus dem Reich der Geister. Ihr Schicksal und sein eigenes waren seit Jahrhunderten eng mit einander verwoben und dort unten auf dem Plateau sollte sich ihrer aller Los verwirklichen.
Shandra benötigte bestimmt drei oder vier Dutzend tiefer Atemzüge, ehe er sich wieder so weit unter Kontrolle hatte, dass er sich mit dem Abstieg befassen konnte.
Seine Blicke schweiften den Berg hinab, seine Augen suchten nach dem bestmöglichen Abstieg hinunter zu dem Plateau und da entdeckte er ein kleines Stück unter sich einen mächtigen Findling, einen Quader von mindestens Mannshöhe, auf dessen Oberfläche sein indirekter Begleiter und Wegbereiter auf ihn zu warten schien.
Wie hingegossen lag der große Tiger auf dem Fels, ließ sich von den Strahlen der Nachmittagssonne das Fell wärmen und hob jetzt, da Shandra begann seine Rentiere an den Abstieg zu führen, in eleganter Grazie seinen beeindruckend großen Schädel, gähnte ausgiebig und starrte Shandra erwartungsvoll entgegen. Zwischen ihm, dem Menschen, und dem Tiger lag bestimmt ein Abstand von gut fünfzig Schritten. Dennoch hatte Shandra das Gefühl, der riesigen Katze direkt in die Augen zu sehen. Das intensive Leuchten der gelben Katzenaugen mit den schmalen, senkrecht stehenden schwarzen Pupillenschlitzen drang tief in Shandras Inneres ein und da war etwas, das Shandra unruhig werden ließ, ihm sagte, dass es da etwas gab, was er vielleicht nicht ausreichend beachtet haben könnte. Etwas seltsames, geheimnisvolles. Etwas, das möglicherweise auch der Aufmerksamkeit des Bärengeistes entgangen war?
Der Krieger in Shandra regte sich und begann endgültig wieder zu erwachen. Alle Instinkte des Kriegers warnten ihn eindringlich vor dem, was die große Katze verkörpern mochte.
Shandras Verstand hatte die Warnsignale kaum registriert, als auch schon die Bestätigung für diese Warnungen fühlbar wurde.
Zuerst war es ein leichtes Kitzeln in seinem Kopf, im hinteren Teil des Schädels und dieses Kitzeln war Shandra schon beinahe fremd geworden. Der letzte Mensch mit telepathischen Fähigkeiten, der sich in seiner Nähe aufgehalten hatte, war Rollo gewesen. Allerdings hatten sie seit dem Tag, da sie zu zweit in die Einsamkeit der Tundra hinaus gezogen waren, also seit mehreren hundert Jahren, keinen telepathischen Kontakt mehr gepflegt. Wozu auch? Sie waren allein, niemand war da gewesen, vor dem sie Gedanken hätten verheimlichen müssen. Was sie sich zu sagen gehabt hatten, konnte bedenkenlos ausgesprochen werden.
Deshalb war er nicht nur überrascht, sondern zugleich überaus unangenehm berührt, als sich plötzlich das Kitzeln in seinem Gehirn einstellte und er kaum einen Augenblick später eine Nachricht empfing.
„Nun ist es also geschehen, alter Freund. Unsere Wege kreuzen sich ein weiteres Mal, denn du bist der Spur der Katze gefolgt. Ich grüße dich und heiße dich willkommen an einem Ort, der unser beider Schicksal bedeutet.“
Shandras Gehirn wollte die Annahme dieser Botschaft spontan verweigern, all seine Gefühle sagten ihm, dass es nur klug gewesen wäre, sich gegen gerade diesen Kontakt zu verschließen, sich hinter einem sicheren Schutzwall zu verbergen, denn der Absender der Botschaft war niemand Geringeres als die Hexe Sungaeta selbst. Sein Verstand allerdings erinnerte sich an die Botschaft des Bären und so ließ er den Kontakt zu und erwiderte:
„Man sagte mir, dass sich unsere Wege ein letztes Mal kreuzen werden. Wenn dies der Ort ist, an welchem es geschehen soll, mag mir das Recht sein. Was willst du von mir, Hexe?“
Da telepathische Verbindungen durchaus in der Lage sind, Spott und Ironie, Sarkasmus und zynische Bemerkungen zu übertragen, konnte Shandra die Antwort der Hexe sehr gut interpretieren. Mehr noch, die Zwischentöne der hinter Worten verborgenen Empfindungen wurden unter Telepathen weitaus deutlicher ausgetauscht, als dies je mit Worten möglich gewesen wäre und so konnte Shandra der Hintersinn in Sungaetas Worten unmöglich entgehen.
„Du hast mich natürlich sofort erkannt, alter Krieger. Ich habe es auch nicht anders erwartet. Einen alten Fuchs wie dich zu täuschen, ist offenbar kaum möglich. Seit wann weißt du, dass die Katze meinem Geist gehorcht?“
Shandra war sich absolut sicher, dass es sich hierbei um eine Fangfrage handelte. Die Hexe hatte nichts anderes im Sinn, als ihn zu verunsichern. Ihr ganzes Verhalten, ihr Denken, alles was sie war, kannte nur ein einziges Ziel:
Shandra el Guerrero endgültig zu vernichten.
Um dieses Ziel zu erreichen, gab sie keinen Vorteil aus der Hand, selbst wenn dieser noch so klein und unbedeutend erscheinen mochte. Daher ihre scheinheiligen Fragen.
„Du weißt genau, dass ich das wahre Wesen des Tigers gerade in diesem Moment erst begriffen habe. Ich vermute, du warst schon lange im Kontakt mit meinen Gedanken und hast mich durch deinen vierbeinigen Sklaven überwacht. Ich hätte es ahnen können, ja, wissen müssen, aber ich war offenbar taub und blind für die Wege des Geistes und der Geister. Nun gut. Jetzt weiß ich Bescheid und kann mich wappnen.“
„Oh, sieh an, welch neuartige Bescheidenheit du an den Tag legst! Hast du gelernt und begriffen? Wenn ja, wer war dein Lehrer?“
„Versuch nur weiter, dich über mich lustig zu machen. Es stört mich nicht. Nichts, was du tust stört mich mehr, denn du hast keine Macht mehr über mich, Hexe. Jetzt aber sag mir, was du willst und dann lass mich zufrieden.“
„Was ich will? Nun, das ist einfach. Ich will dich endlich tot sehen. Dich und alles was du verkörperst. Du bist der einzige Mensch auf dieser Welt, so hat es mir mein Geisttier verkündet, der mich noch daran hindern kann, meine Hände nach dem Herzen des Wissens und der Macht auszustrecken. Solange du am Leben bist, werde ich das Wissen nie ungestört und für mich allein haben können. Du musst also sterben und ich habe mir vorgenommen, dass dein Tod ein gänzlich anderes Format haben muss, als der den Jelena, Shakira und Rollo starben. Auch ein anderes Format als der Tod meiner beiden Urenkelinnen, Sorcha und Kithuri. Sie alle sind einfach und schnell gestorben und diese Freude soll dir keinesfalls vergönnt sein. Langsam sollst du sterben. In vielen kleinen Abschnitten. Steig nur den Berg herunter, komm zu meinem Lager und deine Freundin Sungaeta wird dir zeigen, mit wie viel Phantasie sie ausgestattet ist, wenn es darum geht, dich ins Jenseits zu befördern!“
Die Worte der Hexe, ihre Drohungen, dröhnten in Shandras Geist, als wären sie mit hartem Metall unterlegt. Mehr noch, zusammen mit den Worten begannen auch noch andere Empfindungen in Shandras Kopf zu sickern und dort Form anzunehmen.
Das stärkste dieser Gefühle war die Angst.
Eine schreckliche, geradezu hündische Angst vor der bösartigen Macht der Hexe. Sie begann sich in Shandras Geist zu manifestieren und diese Angst versuchte das zu bewirken, was bis zu diesem Tag bei jedem seiner Versuche, die Tundra zu verlassen ausgelöst worden war.
Das Bedürfnis, die Reise abzubrechen, umzukehren und in der Unendlichkeit der Tundra nach Sicherheit vor dieser bösartigen Macht zu suchen. Die Angst wurde nahezu übermächtig in seinem Geist.
Shandra begann am ganzen Körper zu zittern, seine Blicke zuckten fahrig hin und her, er war nicht mehr in der Lage, der großen Katze in die gelben Augen zu schauen. Doch plötzlich war da etwas an seinen Beinen. Zuerst an der linken Seite und im nächsten Augenblick auch auf der rechten Seite. Die Berührung von weichem Fell, kühle Nasenknollen, die sich in seine Handflächen drückten und den bis dahin hilflos hinunter hängenden Händen ein Ziel, einen Halt boten. Die beiden Wölfe hatten sich eng an Shandras Beine geschmiegt und von dieser Berührung ging eine Kraft aus, die rasch und auf seltsam mühelose Art und Weise in der Lage war, die Emanation der Angst zunächst zu dämpfen und dann ganz zu verdrängen.
