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Zweite Seminarbesprechung 22. AUGUST 1919, STUTTGART

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L. berichtet über die Fragen: Erstens, wie äußert sich das sanguinische Temperament im Kinde, und zweitens, wie hat man es zu behandeln?

Rudolf Steiner: Hier beginnen ja die Individualisierungen. Wir haben gesagt, dass wir nach den Temperamenten einteilen können. Man muss ja das Kind im Massenunterricht mit an dem allgemeinen Zeichenunterricht beschäftigen, und nun können wir bei den einzelnen Gruppen etwas individualisieren. Dann würde es sich darum handeln, in welcher Hinsicht Sie den Zeichenunterricht individualisieren wollten. Nachahmung wird man überhaupt weniger pflegen. Man wird im Zeichnen versuchen, das innere Formgefühl zu erwecken. Man wird nur darin individualisieren können. Man wird einen Unterschied machen können, ob man mehr geradlinige Formen oder mehr bewegte, ob man mehr einfache, übersichtliche Formen nimmt oder solche mit mehr Details. Kompliziertere, mehr Detailformen, würden für das Kind mit sanguinischem Temperament zu verwenden sein. Man wird nach dem Temperament mehr die Art bestimmen, wie man den einen oder den anderen unterrichtet.

E. berichtet über dasselbe Thema.

Rudolf Steiner: Nicht wahr, bei solchen Dingen muss man sich immer ganz klar sein, dass namentlich die Behandlung doch nicht eindeutig sein muss. Es kann natürlich von dem einen etwas gemacht werden, was ganz gut ist in einem solchen Fall, und von dem anderen etwas anderes, was auch gut ist. Also die pedantische Eindeutigkeit braucht nicht angestrebt zu werden, doch gewisse große Richtlinien muss man schon einhalten, die müssen durchdrungen werden. Die Frage, ob ein sanguinisches Kind schwer oder leicht zu behandeln ist, ist schon sehr bedeutsam. Darüber müsste man sich schon eine Ansicht verschaffen und sich zum Beispiel folgendes klarmachen: Es kann passieren bei einem sanguinischen Kinde, dass man irgend etwas vorzubringen, zu erklären hat. Das Kind hat wohl die Sache aufgenommen, aber nach einiger Zeit merkt man, es ist gar nicht mehr dabei, sondern hat sich einer anderen Sache zugewendet. Dadurch wird der Fortschritt des Kindes beeinträchtigt. Was würden Sie tun, wenn Sie bemerken würden, Sie reden in der Schule vom Pferde, und nach einiger Zeit hat sich das sanguinische Kind sehr weit entfernt vom Gegenstande und hat seine Aufmerksamkeit einem ganz anderen Gegenstande zugewendet, so dass alles, was Sie besprechen, an seinen Ohren vorbeigehen könnte? Was würden Sie mit einem solchen Kinde tun? Viel wird ja davon abhängen, wie weit man in solchem Falle individualisieren kann oder nicht. Hat man viele Kinder, so werden viele Maßregeln nicht leicht durchzuführen sein. Man hat ja, wenn man viele Kinder hat, die sanguinischen Kinder in einer Gruppe beisammen. Dann muss man vorbildlich wirken auf die sanguinischen durch die melancholischen Kinder. Wenn in der sanguinischen Gruppe irgend etwas nicht stimmt, sich zur melancholischen Gruppe wenden und dieses Temperament dann spielen lassen, um ausgleichend zu wirken! Gerade beim Massenunterricht ist das sehr ins Auge zu fassen. Da ist es wichtig, dass man nicht bloß selber den Ernst und die Ruhe bewahrt, sondern dass man den Ernst und die Ruhe der melancholischen Kinder in Wechselwirkung treten lässt mit der sanguinischen Gruppe. Nehmen wir an, Sie sprechen über das Pferd. Sie sehen, ein sanguinisches Kind aus der Gruppe, das ist längst nicht mehr dabei. Jetzt versuchen Sie das zu konstatieren. Indem Sie das Kind etwas fragen, machen Sie, dass es wirklich hervortritt, dass das Kind nicht mehr dabei ist. Dann versuchen Sie, in der melancholischen Gruppe die Tatsache zu konstatieren, dass ein Kind, während Sie früher vom Kleiderschrank gesprochen haben und jetzt schon lange vom Pferd sprechen, noch immer an den Kleiderschrank denkt. Konstatieren Sie das: »Sieh, du hast schon längst das Pferd vergessen, dein Freund ist noch nicht vom Kleiderschrank weggekommen!« Solche Tatsachen wirken stark. Auf diese Weise schleifen sich die Kinder aneinander ab. Dieses Selbstsehen der Kinder hat eine starke Wirkung. Die unterbewusste Seele hat ein starkes Gefühl davon, dass bei solchem Nicht-miteinander-Mitkommen das soziale Leben nicht weitergeht. Dieses Unbewusste in der Seele muss man stark benützen, dann kann sogar der Massenunterricht ein außerordentlich gutes Mittel sein, um vorwärtszukommen, wenn man die Eigenschaften der Kinder aneinander abschleift. Um den Kontrast zu zeigen, muss man eine wirklich leichte Hand haben und den Humor, so dass die Kinder sehen: man ärgert sich nie, man hat auch keinen Groll, sondern man behandelt die Dinge so, dass sie sich selber zeigen.

T. spricht über das phlegmatische Kind.

Rudolf Steiner: Was würden Sie tun, wenn ein phlegmatisches Kind nun gar nicht herauskommt und Sie zur Verzweiflung bringt?

U. berichtet über die Behandlung der Temperamente vom musikalischen Standpunkt aus und in Bezug auf die biblische Geschichte.

Phlegmatiker – Harmonium und Klavier – Harmonie – Chorgesang

Sanguiniker – Blasinstrumente – Melodie – ganzes Orchester

Choleriker – Schlagzeuge und Trommel – Rhythmus – Soloinstrumente

Melancholiker – Streichinstrumente – Kontrapunkt – Sologesang

in Bezug auf die biblische Geschichte: Matthäusevangelium Lukasevangelium Markusevangelium Johannes evangelium (Mannigfaltigkeit) (Innigkeit) (Kraft) (Geistige Vertiefung)

Rudolf Steiner: Es ist vieles sehr richtig, namentlich auch in Bezug auf die Instrumente und die Wahl des musikalischen Unterrichts. Ebenso gut ist der Gegensatz von Sologesang beim Melancholiker, dem ganzen Orchester beim Sanguiniker, und Chorgesang beim Phlegmatiker. Die Dinge sind sehr gut, und auch die Evangelisten sind sehr gut. Aber die vier Künste sind deshalb weniger den Temperamenten zuzuteilen, weil es möglich ist, gerade durch die Vielheit des Künstlerischen auf jedes Temperament ausgleichend zu wirken. Innerhalb der einzelnen Kunst ist das Prinzip sehr richtig, aber ich würde nicht die Künste selbst verteilen. In Bezug auf die Musik ist das richtig. Wenn Sie zum Beispiel den Phlegmatiker haben, können Sie unter Umständen sehr gut durch etwas, was ihn im Tanz ergreift oder in der Malerei ergreift, auf ihn wirken. Da mochte ich nicht verzichten auf das, was in den verschiedenen Künsten auf ihn wirken kann. In der einzelnen Kunst wird es wieder möglich sein, die Richtungen und Betätigungsgebiete der Kunst auf die Temperamente zu verteilen. Es würde nicht gut sein, wenn man da den Temperamenten zu viel nachgibt, während es doch notwendig ist, alles so zuzubereiten, wie es für die einzelnen richtig ist.