Plötzlich war es Shandra, als ob sein Geist von einem hellen Licht durchflutet würde, ein Licht begleitet von Wärme und dem Gefühl überschäumender Lust und Lebensfreude, ein gewaltiger Strom innerer Kraft, der die von der Hexe gesandten Ängste einfach wegspülte. Shandras Geist klärte sich, sein Körper lockerte und löste sich, er richtete sich aus der momentan eingenommenen verkrampften, zusammengezogenen Pose auf, das Zittern verschwand aus seinen Gliedmaßen und Shandra stand hoch aufgerichtet und stolz auf der Höhe des Grates, erwiderte die Blicke des Tigers voller Stolz und gleichzeitiger ruhiger Gelassenheit, dann antwortete er der Hexe:
„Ich nehme deine Einladung an, alte Hexe. Ich werde kommen und ich verspreche dir, du wirst dir wünschen mit deinen Äußerungen behutsamer gewesen zu sein. Ich habe eine lange Liste von Untaten, die du zu verantworten hast und wir werden diese Liste zusammen abarbeiten. Danach magst du versuchen mich zu töten. Wenn es dir gelingt, bin ich nicht wert, auf dieser Welt zu sein. Doch ich denke, ich muss mir keine Sorgen machen. Es wird dir nicht gelingen. Shandra el Guerrero wurde noch niemals besiegt.“
Rollos Schwerter waren sorgfältig in fettige Lappen eingewickelt und staken unter den dicken Packen mit Fellen, die er einem der Rentiere aufgeladen hatte. Neben den Schwertern, die Shakira und Jelena getragen hatten, hatte er sich auch von diesen beiden Erinnerungsstücken nicht trennen können. Nun holte Shandra die beiden starken Klingen hervor, legte das Gehenk an, das die Schwerter in ihren Rückenscheiden hielt und stellte sich in Position. Er atmete tief durch und er befolgte die Anweisungen, die in seiner Erinnerung begraben, auf die Wiedererweckung gewartet hatten. Erinnerungen an die Lehren seiner früheren Fechtmeister, dem Samurai aus Ama no Mori und Inaka, dem Inuitgeist des magischen Schwertes, das er dereinst getragen hatte.
Langsamste Bewegungen, wie abgezirkelt. Ausatmen und dabei Spannung aufbauen. Spannung halten, einatmen und dabei Spannung abbauen. Seine Füße erinnerten sich an die Muster, die ihn Minaro gelehrt hatte, er bewegte sich in den Kreisen des Schwertes wie es eines Kriegers würdig ist. Seine Arme vollführten die Schwünge, seine Hände lagen locker am Heft der Klinge und aus einem zu Anfang ein wenig ungelenk und stockend wirkenden Bewegungsablauf wurde rasch ein geschmeidiges Dahingleiten, ein tödlicher Tanz mit blitzenden Klingen aus grün schimmerndem Stahl.
Obwohl die Klingen für Shandra zu lang waren, fühlten sie sich doch gut in seinen Händen an. Er verstand sie zu führen, er wurde eins mit den Katanas und als er seine Übungseinheiten beendete, war er zwar in Schweiß gebadet, doch sein Atem ging ruhig und seine Muskeln gehorchten den Befehlen seines Gehirns, als wäre er soeben nach tiefem und erholsamem Schlaf aus seinen Fellen gekrochen.
Shandras Geist entwickelte Bilder von Kampf und vom Töten und dank dieser Bilder war er in der Lage, seine Kata, die Übung der Kampfkunst in derselben Form zu absolvieren, wie es ihn Minaro vor so vielen Jahrhunderten gelehrt hatte.
Seit zehn Tagen hatte Shandra sein Lager auf der Höhe des Grates aufgeschlagen. Ein kleines Feuer brannte am Fuß des mächtigen Monolithen und Shandras Kleidung und seine Felle lüfteten und trockneten neben diesem Feuer. Seit zehn Tagen absolvierte Shandra täglich drei Übungseinheiten mit den Schwertern, den Wurfmessern und den Shuriken. Sein Körper begann mehr und mehr, die so lange verborgen gebliebenen Befehle der Kampfkunst wieder zu akzeptieren. So erkannte Shandra, dass der Geist des Bären die Wahrheit gesagt hatte:
Der Krieger in ihm war zurück und je weiter Shandra in seinen Übungen voran kam, desto stärker wurde auch die in ihm aufkeimende Lust am Kampf und am Sieg. Allerdings verlangte die Natur einen gewissen Tribut für die Rückgabe dieser Fähigkeiten. Der Schweiß floss in Strömen und am Abend, ehe der erholsame Schlaf ihn umfing, verspürte Shandra Schmerzen wie sie eigentlich nur aus einer langwierigen und schweren Krankheit entstehen konnten.
Shandra hatte deshalb keine Eile, den Berg hinab zu steigen.
Erst dann, wenn sich das Gefühl einstellte, wirklich bereit zu sein für einen Kampf mit sicherlich blutigem und tödlichem Ausgang für mehr als nur einen Menschen, erst dann wollte er seine Rentiere beladen und hinunter führen. Es war nicht nur der Krieger, der wieder in ihm erwacht war. Auch der Stratege, der Planer und Lenker von blutigen Schlachten kehrte zurück und prägte sein Verhalten. Er hatte so lange auf die letzte Begegnung mit der Hexe warten müssen, was spielten da denn ein paar weitere Tage für eine Rolle?
Er setzte seine Übungen mit der ihm eigenen Beharrlichkeit fort und beobachtete sorgfältig die eigene Entwicklung.
Am zwanzigsten Tag auf dem Pass war er soweit. Er absolvierte seine Übungen so flüssig und geschmeidig wie eh und je und die letzten Abende und Nächte hatte er schmerzfrei verbracht. Somit wusste Shandra, dass er bereit war.
Am nächsten Morgen kroch er bereits lange vor dem Morgengrauen aus seinen Fellen. Zufrieden stellte er fest, dass diese erneut währen der Nachtstunden fast trocken geblieben waren und als er sich erhob, seine Muskeln zu dehnen und zu strecken begann, blieb das jahrelang gewohnte Knacken der Gelenke aus. Sein Körper hatte ebenso einen Weg zurück gefunden, wie sein Geist. Er schwitzte nicht mehr unkontrolliert und ohne Grund und seine Bänder, Sehnen und Muskeln waren wieder so stark und geschmeidig geworden, wie es sich für den Körper eines Kriegers geziemte. Shandra hob seine Arme wie in einer sakralen Handlung hoch in die Luft. Seine Handflächen hielt er dem schwarzen Nachthimmel zugewendet nach oben gedreht und er dehnte seinen Brustkorb in tiefen Atemzügen. Dann sprach er leise zu sich selbst.
„So Hexe, jetzt bin ich bereit. Heute steige ich den Berg hinab. Heute Abend schlage ich mein Lager auf deinem Plateau auf und morgen Abend werden wir beide wissen, wohin sich die Waagschale geneigt hat. Morgen Abend wird nur noch einer von uns beiden am Leben sein.“
Shandra hatte sich nicht verschätzt.
Er benötigte tatsächlich den ganzen Tag, um seine schwer beladenen Rentiere über schmale Steige und oftmals geradezu abenteuerliche Kletterpassagen vom Grat hinunter zu bringen. Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichte er den Ausstieg aus dem Berg und die ebene Fläche des großen Plateaus.
Den ganzen Tag über hatte er auf seinem Abstieg einen treuen Begleiter gehabt.
Die große Katze, der mächtige sibirische Tiger hatte sich von seinem Beobachtungsposten erhoben und war voraus gegangen. Er hatte Shandra wiederum den Weg gewiesen. In seiner Spur war der Krieger ins Tal geklettert und wann immer er zurück blickte, erkannte er, dass die Katze ihm den leichtesten und sichersten Weg herunter gewiesen hatte.
Shandra fragte sich, welches Interesse die Hexe wohl haben mochte. Warum achtete sie so sorgsam darauf, dass Shandra so wohlbehalten und sicher als irgend möglich den Abstieg bewältigte? Ging es ihr einfach und allein darum, sich einem möglichst gleichwertigen Gegner zu stellen oder war da noch etwas anderes?
Shandra schob die Gedanken und Überlegungen zur Seite. Sie waren für den Augenblick bedeutungslos geworden. Er hatte das Plateau erreicht und da es bereits nahezu dunkel war, blieb ihm noch eine Nacht, um sich auf das vorzubereiten, was ihn erwartete.
Wie lange war es her, dass sich Shandra auf eine Schlacht hatte vorbereiten müssen?
Viele hundert Jahre lagen zwischen der letzten großen Schlacht im Kampf gegen das Imperium des unseligen Großkönigs von Anglialbion. Plötzlich waren die Erinnerungen an diese Schlacht ebenso wieder in ihm lebendig, wie die Kampfreflexe und die alte Geschmeidigkeit.
Shandras Geist und damit auch sein Körper begannen sich zu erinnern, wie es sich anfühlte zu kämpfen und zu töten. Er erinnerte sich an die Momente, da eine stählerne Klinge auf weiches Fleisch traf, dieses durchtrennte und sich dann in Knochen biss, sich durch diese hindurch fraß, wenn die Wucht des Hiebes stark genug war, um dann in den relativ weichen Brei der Innereien einzudringen, wo sie ihr tödliches Werk vollendete. Er erinnerte sich an die Erschütterungen, die sich durch die eigene Muskulatur in den eigenen Körper hinein ausbreitete, er erinnerte sich aber auch an den Ausdruck der tödlichen Angst in den Blicken der Getroffenen, die sich dann bis hin zu der entsetzlichen Leere der Erkenntnis des unmittelbar bevorstehenden Todes veränderte. Es war stets leichter gewesen, mit dem Bogen, den Shuriken oder den Wurfmessern zu töten, als im Nahkampf mit dem Schwert oder gar dem langen Jagdmesser. Der unmittelbare Kontakt zum Sterben und Tod eines Menschen, den der Schwertkampf verlangte, drang unvermeidlich auch tief in die Seele dessen ein, der sich als der stärkere Kämpfer, als der Sieger erwiesen hatte. Eindrücke, Shandra erinnerte sich nur zu gut an sie, die dafür sorgten, dass so mancher Krieger - nach dem Sieg in der Seele wund - schlaflose Nächte verbrachte. So wurde trotz allem auch aus dem Sieger letztendlich ein Verlierer. Es gab nur einen Ausweg aus diesem Dilemma. Ein Schwertkämpfer musste lernen, während des Kampfes all seine Gefühle und Empfindungen auszublenden. Nur dann war es möglich, sich mit dem Schock des Tötens abzufinden und als Kämpfer nicht an sich selbst zu verzweifeln.
Das ganze Wissen, die unsägliche Erfahrung mit dem Tod, all das erwachte nach vielen Jahrhunderten in dieser letzten Nacht in Shandra wieder zum Leben. Er erinnerte sich und er fand sich damit ab, den alten, verblassten Erinnerungen neue hinzu fügen zu müssen. Der Krieger war erwacht, er war zurück und Shandra war bereit zu töten, aber auch selbst zu sterben.
Er verbrachte die Nacht in tiefer Meditation. Er begab sich in einen Zustand der Versenkung, sein Geist war abgeschirmt von allen Einflüssen, die ihn aus dem Gleichgewicht hätten bringen können und als die Sonne am Horizont erschien und der Tag heraufzog, war er endgültig bereit.
Ein letztes Mal bewegte sich sein Körper in den langsamen Bewegungen des Thai Chi, so wie es ihn Minaro dereinst gelehrt hatte. Dann, als er den höchsten Grad der Einheit zwischen Geist und Körper erreicht hatte, nahm er die beiden Katanas auf, ließ sie in die Rückenscheiden gleiten und machte sich auf den Weg zum südlichen Rand des Plateaus. Dorthin, wo er das riesige rote Zelt der Hexe gesehen hatte.
Die Sungaiten gehörten nicht zu den Langschläfern unter den Menschen. Lange zu schlafen war ein Privileg der Reichen, so hieß es im Kodex der Sungaiten und deshalb nur den Lieblingen der Hexe vorbehalten. Er musste also zusehen, dass er mit seinen Kampfvorbereitungen fertig war, ehe der Erste seiner Gegner aus einem der Zelte trat. Wachen hatten die Sungaiten nicht aufgestellt. In einem menschenleeren Land, an einem derart exponiert liegenden Platz wie diesem, hatten sie Wachen für überflüssig erachtet.
Die Krieger der Sungaiten gehörten nicht zu den Reichen und Privilegierten. Doch sie gehörten zu den Starken unter den Völkern der Tundra und der Steppe. Unter der Führung der Mutterhexe musste niemand hungern oder frieren. Sie alle hatten stets genug zu essen und geeignete Kleidung sowohl für die kurzen, feuchtheißen Sommer als auch für die endlos langen und klirrend kalten Winter, die das Klima ihres angestammten Lebensraumes bestimmten. Wie alle Völker der Tundren und Steppen bildeten die Jagd und in einem geringen Maße der Handel mit benachbarten Völkern und Stämmen ihre Lebensgrundlage und daraus ergab sich fast zwangsläufig auch die Tatsache, dass sie ebenso gut Krieger waren, wie Jäger und Händler.
Sie waren gut genährt, gut gekleidet und im Kampf geschult, also ernst zu nehmende Gegner für jeden anderen Stamm. Insbesondere aber für einen einzelnen Krieger wie Shandra.
Shandra hatte den Punkt auf dem Plateau erreicht, da er sich genau auf der Höhe der beiden am weitesten vom Zentrum entfernten Zelte befand und ganz exakt östlich vom Eingang des roten Zeltes. Damit hielt er eine strategisch ungemein wichtige Position. Seine Gegner würden aus den Zelten kommend zunächst in das grelle Licht der aufgehenden Sonne schauen müssen, sie würden sich also schwer tun, von ihm mehr als einen schwarzen Schattenriss zu erkennen, während er seine Ziele bestens ausgeleuchtet vor sich hatte. Zu allem Überfluss fand er genau an diesem Platz eine leichte Erhöhung, hinter der er immer wieder verschwinden und so für ein paar Momente Schutz finden konnte. Die Hexe schien vergessen zu haben, welche Fähigkeiten Shandra besaß. Oder aber sie war von ihren eigenen Möglichkeiten so überzeugt, dass sie keine weiteren Gedanken an strategische Belange verschwendet hatte.
Shandra fragte sich auch, weshalb er nicht erwartet wurde.
Der Tiger hatte ihn genau beobachtet und seine Informationen mit Sicherheit an die Hexe weitergegeben. Warum also waren von den Sungaiten weder Wächter aufgestellt worden noch andere Sicherungsmaßnahmen vorbereitet?
Natürlich kannte er die Hexe und ihr Gefolge, doch als derart überheblich hatte er sie nicht in Erinnerung gehabt.
Wie auch immer, Shandra erkannte seine Chancen und sofort begann sich in seinem Kopf ein Plan zu entwickeln.
Sein Bogen war gepflegt wie eh und je und auch Rollos Bogen hatte er –aus welchem Grund war ihm nie bewusst gewesen – stets in einsatzbereitem Zustand erhalten. Er besaß weit über zweihundert Pfeile unterschiedlicher Befiederung, die er in fünf verschiedenen Köchern aufbewahrte. Damit war er in der Lage, den ersten Teil des bevorstehenden Kampfes auf eine Distanz hin auszutragen, über welche er seinen Gegnern haushoch überlegen war. Die Sungaiten besaßen keine Bogen von vergleichbarer Reichweite wie Shandras schwere Hornbogen, die vor mehr als neunhundert Jahren im Hochland der Grazalema gebaut worden waren.
Shandra öffnete die Köcher und begann in einem weiten Halbkreis Pfeile aufrechtstehend in den Boden zu stecken. Zuerst platzierte er die längsten seiner Pfeile, die unschwer an der schwarzen Befiederung zu erkennen waren. Mit diesen Pfeilen besaßen seine Bogen die größte Reichweite.
Der nächste Halbkreis befand sich zehn Schritte näher an den Zelten und bestand aus Pfeilen mit roter Befiederung und einen dritten Halbkreis mit weiß befiederten Geschossen bereitete er erneut zehn Schritte näher an den Zelten vor.
Den zweiten Teil des Kampfes würde er mit den Wurfmessern und Shuriken bestreiten und auch diesen Waffen hatten seine Gegner nichts außer ihrem Mut und dem Antrieb durch die Hexe entgegen zu setzen.
Erst wenn seine Feinde durch diese beiden Angriffsstrategien soweit dezimiert waren, dass sie ihm nicht mehr hundert zu eins, sondern vielleicht nur noch zwanzig oder dreißig zu eins gegenüberstanden, sollten sie erleben, wozu ein Schwertkämpfer in der Lage ist, der die Zweischwertertechnik beherrscht und von einem Schwertmeister aus Ama no Mori ausgebildet worden war.
Die Voraussetzungen für einen Erfolg seiner Strategien waren also gar nicht so schlecht. Allerdings sprachen ein paar Argumente deutlich gegen Shandra.
Zum einen war dies die drückende Überlegenheit seiner Gegner. Diese würde nur dann keine entscheidende Rolle spielen, wenn es ihm gelang, durch seine erste Attacke, durch den Fernkampf mit den Bogen so viel Angst und Schrecken unter den Sungaiten zu verbreiten, dass sie in ihren Gegenangriffen zögerten.
Darüber hinaus mochte der Hexe selbst eine gewichtige Rolle in der Schlacht zukommen, obwohl sie sich ganz gewiss nicht eigenhändig in den Kampf einmischen würde. Sungaeta würde sich darauf begrenzen, ihren Kindern mentale Unterstützung zukommen zu lassen und ihre mentalen Kräfte waren enorm. Shandra würde sich also sowohl mit realen Waffen als auch mit mentalen Kräften in die Auseinandersetzung begeben müssen.
Das größte Problem aber stellte der direkte mentale Angriff der Hexe auf Shandra dar. Gegen diesen Angriff galt es sich zu wappnen, viel mehr als gegen die Bedrohungen von allen anderen Waffen.
Erst ganz allmählich begann sich die Farbe des Himmels zu verändern. Aus dem tiefen Schwarz der Nacht wurde ganz langsam ein immer helleres Grau. Es waren dies die Stunden des Tages, an welchen Menschen immer einen besonders tiefen Schlaf haben. Shandra hatte seine Vorbereitungen abgeschlossen, der Kampf konnte beginnen. Er hatte diesen Gedanken noch kaum zu Ende gedacht, als sich am östlichen Horizont ein erster blass roter Schimmer zeigte und im selben Moment bewegte sich am ersten Zelt des linken, des südlichen Flügels die Klappe, wurde zur Seite geschoben und ein Mann trat langsam und mit noch verschlafenem Gesichtsausdruck ins Freie heraus.
Ein noch junger Mann, kaum zwanzig Sommer mochte er erlebt haben, also im Grunde noch viel zu jung um zu sterben. Doch wann ist man nicht mehr zu jung zum Sterben? Dieser Mann war es eindeutig, doch ebenso eindeutig war er auch schon ein Krieger und durchaus bereit, anderen Menschen den Tod zu bringen. Er sah sich ein paar Atemzüge lang auf dem Plateau um, dann aber entdeckte er die drei Halbkreise aus Pfeilen und sofort begannen seine Kriegerinstinkte zu arbeiten, er verstand was dort draußen vorbereitet war und er stieß einen gellenden Alarmschrei aus.