O. berichtet über das phlegmatische Temperament und sagt, dass das Kind mit offenem Munde dasitzt.

Rudolf Steiner: Sie sind im Irrtum; das phlegmatische Kind wird nicht mit offenem Munde dasitzen, sondern mit zugemachtem Munde, aber mit hängenden Lippen. Man kann schon manchmal durch einen solchen Hinweis den Nagel auf den Kopf treffen. Dies zu berühren war sehr gut. Es wird in der Regel aber nicht der Fall sein; das phlegmatische Kind wird nicht mit offenem Munde dasitzen, sondern im Gegenteil. Das führt zurück auf die Frage: Wie kann man sich dem phlegmatischen Kinde gegenüber verhalten, wenn es uns zur Verzweiflung bringt? Das Idealste, das man tun könnte, das wäre, die Mutter des Kindes zu bitten, es immer wenigstens eine Stunde früher aufzuwecken, als es gewohnt ist zu erwachen, und in dieser Zeit, die man ihm eigentlich wegnimmt – man wird es nicht beeinträchtigen, weil es in der Regel immer viel länger schläft als nötig –, es mit allem möglichen zu beschäftigen. Von der Zeit an, wo man es aufgeweckt hat, bis zu der Zeit, wo es sonst aufzuwachen gewohnt war, wird man es beschäftigen; das würde ein ideales Kurieren sein. Auf diese Weise würde man viel von seinem Phlegma wegnehmen. Das wird man in der Regel nicht können, weil die Eltern sich nicht darauf einlassen werden, aber man würde sehr viel damit tun können. Man wird folgendes tun können, was ein Surrogat ist, was aber viel helfen kann: Wenn die Gruppe so dasitzt – mit offenem Munde wird sie nicht dasitzen – und Sie vorbeigehen, und Sie gehen öfter vorbei, könnten Sie so etwas machen (Dr. Steiner schlägt mit einem Schlüsselbund auf den Tisch), wodurch Sie einen Schock hervorrufen, um die Kinder aufzuwecken, wodurch die Kinder dann übergehen von dem zugemachten zu dem offenen Mund. In diesem Moment, wo Sie sie schockiert haben, versuchen Sie, sie während fünf Minuten zu beschäftigen. Man muss sie durch eine äußere Veranlassung aus ihrer Lethargie herausbringen, aufstampern. Man muss dadurch, dass man auf das Unbewusste wirkt, dieses unregelmäßige Verbundensein des Ätherleibes mit dem physischen Körper bekämpfen. Man wird immer wieder ein anderes Mittel finden müssen, das sie schockiert und sie dadurch von ihren hängenden Lippen zum offenen Munde bringt; das also gerade das hervorruft, was sie nicht gerne tun. So wäre diese Frage zu behandeln, wenn diese Kinder einen zur Verzweiflung bringen. Wenn man das mit Geduld fortsetzt und wirklich die phlegmatische Gruppe immerzu in dieser Weise aufrüttelt, dann wird man gerade da viel erreichen.

T.: Wäre es nicht möglich, die phlegmatischen Kinder eine Stunde früher zur Schule kommen zu lassen?

Rudolf Steiner: Ja, wenn man das machen würde und es dazu bringen könnte, dass die Kinder mit einem gewissen Geräusch aufgeweckt werden, das wäre natürlich sehr gut. Da wäre es auch gut, die phlegmatische Gruppe zu den am frühesten in die Schule Kommenden einzureihen. Wichtig ist beim Phlegmatiker, dass man aus einem veränderten Seelenzustand heraus seine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Es wird die Frage der Ernährung für Kinder der verschiedenen Temperamente angeschnitten.

Rudolf Steiner: Man wird überhaupt darauf zu sehen haben, dass nicht gerade die Hauptverdauungszeit zugleich die Schulzeit ist, aber kleinere Mahlzeiten werden keine zu große Bedeutung haben. Im Gegenteil, wenn die Kinder gefrühstückt haben, werden sie besser aufpassen können, als wenn sie mit hungrigem Magen kommen. Wenn man sie natürlich überfüttert, was bei den phlegmatischen Kindern sehr in Betracht kommen wird, dann wird man ihnen gar nichts beibringen können. Den sanguinischen Kindern wäre nicht allzu viel Fleisch, den phlegmatischen nicht zu viel Eier zu geben. Dagegen können die melancholischen Kinder immerhin eine gut gemischte Nahrung bekommen, aber nicht allzu viel Wurzelzeug und Kohl. Bei melancholischen Kindern ist die Nahrung sehr individuell, da muss man beobachten. Bei sanguinischen und phlegmatischen Kindern kann man schon generalisieren.

Es folgen Ausführungen von D. über das melancholische Temperament der Kinder.

Rudolf Steiner: Ja, das war sehr schön. Für den Unterricht wird aber noch das in Betracht kommen, dass melancholische Kinder leicht zurückbleiben, dass sie nicht leicht mitkommen. Das bitte ich noch zu berücksichtigen.