Shandra hingegen hatte bereits einen der schwarzen Pfeile auf der Sehne seines Bogens liegen und war bereit, diesen auf die Reise zu schicken und so den Alarm zu unterbinden. Dennoch wartete er ein paar Augenblicke ab und gab dem jungen Krieger so die Möglichkeit, seine Brüder und Freunde zu alarmieren, ehe er den Bogen spannte, kurz zielte und dann den ersten Pfeil hinaus schickte. Das Dröhnen des schweren Hornbogens und ein dumpfes, klatschendes Geräusch beendeten den Alarmschrei des Sungaiten abrupt. Der Pfeil drang in die ungeschützte Kehle des jungen Mannes ein, durchbohrte den Hals, durchtrennte die Wirbelsäule und trat am Nacken wieder aus. Der Mann war bereits tot, noch ehe sein Schrei in ein ekelhaft klingendes Gurgeln überging, lange ehe sein Körper die Kontrolle über die Muskeln verlor und er in sich zusammenbrach.
Die Schlacht war eröffnet und ab diesem Augenblick fand Shandra keine Zeit mehr, einzelne Eindrücke auf sich wirken zu lassen oder über Menschen nachzudenken, die vielleicht zu jung zum Sterben sein mochten. Er war allein und ihm gegenüber standen weit mehr als hundert Sungaiten. Zwar hatte er den ersten Zug getan, die Schlacht eröffnet und diesen ersten Zug ausgesprochen klug gesetzt, doch eine hundertfache Übermacht konnte – musste – ihn eigentlich schon aufgrund des Zahlenverhältnisses erdrücken und besiegen. Wer gegen eine solche Übermacht zu kämpfen hat, verfügt nur über ein einziges Mittel. Er muss schnell sein. Ungeheuer schnell und genau das war es, was Shandra auszeichnete. Er war schnell. Vielleicht schneller als jemals zuvor in seinem Leben.
Die Sungaiten kamen aus ihren Zelten gestürmt und rannten in ihr Verderben. Zumeist gar nicht oder wenn, dann nur mangelhaft bewaffnet, tauchten sie an den Eingängen ihrer Zelte auf und begegneten oft schon im selben Augenblick ihrem Tod.
Innerhalb kürzester Zeit wurde Shandra zu einem in rasender Geschwindigkeit hin und her huschenden Schatten, der immer nur wenige Augenblicke lang an einer Stelle verharrte. Gerade lange genug, um aus der momentanen Position heraus weitere todbringenden Pfeile zu versenden. Das dumpfe Dröhnen des schweren Bogens, das Zischen der Pfeile und das seltsame Klatschen, das jedes Mal zu hören war, wenn eine stählerne Pfeilspitze auf weiches, menschliches Fleisch traf, vermischte sich mit dem Stöhnen der Getroffenen, den Schreien der Sterbenden zu einer Kakophonie des Grauens. Shandras brutal geführter Angriff, die Geräusche und Bilder vermischten sich zu Bildern des Entsetzens. Bilder, die sich unauslöschlich in den Geist eines Menschen eingraben mochten, wenn er denn noch lange genug lebte, um solches zu ermöglichen.
Shandra hatte längst jedes Gefühl für Zeit und ihre Abläufe verloren. Er registrierte in etwa die Anzahl seiner tödlichen Treffer, doch er hatte nicht die leiseste Ahnung, welche Zeit zwischen zwei Todesschüssen verstrichen sein mochte. Aber er erkannte dennoch, dass er schnell und effizient tötete, denn vor jedem der vierzehn Zelte lagen schon mehrere Tote, ehe sich die Klappe des roten Zeltes zum ersten Mal öffnete und ein Mädchengesicht zwischen den Zeltbahnen auftauchte und heraus starrte, offenbar um festzustellen, was der Grund für das Geschrei und das allgegenwärtige Stöhnen sein mochte.
Es war das Gesicht eines noch sehr jungen Mädchens, dessen große Augen ein paar Atemzüge lang weit aufgerissen auf das Geschehen vor den Zelten starrten, ehe sie sich rasch wieder ins Zelt zurückzog. Wiederum nur kurze Zeit später wurden die Zeltbahnen am Eingang des roten Zeltes weit aufgerissen und nun erschien der Mensch unter dem Türbogen, den Shandra zugleich hasste und fürchtete wie nichts anderes auf dieser Welt.
Es waren unendlich lange Jahre vergangen, seit er Sungaeta zum letzten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hatte und selbst jetzt, da er jeden Nerv, jede Faser seines Seins brauchte um seine Feinde erfolgreich zu bekämpfen, zuckte er bei ihrem Anblick zusammen und wurde für einen winzigen Augenblick vom Kampf abgelenkt.
Sofort musste er dafür büßen, denn Sungaetas Krieger waren wirklich hervorragend geschult. Zwei junge Krieger hatten seine Unachtsamkeit bemerkt und sofort darauf reagiert. Sie bewegten sich mit der Geschmeidigkeit von blutrünstigen Wieseln. Plötzlich waren die beiden nahe genug heran, Shandra befand sich innerhalb der Reichweite ihrer Bogen und schon hatten zwei Pfeile ein Ziel gefunden. Der eine Pfeil traf Shandras linken Oberschenkel und drang ein paar Finger tief in die Muskulatur dort ein, die Spitze des anderen Pfeils zerfetzte Shandras ledernes Jagdhemd und zog eine tiefe Schramme über die Rippen seiner linken Seite.
Nie zuvor war Shandra in einem Kampf verwundet worden! Selbst Prellungen und Blutergüsse waren ihm auch in härtesten Schlachten auf Grund seiner überlegenen Kampfkunst und seiner enormen Schnelligkeit erspart geblieben. Shandra biss die Zähne zusammen, nachdem ihm noch rasch ein gemurmelter Fluch entschlüpft war. Er beantwortete die beiden Pfeilschüsse ohne das kleinste Zögern und seine Pfeile saßen weitaus besser im Ziel.
Doch er war durch die beiden Treffer in seiner Beweglichkeit mehr als nur ein wenig eingeschränkt und musste sich deshalb besonders in Acht nehmen, wollte er diese Schlacht überleben. Vor allem der Pfeil, der in seinem Bein steckte, behinderte ihn ziemlich. Zum Glück besaßen die Sungaiten keine Metallspitzen an ihren Pfeilen und die Beinspitzen, die sie verwendeten, waren einfach glatt geschnitzt und ohne Widerhaken. Shandra zog sich für ein paar Momente hinter die Erderhebung zurück, die ihn, als er sich nieder kauerte, vollständig den Blicken seiner Feinde entzog. Er hockte sich auf die rechte Ferse und streckte das linke Bein lang aus, entspannte seine Muskulatur, dann griff er zu und zog den Pfeil mit einem entschlossenen Ruck aus seinem Fleisch.
Zurück blieb ein Loch in seinen ledernen Leggins und im Oberschenkel eine runde Wunde, die nicht einmal übermäßig stark blutete. Ein paar tiefe Atemzüge sorgten dafür, dass Shandra sich auf das Bein konzentrieren konnte, dann war es, als schaltete sein Gehirn die Schmerzzentren für diesen Bereich des Körpers einfach aus. Wenig später tauchte Shandra wieder hinter der Erdfalte auf und sein Hinken war kaum zu sehen, so sehr kontrollierte der Geist des Kriegers seinen Körper. Der schwere Hornbogen begann erneut sein Werk der Vernichtung auszuüben.
Die Hexe stand vor ihrem Zelt und beobachtete den Krieger fasziniert.
Es war lange her, dass sie beide sich so nahe gewesen waren, wie an diesem Morgen und Sungaeta konnte nicht umhin, Bewunderung für den Mann zu empfinden, den sie im Begriff zu vernichten war. Trotz ihres hohen Alters und ungeachtet der Tatsache, dass sie seit mehr als einhundertfünfzig Jahren kein eigenes Kind mehr zur Welt gebracht hatte, verspürte sie das immer noch in ihrer Erinnerung schlummernde Ziehen zwischen ihren Schenkeln. Sungaeta wusste, sie wäre nach wie vor bereit, sich diesem Mann immer wieder zu unterwerfen und seine Kinder zu gebären, wenn er dies nur wollte.
Aber Shandra wollte sie nicht, er hatte sie nie gewollt.
Nicht damals, als sie sich zum ersten Mal in der Weite der Steppe vor Karakorum begegnet waren, auch später nicht, als er und sein Begleiter Rollo sich die Nachkommen der Hexe als Buhlinnen in ihr Zelt geholt hatten. Er würde sie auch jetzt nicht wollen, dabei wäre eine Verbindung zwischen ihnen mit einer geradezu unglaublichen Nachkommenschaft gesegnet gewesen. Dessen war sich die Hexe absolut sicher. Er und sie, niemals wäre die Weltherrschaft so sehr in greifbarer Nähe gelegen, als in ihrer Vereinigung.
Weshalb hatte er sie nie gewollt?
Sungaeta war nach wie vor das, was jedermann mit Fug und Recht als Schönheit bezeichnet hätte. Obwohl sie die Mutter aller Sungaiten war und unglaublich alt, konnte man dieses Alter nicht sehen. Sie war von mongolischem Blut und, wenn die Aufzeichnungen stimmten, eine der vielen Nachkommen der großen Chane, die diese Welt von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter ihrem Zepter vereinigt hatten. Temudschin und Börke, Kubilai und Usbek, das waren Namen, die in Karakorum auch jetzt noch wie Heiligtümer behandelt wurden, obwohl ihre ursprünglichen Träger schon seit vielen Jahrtausenden die Welt verlassen hatten.
Sungaeta war groß.