A. spricht über dasselbe Thema.

Rudolf Steiner: Da ist die Bemerkung sehr gut, dass es sich bei melancholischen Kindern sehr darum handelt, wie man sich selbst zu ihnen stellt. Sie bleiben zurück auch mit dem Geborenwerden des Ätherleibes, der sonst mit dem Zahnwechsel frei wird. Daher sind diese Kinder viel zugänglicher für die Nachahmung. Was man ihnen vormacht, daran halten sie fest, wenn sie einen liebgewonnen haben. Das muss man bei ihnen benützen, dass sie das Imitationsprinzip länger haben.

N. berichtet ebenfalls über das melancholische Temperament.

Rudolf Steiner: Besonders bitte ich zu berücksichtigen, dass man das melancholische Temperament sehr schwer wird behandeln können, wenn man nicht eins betrachtet, was fast immer da ist: der Melancholiker ist in einer merkwürdigen Selbsttäuschung; er ist der Meinung, dass die Erlebnisse, die er hat, nur ihn selbst betreffen. In dem Augenblick, wo man ihm beibringt, dass andere Leute diese und ähnliche Erlebnisse auch haben, ist das immer eine Art Kur für ihn, weil er bemerkt, dass er nicht allein so eine interessante Individualität ist, wie er glaubt. In dieser Illusion ist er befangen, dass er ganz auserlesen ist, so wie er gerade ist. Lässt man ihn das stark merken: »Du bist kein solch außerordentlicher Kerl, solche Exemplare gibt es viele, die das oder jenes erleben«, dann ist das eine sehr starke Beeinträchtigung der Impulse, die gerade zur Melancholie führen. Deshalb ist es gut, ihn besonders mit Biographien großer Persönlichkeiten zu behandeln. Er wird sich weniger interessieren für die äußere Natur, aber mehr für die einzelnen Persönlichkeiten. Diese Biographien sollte man besonders gebrauchen, um ihn über seine Melancholie hinwegzubringen.

Zwei Lehrer berichten über das cholerische Temperament.

Rudolf Steiner zeichnet folgende Figuren an die Tafel:


Was ist das? Das ist auch eine Charakterisierung der vier Temperamente. Die melancholischen Kinder sind in der Regel schlank und dünn; die sanguinischen sind die normalsten; die, welche die Schultern mehr heraus haben, sind die phlegmatischen Kinder; die den untersetzten Bau haben, so dass der Kopf beinah untersinkt im Körper, sind die cholerischen Kinder.

Bei Michelangelo und Beethoven haben Sie eine Mischung von melancholischem und cholerischem Temperament.

Nun bitte ich, durchaus zu berücksichtigen, dass wir, wenn es sich um das Temperament beim Kinde handelt, als Lehrer durchaus nicht berufen sind, die betreffenden Temperamente von vornherein als »Fehler« anzusehen und bekämpfen zu wollen. Wir müssen das Temperament erkennen und uns die Frage stellen: Wie haben wir es zu behandeln, um ein wünschbares Lebensziel mit ihm zu erreichen, so dass aus dem Temperament das Allerbeste wird und die Kinder mit Hilfe des Temperaments das Lebensziel erreichen? Gerade beim cholerischen Temperament würde es ja sehr wenig helfen, wenn wir es austreiben wollten und etwas anderes an seine Stelle setzten. In der Tat geht aus dem Leben und der Leidenschaft des Cholerikers sehr viel hervor, und insbesondere in der Weltgeschichte wäre vieles anders geworden, wenn es nicht die Choleriker gegeben hätte. Aber gerade beim Kind muss man sehen, dass man es trotz seines Temperaments zu entsprechenden Lebenszielen bringt. Beim Choleriker sind möglichst zu berücksichtigen erdichtete Situationen, künstlich gebildete Situationen, die man in die Aufmerksamkeitssphäre des Kindes bringt. Man sollte zum Beispiel bei einem tobenden Kind die Aufmerksamkeit auf erdichtete Situationen lenken und diese erdichteten Situationen selbst cholerisch behandeln, so dass ich dem jungen Choleriker zum Beispiel erzähle von einem wilden Kerl, dem ich begegnet bin, den ich ihm vormale wie eine Wirklichkeit. Dann würde ich in Ekstase kommen, würde schildern, wie ich ihn behandle, wie ich ihn beurteile, so dass er die Cholerik an anderem sieht, an Ausgeklügeltem, so dass er die Tat sieht. Dadurch wird man in ihm die Kraft sammeln, dass er auch anderes gut begreifen kann.

Rudolf Steiner wird gebeten, die Szene zwischen Napoleon und seinem Sekretär zu erzählen.

Rudolf Steiner: Da müsste man erst die Baukommission um Erlaubnis fragen! – Diese in der Rede vorgemalte Szene müsste die redende Person so behandeln, dass Cholerisches dabei herauskommt. Das wird immer Kraft sammeln beim cholerischen Kinde, so dass man es dann weiter behandeln kann. Ein Ideal wäre: der cholerischen Gruppe eine Situation vormalen, um auf diese Weise wiederum Kraft gesammelt zu haben. Dann hält es immer ein paar Tage an. Die Kinder werden dann ein paar Tage hindurch gar nicht gehindert sein, die Dinge aufzunehmen. Sonst toben sie innerlich an gegen Dinge, die sie begreifen sollten. Nun möchte ich, dass Sie folgendes versuchen: Von diesem Behandeln der Temperamente sollte etwas bleiben, und da würde ich Fräulein B. bitten, auf höchstens sechs Seiten eine zusammenfassende Darstellung zu geben von der Eigentümlichkeit der Temperamente und ihrer Behandlung, auf Grund alles dessen, was ich hier besprochen habe. Es braucht nicht schon morgen zu sein. Dagegen möchte ich Frau E. bitten, sich vorzustellen, sie hätte zwei Gruppen vor sich: sanguinische Kinder und melancholische Kinder, und sie sollte so abwechseln mit einer Art Zeichenunterricht, mit einfachen Zeichenmotiven, dass das eine Mal gedient wäre den sanguinischen, das andere Mal den melancholischen Kindern. Jetzt möchte ich außerdem noch bitten: Herr T. kann dieselbe Sache machen mit dem Zeichnen für phlegmatische und cholerische Kinder, so dass Sie uns dann dies morgen vorführen können, so wie Sie es sich zurechtgelegt haben. Dann würde ich vielleicht Fräulein A., Fräulein D. und Herrn R. bitten, folgende Aufgaben zu behandeln: Sie denken sich, Sie sollen ein und dasselbe Märchen erzählen, zweimal hintereinander, so, dass Sie es nicht ganz gleich erzählen, sondern in verschiedene Sätze einkleiden und so weiter. Das erste Mal nehmen Sie mehr Rücksicht auf sanguinische, das zweite Mal auf melancholische Kinder, so dass beide etwas davon haben. Dann würde ich bitten, dass Herr M. und Herr L. sich mit der schwierigen Aufgabe befassen, die individuelle Beschreibung eines Tieres oder einer Tiergattung zu geben und sie das eine Mal für cholerische, das andere Mal für phlegmatische Kinder zuzurichten. Herr O., Herr N., und vielleicht hilft auch Herr U. mit, die würde ich bitten, einmal die Aufgabe zu lösen, wie man im Rechnen Rücksicht nehmen konnte auf die vier Temperamente, gerade nur im Rechnen. Nicht wahr, wenn Sie nun auf solche Dinge wie auf die Temperamente so Ihre Aufmerksamkeit lenken, um danach die Klasse für den Unterricht einzuteilen, müssen Sie vor allen Dingen darauf Rücksicht nehmen, dass der Mensch als solcher ein fortwährend Werdender ist. Und das ist etwas, was wir uns in unserem Erzieherbewusstsein immer-während aneignen müssen, dass der Mensch ein fortwährend Werdender ist, dass er Metamorphosen unterliegt im Verlaufe seines Lebens. Und ebenso gut wie wir stark reflektieren auf die einzelnen Temperamentsanlagen der einzelnen Kinder, können wir reflektieren auf das Werdende, und können sagen: In der Hauptsache sind alle Kinder Sanguiniker, ob sie auch im einzelnen phlegmatisch oder cholerisch sind. Alle Jünglinge und Jungfrauen sind eigentlich Choleriker, und wenn es nicht so ist, wenn es in dieser Zeit nicht da ist, ist es eine ungesunde Entwicklung. Im Mannes- und Frauenalter ist der Mensch Melancholiker. Und im Greisenalter ist er phlegmatisch. Das beleuchtet wiederum doch ein wenig die Situation in Bezug auf die Temperamente, denn Sie sehen da etwas, was ganz besonders notwendig ist, in unserer jetzigen Zeit zu berücksichtigen. Wir lieben in unserer jetzigen