Groß für eine Frau und erst recht groß für eine Frau mit den schrägstehenden Katzenaugen, den langen, jettschwarzen Haaren und der feingliedrigen Statur ihres Volkes. Ihre Brüste waren immer groß und schwer und als Nahrungsquelle für die fast zwei Dutzend direkte Nachkommen unersetzlich gewesen. Ihre Hüften luden weit aus, in ihrem Schoss war stets genügend Platz für große, starke Kinder gewesen. All diese Attribute hatte sie behalten, obwohl sie nahezu genauso alt war wie Shandra. Achthundertvierundvierzig Jahre waren über die Hexe hinweg gegangen. Jahre, die ihr Wissen und ihre Macht innerhalb ihres Volkes einzigartig und unangreifbar hatten werden lassen. Sungaeta behauptete von sich, ein erfolgreiches Leben geführt zu haben. Erfolgreich bis auf einen Punkt. Ihr einziger Misserfolg stand ihr an diesem Morgen gegenüber.
Sie fragte sich einmal mehr, warum ausgerechnet dieser Mann sie nicht gewollt hatte und weshalb seine Ablehnung in ihr einen derart abgrundtiefen Hass auslösen musste. Es war dieser glühende, gleißende Hass gewesen, der sie zu Handlungen getrieben hatte, wie sie in ihrem früheren Leben undenkbar gewesen wären. Erst aus Shandras Ablehnung und aus dem Hass, der daraus entstanden war, hatte sich die Schamanin und Heilerin zur Hexe entwickelt. Shandra el Guerrero war der Katalysator gewesen, der in Sungaetas Wesen Schwarz und Weiß, Gut und Böse getrennt und polarisiert hatte. Erst durch Shandras Zurückweisung war – davon war Sungaeta überzeugt - aus einer helfenden Schamanin eine machthungrige, boshafte und durch und durch eiskalte Hexe geworden….
Mittlerweile war es beinahe taghell geworden und nur noch wenige Momente, dann musste die Sonne über dem östlichen Horizont aufgehen. Sungaeta war nicht in der Lage, ihre Blicke von dem Krieger zu nehmen, der solch tiefe Gefühle in ihr ausgelöst hatte. Sie beobachtete, in welch rasender Geschwindigkeit und mit welch unglaublicher Präzision er seinem Werk des Tötens nachging und es dauerte eine Weile, bis sich in ihrem Verstand die Erkenntnis ausbreiten konnte, dass dieser Satan, dieser von ihr zugleich so gehasste und geliebte Mann im Begriff war, alles zu vernichten, was die Hexe sich im Laufe ihres langen Lebens geschaffen hatte.
Mehr als die Hälfte ihrer Krieger – ihrer Kinder – lagen bereits tot oder sterbend auf dem Boden. Immer noch staken mehr als zwei Dutzend dieser teuflischen Pfeile mit ihren stählernen Spitzen vor Shandra im Boden. Immer noch huschte der Krieger gleich einem schwarzen Schemen von Pfeil zu Pfeil und immer noch sang der schwere Hornbogen mit dröhnender Stimme sein Lied vom Tod.
Die Hexe raffte sich auf, sie löste den Bann des Beobachtens auf und konzentrierte all ihre mentale Kraft auf den Geist des Kriegers. Sie griff Shandra mit allem an, was ihr bösartiger Geist an Kraft entbehren konnte und das war eine ganze Menge. Doch zu ihrem Erstaunen reichte ihre Kraft plötzlich nicht mehr aus. Ihre Angriffe krachten mit wütender Gewalt gegen eine eisblaue Wand aus härtestem Kristall, zerfaserten, zersplitterten, lösten sich in ein betäubendes Nichts auf. Shandras Geist war in einen unzerstörbaren Schutzkokon eingehüllt und wo immer die Hexe ansetzte, ihre Kräfte glitten wirkungslos ab.
Der Krieger aber tobte weiter und schlachtete die Kinder der Hexe ab.
Soeben hatte Shandra seinen letzten Pfeil, einen schweren, wuchtigen Bolzen mit weißer Fiederung hinaus gesandt und die massive Spitze hatte einem der älteren Männer unter seinen Feinden das Brustbein zerschmettert, war dort nach oben abgeglitten und dann tief in die Luftröhre des Mannes eingedrungen. Er war röchelnd in sich zusammen gefallen, rang nach Luft, die er nicht bekam und erstickte schon bald darauf an seinem eigenen Blut, welches ihm durch die Verletzung in die Lunge drang.
Shandra ließ seinen Bogen fallen.Er stand auf dem höchsten Punkt der Erdfalte, sah seinen Feinden höhnisch entgegen und rief ihnen zu:
„Nun werdet ihr Shandra el Guerrero aus nächster Nähe erleben! Seid ihr bereit, Kinder der Hexe, eure schwarzen Seelen aufs Spiel zu setzen und denen von euch zu folgen, die bereits von meinen Pfeilen auf die lange Reise geschickt wurden? Nun, dann passt auf, denn ich komme!“
Er kam. Und wie er kam! Ein tollwütiger Wolf, der in eine Lämmerherde einbricht, kann sich nicht schlimmer gebärden als Shandra dies nun unter den vielleicht noch siebzig überlebenden Sungaiten tat.
Sein Angriff glich einem akrobatischen Tanz, er schlug Räder und Salti, er sprang einen Flickflack am anderen und seine Bewegungen waren so schnell, dass es allenfalls einem unglücklichen Zufall gelingen mochte, ihn mit einem gezielten Pfeilschuss zu treffen. Shandra überbrückte auf diese Weise den Abstand zu den Sungaiten in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit und brachte sich in die Distanz, die am besten für den effektiven Einsatz seiner Wurfmesser und Shuriken geeignet war. Zehn bis fünfzehn Schritte vom jeweiligen Ziel entfernt war der richtige Abstand. Diesen hatte er erreicht und nun brach ein weiteres Debakel über die Sungaiten herein.
Gleich einem wahnsinnigen Dämon raste Shandra an der Reihe der Sungaiten entlang und schleuderte aus beiden Händen Tod und Verderben unter sie. Zuerst waren es die schweren Wurfmesser, die mit einem ekelerregend klingenden Klatschen auf Knochen und Weichteile trafen und zumeist tödliche Wunden schlugen. Dann ergoss sich die Flut der schwarzen Stahlsterne über Shandras Feinde und als auch dieser tödliche Strom bösartiger Geschosse zu Ende war, stand Shandra hoch aufgerichtet und stolz nur noch wenige Schritte von den überlebenden Sungaiten entfernt und die beiden grün schimmernden Klingen zischten wie boshafte Nattern, als er sie durch die Luft wirbelte.
Vier sungaitische Krieger sprangen zugleich vor und attackierten Shandra in aller Härte. Zwei von ihnen waren mit kurzen, breiten Schwertern bewaffnet, die beiden anderen mit massiven Streitäxten und sie wussten alle vier mit ihren Waffen umzugehen. Allerdings waren sie nie zuvor einem echten Schwertmeister gegenüber gestanden. Shandra machte sich nicht einmal die Mühe, auf die Attacken seiner Gegner durch Abwehr zu reagieren. Er ging mit einer eigenen Offensive vor. Mitten hinein in deren Angriffe und seine Möglichkeiten waren einfach ungleich größer als die der Sungaiten.
Der erste Axtträger verlor seinen Waffenarm durch einen blitzschnellen Aufwärtsschwung des langen Dai- Katana, dem im Abstand von einem Lidschlag das Katana mit einem waagrechten Hieb von links nach rechts folgte, was dem Mann den Kopf kostete.
Der erste und der zweite Schwertkämpfer starben im selben Augenblick. Ein Rückwärts geführter Stoß mit dem Langschwert drang von unten nach oben am Solarplexus in den Körper des Angreifers ein, der gleichzeitig geführte diagonale Streich mit dem Katana traf den Gegner an der Halsbeuge und die Samuraiklinge glitt durch Schulterknochen und Schlüsselbein und Rippen, als bestünden all diese Knochen aus dürrem Holz.
Kaum fünf Lidschläge waren vorüber, da lagen drei der vier Angreifer tot im Gras und von den mehr als hundert Sungaiten lebten insgesamt nur noch etwa dreißig.
Shandra ließ die Klingen sinken und sah sich im Halbkreis seiner Gegner um. Er erkannte mit wenigen Blicken, dass er gewonnen hatte. Die gnadenlose Art, mit der er den Tod über die Sungaiten ausgeschüttet hatte, war nicht ohne Wirkung geblieben und gegen diese Wirkung waren selbst die mentalen Anfeuerungen und Befehle der Hexe, die wie dicke graue Energiestränge durch die Sphäre und zu jedem einzelnen der Kämpfer führten machtlos.
Shandra konnte keinen Sungaiten mehr entdecken, der bereit gewesen wäre ihn - allein oder zusammen mit den Gefährten - zu attackieren.
„Ich sehe, ihr habt begriffen, dass ihr diesen Kampf nicht gewinnen könnt. Ich, Shandra el Guerrero, biete euch deshalb meinen Frieden. Nehmt ihn an und wisst, dass auch ich des Tötens müde bin. Nehmt meinen Frieden und verlasst diesen Ort. Kehrt zurück zu euren Müttern, euren Frauen und Kindern und vergesst, dass euer aller Urmutter euch in eine Schlacht gehetzt hat, die ihr niemals gewinnen konntet. Geht. Nehmt eure gefallen Freunde und Brüder mit, verbrennt sie, begrabt sie, tut das mit ihnen, was euch die Gesetze eures Stammes abverlangen. Geht oder muss ich euch auch noch töten?“
Derjenige unter den Sungaiten, der jetzt einen Schritt vortrat, war der Älteste unter den Überlebenden.
„Wir sehen ein, dass du uns besiegt hast, der du dich Shandra el Guerrero nennst. Wir erkennen unsere Niederlage an, doch natürlich müssen wir wissen, dass unser aller Mutter, dass Sungaeta unversehrt bleibt und mit uns kommt.“
„Es tut mir leid, aber gerade diesen Wunsch kann ich euch nicht erfüllen. Sungaetas Zeit ist abgelaufen, sie hat ihr Leben durch ihre Taten verwirkt. Nichts und niemand kann sie vor dem sicheren Tod retten. Ich werde sie töten, selbst wenn ich selbst daran sterben sollte. Ich werde versuchen, sie sauber mit dem Schwert töten, wenn ihr jetzt den Kampf beendet. Ich kann sie aber auch auf eine Art und Weise töten, die ich selbst einem Feind – Sungaeta ist mein bei weitem schlimmster Feind – nur ungern antun würde. Die Kraft meines Geistes genügt, ich kann ihr Hirn zum Glühen bringen und alles in ihr auslöschen, was jemals den Menschen Sungaeta ausgemacht hat. Ich lasse sie am Leben, doch ihr Leben wird am ehesten dem einer Blume am Rand eines Baches in der Tundra gleichen. Sie wird einige wache, klare Tage haben, doch die meiste Zeit wird sie unter einer dicken Schicht mentalen Eises begraben sein. Sie wird irgendwann an diesem Leben eingehen. Ja, so ist es. Sie wird nicht sterben. Sie wird jämmerlich verenden.
Wollt ihr das?
Einen anderen Weg gibt es nicht.“
„Du bringst unserer Mutter abgrundtiefen Hass entgegen. Warum? Was ist der Grund für diesen Hass?“
„Nichts, was du wissen müsstest und nichts, was du je verstehen würdest. Nur so viel. Kein Mensch auf dieser Welt hat mir mehr Leid zugefügt als Sungaeta. Aber nicht nur mir, auch anderen Menschen. Ihr Hunger nach Macht, ihre wahnsinnigen Eroberungspläne und ihre Gier nach ewigem Leben sind es, was sie zum Sterben verurteilt hat. Nur wenige Menschen haben den Segen erfahren, ein derart langes Leben zu leben, wie Sungaeta. Nur ich bin noch älter als eure Urmutter. Auch ich habe nicht nur Gutes auf der Welt getan, auch ich habe Fehler gemacht. Doch im Vergleich zu dem Leid, das eure Urmutter über die Menschen gebracht hat, bin ich vielleicht geradezu ein Wohltäter auf dieser Welt gewesen. Deshalb muss sie sterben.“
Die Sungaiten steckten die Köpfe zusammen und tuschelten lange miteinander. Sehr lange. Dann aber wandte sich der Älteste unter ihnen wieder an Shandra und erklärte mit einem düsteren Gesichtsausdruck:
„Wir haben uns besprochen und wir haben erkannt, dass du in manchen Dingen sogar Recht hast. Wir werden uns von Sungaeta trennen und versuchen ohne ihre Macht und Hilfe unseren Platz auf dieser Erde zu finden. Noch sind wir stark genug, um zu überleben. Wenn aber noch ein paar von uns im Kampf fallen, werden die anderen nicht mehr in der Lage sein, zu unseren Heimatweiden zurückzukehren und diese gegen den Ansturm der Nachbarn zu bewahren.
Der Stamm Sunga soll weiterleben.
Doch wir haben noch ein Problem. In Sungaetas Zelt wirst du auf einen weiteren Menschen stoßen. Ihr Name ist Moira na Perm, man nennt sie aber nur Moira. Sie ist fast noch ein Kind, doch sie ist von hohem Wert. Sungaeta hat sie bei einem unserer Überfälle auf den Ort Perm gefunden und irgendetwas in ihr erkannt. Da war etwas, das die Kleine besonders wichtig erscheinen ließ. Was geschieht mit ihr?“
„Sie wird bei mir bleiben. Ihre Zukunft ist noch nicht klar, denn wie alle Menschen hat sie eine Sonnen- und eine Nachtseite. Ein Orakel hat mir prophezeit, dass es wichtig ist, die Nachtseite ihres Charakters nicht zur Entfaltung kommen zu lassen. Gelingt dies nicht, wird sie eine schlimmere Gefahr für die Menschheit, als es Sungaeta jemals sein konnte.
Ihr könnt also unbelastet diesen Ort verlassen und eure Zukunft so gestalten, wie es Menschen geziemt. Packt zusammen. Nehmt mit, was ihr gebracht habt. Nur das rote Zelt und alles was dazu gehört, bleiben hier. Jetzt beginnt zu packen und dann geht.“
Shandra wandte sich betont langsam und aufreizend von den übrig gebliebenen Kriegern der Sungaiten ab und ging langsam auf die wie erstarrt vor dem Eingang ihres Zeltes stehende Sungaeta zu. Mit einem Schritt Abstand blieb er vor ihr stehen, streckte die rechte Hand aus und legte ihr die Fingerspitzen von Zeigefinger und Mittelfinger auf die linke Schulter.
„Nun Sungaeta, vielleicht glaubst du es jetzt. Wie oft habe ich dich gewarnt, mich nicht dauerhaft zu unterschätzen? Weshalb hast du nie auf mich gehört? Wieder und immer wieder hast du den Krieger herausgefordert und nun, zuletzt, wirst du unterliegen, obwohl du dich so oft als Siegerin wähntest. Nimmst du deine Niederlage an?“
Es war, als erwachte die Hexe aus einer tiefen Trance. In ihren zu Stein erstarrten Augen funkelte plötzlich wieder Leben und dieses Leben bezog seine Kraft aus Hass und Wut, aus bösartiger Leidenschaft, aus Niedertracht und eiskalter Grausamkeit. Ihr Gesicht verzog sich zu einer wüsten Fratze und zum ersten Mal konnte man das wahre Alter der Hexe auch dann erkennen, wenn man gänzlich ohne mentale Begabung war. Ihre Gefühle waren so gewaltig, dass Shandra einen kalten Schauer über seine Haut ziehen fühlte und die Macht, welche die Hexe aus ihren Gefühlen zog, so groß, dass die kristallene Membrane, der nahezu unzerstörbare Kokon, welchen Shandra zum Schutz seines Geistes errichtet hatte, in größter Gefahr war und einzubrechen drohte.
Plötzlich waren da die Schmerzen. Von der Wunde in seinem Bein krochen sie wie flüssiges Feuer nach oben, vereinten sich mit den Schmerzen der anderen Quelle, welche durch die tiefe Schnittwunde auf seinen Rippen gebildet wurde. Von dort aus wanderten die Schmerzen gemeinsam nach oben, strebten dem zentralen Punkt zu, welcher den Schutzkokon sicherte und zugleich wucherten aus dem Schädel der Hexe kommend dicke, schmutzig braune Tentakel auf ihn zu. Er wurde von allen Seiten umhüllt und spürte, wie die Wände des Kokons nachzugeben begannen, sich nach innen wölbten, ihn einschlossen und ihn langsam zu erdrücken begannen.
Shandra kämpfte und auch er setzte alles an Kraft und Gefühlen ein, was er zu bieten hatte. Er versuchte den Schmerzen zu widerstehen, indem er die Schmerzzentren seines Gehirns in einen weiteren, dicken Schutzmantel hüllte und dann, als das aufsteigende Feuer ein wenig in seiner Wirkung eingedämmt war, begann er mit ganzer Kraft gegen die Tentakel der Hexe anzukämpfen. Allerdings musste er schon bald feststellen, dass die Stärke der Gefühle dafür sorgte, dass ihm die Hexe an schierer mentaler Kraft überlegen war. Er musste einen anderen Weg finden, um auch diesen mörderischen Kampf zu gewinnen. Plötzlich war da eine weitere Kraft, eine Quelle, die ihm fremd war, die er aber dennoch gerne annahm und zugleich erwachte noch etwas in ihm. Ganz tief aus seiner Seele heraus tauchte eine Erinnerung auf und aus dieser Erinnerung schöpfte er die zusätzliche Kraft, die er benötigte.
„Du kannst manchen Feind nur dadurch besiegen, dass du nachgibst. Wenn die Überlegenheit deines Gegners so groß ist, dass deine eigenen Kräfte, deine Schnelligkeit und dein Verstand nicht mehr ausreichen, um einen Sieg zu erlangen, dann musst du die Kräfte deines Gegners für dich nutzbar machen. Schau dir die Bäume im Sturm an und du wirst sehen, dass die mächtige Eiche bricht, während die schlanke und geschmeidige Weide den Sturm schadlos übersteht. Dieses Prinzip wende für dich an, dann wirst auch du jeden Sturm überstehen können.“
Minaros Worte kamen aus den Tiefen der Vergangenheit und mit den Worten kehrte die Erinnerung an die unzähligen Übungsstunden zurück, die der alte Samurai aus Ama no Mori damit verbracht hatte, seinen Schülern das Weidenprinzip nahe zu bringen. Shandra war sein Musterschüler gewesen.