Zeit, uns starre, fest definierte Begriffe zu machen. In Wirklichkeit geht alles ineinander, so dass man in dem Augenblick, wo man gesagt hat, der Mensch bestehe aus Kopf-, Brust- und Gliedmaßenmensch, sich auch klarmachen muss, dass eben alles ineinandergeht. So ist ein cholerisches Kind nur der Hauptsache nach cholerisch, ein sanguinisches nur der Hauptsache nach sanguinisch und so weiter. Gelegenheit, vollcholerisch zu sein, hat man eigentlich erst im Jünglings- und Jungfrauenalter. Manche bleiben ihr ganzes Leben hindurch Jünglinge, weil sie sich das Jünglingsalter ihr ganzes Leben hindurch bewahren. Nero und Napoleon kamen überhaupt nicht über das Jünglingsalter hinaus. Wir ersehen daraus, wie sich Dinge, die eigentlich im Werden miteinander wechseln, doch wieder im Wechsel ineinanderschieben. Worauf beruht des Dichters, wie überhaupt geistige Produktivität? Worauf beruht es, dass man Dichter werden kann? Darauf, dass man gewisse Eigenschaften des Jünglings- und Kindesalters das ganze Leben hindurch bewahrt. Man hat um so mehr Anlage zur Dichtkunst, je mehr man jung geblieben ist. Es ist in gewissem Sinne ein Unglück für den Menschen, wenn man sich nicht die Möglichkeit bewahrt, gewisse Jugendeigenschaften, ein gewisses Sanguinisches, so für das ganze Leben zu bewahren. Es ist sehr wichtig für den Erzieher, sanguinisch durch Entschluss werden zu können. Das ist außerordentlich wichtig, dass man das als Erzieher berücksichtigt, so dass man diese glückliche Veranlagung des Kindes als etwas ganz Besonderes pflegt. Alle produktiven Eigenschaften, alles, worauf das Gedeihen des geistig-kulturellen Gliedes des sozialen Organismus beruhen wird, das werden die jugendlichen Eigenschaften des Menschen sein, das wird gemacht werden von Menschen, die Jugendtemperament bewahrt haben. Schäften hereinragen, auch wenn wir jung sind. Denn alles wirtschaftliche Urteil beruht auf der Erfahrung. Erfahrung wird nicht besser bewirkt als dadurch, dass in den Menschen gewisse Alterseigenschaften hereinragen, und der Greis ist ja Phlegmatiker. Der Geschäftsmann gedeiht am besten, wenn er in die übrigen Merkmale und Eigenschaften des Menschen ein gewisses Phlegma beigemischt hat, das eigentlich schon ein Greisenhaftes ist. Das ist das Geheimnis sehr vieler Geschäftsleute, dass sie sonst sehr gute Geschäftsleute sind, aber etwas Greisenhaftes beigemischt haben, namentlich in Dispositionen und so weiter. Derjenige, der in der Wirtschaft nur das sanguinische Temperament entwickeln würde, der würde nur zu Jugendprojekten kommen, die nie fertig werden. Der Choleriker, der jünglinghaft geblieben ist, würde sich durch gewisse spätere Maßregeln frühere verderben. Der Melancholiker kann ja sowieso nicht Geschäftsmann werden. Dagegen ist eine harmonische Geschäftsentwicklung mit einer greisenhaften Fähigkeit verbunden, die einen in die Lage versetzt, Erfahrungen aus dem Wirtschaftsleben zu sammeln. Wer Neigung zur Erfahrung hat, der ist stets ein phlegmatischer Greis. Harmonische Temperamente mit Phlegma, das gibt die beste Wirtschaftskonstellation. Sie sehen, dass man, wenn man die Zukunft der Menschheit bedenkt, solche Dinge beachten, Rücksicht darauf nehmen muss. Man ist als dreißigjähriger Dichter oder Maler nicht nur dreißigjähriger Mensch, sondern es haben sich zugleich kindliche, jugendliche Eigenschaften in den Menschen hereingeschoben. Wenn einer produktiv ist, kann man sehen, wie ein Zweiter in ihm lebt, in dem er mehr oder weniger kindlich geblieben ist, in dem das Kindliche in ihn hereingeschoben ist. Alle diese angeführten Dinge müssen Gegenstand einer neuartigen Psychologie werden.

Erziehungskunst III

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