Langsam, ganz allmählich begann er seinen Widerstand gegen den Angriff der Tentakel erlahmen zu lassen. Auch den Schmerzen gab er sich hin, hieß sie willkommen, umarmte sie und wurde auf diese Weise besser mit ihnen fertig, als wenn er weiter gegen sie gekämpft hätte. Er gab auch alle Schutzwälle auf, die seine peripheren Systeme schützten, nur um den allerinnersten Kern seines Egos legte er einen Kokon von diamantener Härte. Diesen Schutz würde die Hexe niemals durchbrechen können, dessen war er sich absolut sicher. Nun aber hatte er Kräfte frei und er nutzte sie für einen Gegenangriff von ausgeklügelter Hinterhältigkeit. Er begann feinste Fäden zu spinnen, die sich entlang der massigen Tentakel auf den Geist der Hexe zu hangelten. Fäden, die so fein waren, dass sie der Aufmerksamkeit der Hexe vielleicht auch dann entgangen wären, wenn sie sich nicht in einen derart hasserfüllten Angriff auf Shandra verwickelt hätte. Die Fäden erreichten den Ursprung der Tentakel und es war, wie Shandra vermutet hatte. Der Vernichtungswille stellte das alles andere überlagernde Bedürfnis in Sungaetas Geist dar und er war so ausgeprägt, dass die Gegnerin auf jeden eigenen Schutzschirm verzichtet hatte. Die feinen Fäden drangen in ein ungeschütztes Gehirn ein, suchten und fanden die Zentren der verschiedenen Gedanken und Gefühle, des Verstandes, der logischen Verknüpfungen und nun war es nur eine Sache von der Dauer eines Lidschlages.
Ein grellweißer Blitz schoss durch das Gehirn der Hexe und löschte in einem winzigen Augenblick alles, was aus einem reinen Organismus letztendlich einen Menschen machte.
Die Tentakel brachen zusammen und verschwanden. Die flüssige Flut der Schmerzen verschwand aus Shandras Geist. Die im einen Moment noch bösartig funkelnden Augen der Hexe, ihr zu einer boshaften Maske verzerrtes Gesicht, all das brach zusammen und erlosch und zurück blieb ein Lebewesen, das sich auf dem emotionalen Niveau einer Wiesenpflanze befand. Aus einem von starken Gefühlen und einem wachen Verstand angetriebenen Lebewesen wurde in einem winzigen Augenblick ein stumpfes, vor sich hin sabberndes Etwas, das nicht mehr das Geringste mit dem Menschen gemein hatte, der es vor weniger als einem Atemzug noch gewesen war.
Shandras Gegenangriff war sowohl in seiner Stärke als auch im zeitlichen Ablauf perfekt geplant und ausgeführt worden. Die Manipulationen in Sungaetas Gehirn waren meisterlich gelungen und nicht mehr reversibel. Sungaeta war tot. Zurück blieb ein Wesen, das man wohl eher mit einer Pflanze als einem Menschen vergleichen mochte.
Sungaeta wandte sich von Shandra ab.
Mit stumpfem Gesichtsausdruck und wie abgehackt wirkenden Bewegungen ging sie um das rote Zelt herum und erreichte mit wenigen Schritten den Rand des Plateaus. Dort stürzte der Fels viele hundert Schritte tief ab. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern tat Sungaeta den entscheidenden Schritt und verschwand in der Tiefe des Abgrunds.
Shandra betrat das rote Zelt nur zögerlich.
Doch er musste hinein, denn er war verwundet worden und seine Wunden bedurften der Pflege. Einer Pflege, die ihm leichtfallen würde, das begriff er, als er den links des Hexenthrons stehenden Tragepfosten näher betrachtete. Dort hingen fein säuberlich an goldenen Haken befestigt, die beiden Artefakte, die Sungaeta ihm gestohlen hatte. Die Haut und das Horn Olifant befanden sich wieder in seinem Besitz.
Aber nicht nur die Artefakte erwarteten ihn.
Im Zelt war auch das Wesen, das ihm der Bär zwar angekündigt aber nur vage beschrieben hatte. Moira na Perm kauerte auf einem Stapel wundervoll gegerbter Pelze und starrte dem blutenden Krieger mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Sie erwartete offenbar ihren eigenen Tod. Zum ersten Mal blickte Shandra in die Augen des Menschen, der die Inkarnation seines letzten Lebensabschnittes bildete. Er sah Augen, wie er sie nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Doch Shandra sah mehr als nur diese Augen. Er suchte und fand die Aspekte im Wesen eines Mädchens, fast noch eines Kindes und was er fand, ließ ihn erschauern und rief ein eigenartiges Gefühl der Schwäche in ihm hervor.
Das Mädchen entstammte ganz sicher mehr als einer Welt und nie zuvor war ihm ein Mensch begegnet, in dessen innerstem Ich sich Gut und Böse, schwarz und weiß so sehr die Waage hielten. Mehr noch, im Wesen dieses Mädchens gab es keine Grauzonen zwischen schwarz und weiß. Alles war absolut. Der Grat zwischen den Aspekten war nicht breiter als die Schneide an einem seiner Schwerter. Die Entscheidung, in welche Richtung sich das Kind entwickeln wollte, war allerdings noch nicht gefallen, doch egal wie diese Entscheidung ausfallen würde, ihre Auswirkungen mussten enorm sein, denn das Potential des Mädchens war unvergleichlich.
Zum ersten Mal begriff Shandra die Tragweite seiner Aufgabe und die Knie wollten ihm weich werden.
Er brauchte mehrere Tage, um seiner körperlichen Wunden Herr zu werden. Die Pfeilwunden hätten ohne die Haut sicherlich zu eitern begonnen, denn die Knochenspitzen waren voll giftigem Dreck gewesen. Noch schlimmer aber waren die Wunden, die er sich im Kampf mit der Hexe eingehandelt hatte. Für deren Behandlungen benötigte er mehrere Monde. Die Wunden der Erinnerung heilen nun mal sehr viel langsamer als Fleisch, Haut und Bindegewebe. Er nutzte die Zeit, um sich mit Moira na Perm zu unterhalten und ihre Geschichte kennenzulernen.
Das Mädchen wusste erstaunlich viel über ihre Heimat und ihre Abstammung.
„Perm, so erzählte man sich in meinem Stamm, war viele Jahrhunderte lang ein Zentrum des Wissens und der Macht. Seine Bewohner, so sagte man, stammten von einer wilden Amazonenreiterin ab, die Perm zusammen mit einem Steppenkrieger gegründet hatte, um ihrem Sohn eine seiner eigenen Abkunft entsprechende Heimstatt bieten zu können. Als der Steppenkrieger in einem Kampf gegen einen Bergstamm ums Leben kam, tat sich die Amazone mit einem Emigranten der fliegenden Stadt Ninive zusammen und gebar ihm noch mehrere Kinder. Vom ersten Sohn der Amazone stammen bis heute alle Herren Perms ab, doch die späteren Kinder zeugten die vielen hochrangigen Techniker, welche die Stadt Perm nach Idealen formten, die ihnen von der fliegenden Stadt her geläufig waren. Doch leider ging das Wissen in der Umgebung der Wildnis viel rascher verloren, als es die Gründerin erwartet und befürchtet hatte.
Schon die vierte Generation der in Perm lebenden Menschen hatte jegliches Interesse an Wissenschaft und Technik verloren. Die jungen Männer trieben sich viel lieber auf den Steppen und in den Wäldern herum, die Perm umgaben, als dass sie sich mit den theoretischen Kenntnissen der Mechanik und anderer wichtiger Bestandteile der Natur auseinander setzten.
Perm verlor an Macht und Einfluss in seiner Region und schon bald war es von der Heimat technisch gebildeter und versierter Menschen zu einem Platz geworden, an dem sich Jäger und Trapper, Bauern und Viehzüchter niedergelassen hatten. Aus den einstmaligen feinsinnigen und gefühlvollen Nachkommen Ninives waren innerhalb weniger Generationen im ganzen Umland gefürchtete Rabauken, Schläger, ja sogar Banditen geworden.
Nur einer widersetzte sich diesem Verfall der Sitten und Gebräuche, dem Versanden des Wissens immer noch. Der Koloman von Perm, der Anführer der Stadtwache war ein glühender Anhänger des beinahe schon vergessenen Ninives und seiner technischen Errungenschaften. Doch was kann ein Mann allein in einer Ansiedlung ausrichten? In seiner Eigenschaft als Anführer der Stadtwache war der Koloman – sein Name war Rushan – zugleich auch der Erste unter den Bürgern Perms und dennoch schaffte er es nicht, die Werte und Errungenschaften Ninives zu bewahren.
Rushan war mein Vater.
Mein Vater war ein Kämpfer und seine Fähigkeiten, Dingen des täglichen Lebens und Vorgängen in der Natur bis in die tiefsten Abgründe ihrer Lebensessenz zu schauen ergänzten sich mit seinem Kampfgeist. Nie wurde er es müde, immer neue Geräte und Hilfsmittel zu ersinnen, diese selbst herzustellen oder von geeigneten Handwerkern bauen zu lassen. Obwohl sehr häufig sehr gut brauchbare und oftmals auch sehr hilfreiche Gerätschaften entstanden, erntete er bei seinen Mitmenschen zumeist nur Hohn und Spott. Die Menschen von Perm waren an seinen Erfindungen nicht interessiert. Sie erwarteten ganz andere Leistungen von ihm.
Jemand anders aber zeigte schon Interesse an seinen Fähigkeiten.
Niemand hat jemals erfahren, wie die Nachricht von den Gaben Rushans in die Weite der Steppe bei Karakorum gedrungen ist. Eines Tages tauchte jedenfalls eine Horde Wilder vor den Häusern von Perm auf und verlangten von meinem Vater, dass er und seine Familie mit ihnen nach Nordosten zog. Ihre Schamanin Sungaeta wollte mit ihm reden und ihm unter Umständen eine neue, glänzende Zukunft bieten. Rushan lehnte das Ansinnen der fremden Horde ab und das war ein Fehler. In der darauf folgenden Nacht drangen die Wilden – Sungaiten, Kinder der Sungaeta – in die Häuser von Perm ein und veranstalteten ein grauenhaftes Blutbad. Sie brachten die gesamte Bevölkerung von Perm einfach um. Nur Rushan und seine einzige Tochter – also ich – blieben am Leben und wurden von den Sungaiten in die Steppen von Karakorum verschleppt. Ich war damals noch nicht ganz zehn Sommer alt.
Rushan überlebte die Reise nicht.
Der Tod seiner Stadt hatte seinen Lebensnerv an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Obwohl er unverletzt gefangen genommen worden war, wurde er während der Reise krank und siechte immer mehr dahin und als wir nur noch eine Tagesreise von unserem Ziel entfernt waren, starb er. Nur ich blieb am Leben. Die letzte Überlebende der Stadt Perm.
Ich verbrachte die letzten gut drei Jahre bei den Sungaiten. Sungaeta hatte zunächst in der Hoffnung gelebt, die Talente meines Vaters könnten auch in mir schlummern. Als sich aber herausstellte, dass ich nicht die kleinste Fähigkeit meines Vaters geerbt hatte, wurde ich zum ganz persönlichen Spielzeug der Hexe degradiert. Ich schlief Nacht für Nacht in ihrem Bett und ihre Gedanken, Hoffnungen und Wünsche lebten so sehr in meinem Geist, dass ich manchmal Mühe hatte, ich selbst zu bleiben, meine eigene Identität zu bewahren.
Nun kennst du meine Geschichte. Was hast du vor? Was willst du mit mir anstellen?“
Shandra hatte dem Mädchen während ihrer ganzen Geschichte aufmerksam gelauscht und sie auch nicht einmal unterbrochen. Er hatte sie unter den gesenkten Augenlidern hervor beobachtet, sie studiert und zugleich war sein Geist aktiv gewesen. Mit behutsamen Sondierungen hatte er den Wahrheitsgehalt ihrer Worte geprüft und war an keiner Stelle auf Zweifelhaftes gestoßen. Er saß auf einer Art Diwan im Inneren des roten Zeltes, der aus mehreren Dutzend lose über einander gestapelter Teppiche bestand und Moira hatte sich nur einen Schritt entfernt auf die Kante des Teppichstapels gesetzt. Schon bei seinem Eintreten in das rote Zelt hatte er sowohl die kleine Rolle mit der Haut als auch das Horn Olifant gefunden. Jetzt hatte er die Haut sowohl um sein verletztes Bein als auch weiter oben um seine Rippen geschlungen. Er gab sich der sofort einsetzenden Heilwirkung dieses wundersamen Teils hin und befasste sich mit dem freien Teil seiner Gedanken mit Moira.
Seine Sondierung hatte ihm gezeigt, dass Moira ein beachtliches telepathisches Potential besaß, dessen sie sich allerdings kaum bewusst war.
Shandra hatte auch die körperlichen Eigenschaften des Mädchens erfasst und erkannt, dass in ihrem schlanken Körper lange Muskeln und starke Knochen zu stecken schienen. Diese Beurteilung war ihm nicht besonders schwer gefallen, denn Moira trug lediglich einen hauchdünnen weißen Schleier als Gewand. Ein Nichts von einem Gespinst, dessen Dichte allenfalls einem Spinnennetz zu Ehre gereicht hätte. Ganz so eben, wie es sich für die Gespielin der Hexe geziemte. Unter dem Schleier war sie nackt und deshalb war auch nicht zu übersehen, dass ihr gesamter Körper sorgfältig enthaart worden war. Sie trug keinerlei Schmuck, nicht das kleinste Stück Metall war an ihr zu entdecken.
Sie war überdurchschnittlich groß gewachsen für eine Frau. Selbst in ihrem noch jungen Alter von noch nicht einmal vierzehn Jahren hätte sie die meisten anderen Frauen um einen halben Kopf oder mehr überragt. Zudem verfügte sie über Attribute, die er seit unglaublich langen Jahren bei keiner Frau mehr gesehen hatte. Plötzlich fühlte Shandra ein schmerzliches Ziehen in seiner Brust, denn die junge Moira erinnerte ihn an die Kriegerfrauen und Amazonen, die ihn durch einen überaus wichtigen Teil seines Lebens begleitet hatten. Vor allem aber erinnerte sie ihn an die Frau, die er über alles geliebt hatte.
Moira wirkte auf Shandra fast wie die Wiedergeburt Shakiras, obwohl die Äußerlichkeiten in vielen Bereichen nicht identisch waren.
Moiras langes Haar war nur leicht gelockt und besaß die Farbe reifer Kastanien. Der rötliche Schimmer kam in der Sonne besonders gut zur Geltung. Sie trug ihr Haar offen, so konnte man den Eindruck gewinnen, als trüge Moira ein Tuch oder eine Stola aus schwerer, rotbrauner Seide über ihrem Kopf, dessen Enden bis über ihre Hüften herunter reichten.
Ihre Augen waren groß und ausdrucksvoll und ihre Pupillen besaßen die Farbe von Bernstein. Ein satt leuchtendes, goldenes Gelb und in diesem Grundton waren grüne Sprenkel wie winzige Smaragdsplitter eingestreut. Das intensive grüne Leuchten des Zentrums dieser Augen verlieh den Blicken des Mädchens etwas Katzenhaftes, etwas geheimnisvoll Mystisches.
Ihre Gliedmaßen waren lang und gerade gewachsen. Allerdings fehlte es ihr rundum an Muskulatur, was bei ihrer Größe besonders auffiel. Die schmale Taille, die runden Hüften und die bereits sehr gut entwickelten Brüste erinnerten Shandra an längst vergangene Zeiten, in denen er auf den Anblick eines solchen Mädchens auf die einzig vernünftige Art, nämlich die eines gesunden und kräftigen Mannes, reagiert hätte. Diese Zeit war vorbei. Lange vorbei und der letzte Kontakt zwischen Shandra und einer reizvollen Frau lag mehrere hundert Jahre zurück. Dennoch erkannte und registrierte er, dass Moira eine überaus attraktive Erscheinung abgab.
„Du bist mir als ein Wesen in meinen Träumen geschildert worden, welches dringend meiner Hilfe bedarf. Nein, mehr als meiner Hilfe, meiner Leitung und Lenkung, meines Rates und meiner Eingebungen.
Ich, Shandra el Guerrero bin der letzte Zeuge einer Zeit, die so lang vor deiner Geburt begann, dass sich selbst deine entferntesten Ahnen nicht mehr an sie erinnern können. Ich habe geträumt, dass du in dieser Welt eine wichtige Rolle spielen solltest, aber ich habe auch geträumt, dass aus dir ohne meine Hilfe ein Wesen werden könnte, welches die gesamte Existenz unserer Welt zu bedrohen in der Lage wäre. Meine letzte Aufgabe ist es, so habe ich in meinen Träumen erfahren, dir alles beizubringen, was dazu dient, damit du deinen eigenen Weg finden und gehen kannst. Ich soll dich lehren und dir helfen, denn du bist die letzte Aufgabe, die ich auf dieser Welt auszuführen habe.
Danach hat sich mein Leben erfüllt.“
Moira war überrascht aber sie war auch skeptisch, das war nicht zu übersehen. Sie mochte nicht so recht glauben, was Shandra sie soeben hatte wissen lassen.
„Du willst mein Lehrer werden? Nicht mein neuer Herr? Nicht nur eine andere Form dessen, was Sungaeta in meinem Leben verkörperte?“
„So ist es. Nichts von dem was geschehen soll, wird unter Zwang geschehen. Nichts davon kann unter Zwang geschehen. Dein freier Wille ist von allergrößter Bedeutung zur Erreichung des Ziels, das mir meine Träume gezeigt haben. Ich stelle dir mein Wissen und Können zur Verfügung und du entscheidest, was und wie viel du davon für dich haben willst. Ich rate dir allerdings, so viel als möglich mitzunehmen, denn was immer das Leben für dich noch vorgesehen hat, Menschen mit deinen angeborenen Talenten haben es nie leicht.“
„Talente? Ich habe keine Talente. Wie kommst du darauf dennoch welche bei mir zu vermuten?“
„Weil ich zu deinem Lehrer bestimmt wurde? Weil ich selbst ein mehr als ungewöhnliches Leben führen musste? Weil es in unser beider Schicksale so vorgesehen ist? Ein wenig aus all diesen Gründen nehme ich an.
Willst du also mit mir zusammen arbeiten und lernen?“
Moira überlegte kaum ein paar Augenblicke, ehe sie antwortete.
„Was habe ich zu verlieren?“
„Nichts.“
Auf Moiras Gesicht erschien ein kleines Lächeln, als sie die lapidare Antwort des Kriegers hörte. Sie antwortete:
„Ich habe weder eine Familie noch einen Stamm.
Ich gehöre keinem Stamm mehr an und ich bin in den letzten Jahren nichts anderes gewesen, als das lebende Spielzeug einer verrückten Hexe. Was gäbe es da für mich zu überlegen? Was immer du mit mir tun wirst, es kann nicht schlimmer sein, als irgendeine andere Alternative, die mir vielleicht bliebe. Ja, ich werde mit dir zusammen arbeiten und mir alles anschauen, was du mich lehren kannst. Danach sehen wir weiter.
Wo soll dein Unterricht stattfinden?“
„Ich wüsste keinen besseren Platz zu finden, als genau hier, auf diesem Plateau. Wir werden hier bleiben. Das rote Zelt der Hexe wird so lange unsere Heimat bleiben, bis deine Lehre beendet ist. Du hast es richtig erkannt. Danach werden wir weiter sehen.“
Die Entscheidungen waren getroffen. Moiras Ausbildung konnte beginnen.